So sieht die Welt ohne Will aus

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Wenn die Leute und die Talkshows im Urlaub sind, entspannt sich das Fernsehen. Dann schaffen es auch mal schwerere Stoffe ins Programm. Ein Lob der Sommerpause.

Es sind dann, trotz des Dramas in Norwegen, keine Forderungen laut geworden, dass Frank Plasberg oder Maybrit Illner ihre Sommerpausen unterbrechen und Sonderausgaben ihrer Talkshows einberufen. Dabei ist gerade so eine Rückrufaktion — jedenfalls in der Politik — ein sehr starkes Symbol, das gleichzeitig den Ernst der Lage und die Bereitschaft zum Handeln suggeriert. Aber ganz so groß scheint das Bedürfnis der deutschen Gesellschaft nicht gewesen zu sein, sich das Grauen in einer gemeinsamen Talkrunde von Arnulf Baring, Hajo Schumacher oder Wencke Myhre erklären zu lassen.

Und, offen gestanden, haben ja die anderen Medien eine mögliche Unterversorgung mit reflexartigen Thesen und vorhersagbaren Grabenkämpfen ganz gut ausgeglichen. Aber ist es nicht erstaunlich, wie wenig diese Möbelstücke des deutschen Fernsehens fehlen, wenn sie nicht da sind?

Es ist Sommerpause, und selten war der Begriff irreführender als heute. Womöglich wird die „Bild“- Zeitung sogar die diesjährige Wiederholung ihres Evergreens „Im Fernsehen laufen nur noch Wiederholungen“ ausfallen lassen. Denn in Wahrheit ist der Sommer, wenn all die Talkshows pausieren, eine Zeit geworden, die eine Ahnung davon gibt, wie aufregend und relevant öffentlich-rechtliches Fernsehen sein könnte. Zu keiner anderen Jahreszeit kann es einem so leicht passieren, noch vor Mitternacht auf eine aktuelle, sehenswerte Dokumentation oder einen besonderen Film zu stoßen.

Am vergangenen Mittwoch zum Beispiel gaben Jo Goll und Matthias Deiß den Zuschauern einen Einblick in die Gedankenwelt, die den Berliner Kurden Ayhan Sürücü dazu brachte, seine Schwester Hatun umzubringen, weil sie durch ihren Lebenswandel die „Ehre“ seiner Familie verletzt habe.

Die Dokumentarfilmer von „Verlorene Ehre“ haben den Täter im Gefängnis getroffen, und es war schockierend, wie normal dieser junge Mann wirkte, wie wenig er von einer Bestie hatte, wie plausibel seine Beteuerung war, dass er ja niemanden außerhalb des Weltbildes seiner Familie hatte, an den er sich hätte wenden können, und wie tief trotzdem der Glaube in ihm verwurzelt scheint, dass es nicht ganz ungerecht war, was er da getan hat. Es ist ein Film, der viel erklärt, aber noch mehr ratlos macht, und es ist natürlich banal, hinzuzufügen, dass keine Talkshow zum Thema „Ehrenmord“ diese Nähe und Tiefe, Anschaulichkeit und Intensität erreichen könnte.

Außerhalb des Sommers sind solche Schätze in die Spartenprogramme oder in die Nacht verbannt. Dabei macht gerade am späteren Abend die Anfangszeit viel aus. Niemand weiß das besser als die ARD, die ihre „Tagesthemen“ vor einigen Jahren auch deshalb in einem eigentlich übertrieben wirkenden Kraftakt um eine Viertelstunde auf 22.15 Uhr vorgezogen hat. Die Fernsehnutzung steigt im Verlauf des Abends allmählich an, bis sie um kurz nach neun ihren Höhepunkt erreicht: Knapp 45 Prozent der Menschen schauen jetzt fern. Nach 22 Uhr fällt die Kurve steil ab: innerhalb einer Stunde von 40 Prozent auf 25; um Mitternacht sind es nur noch rund 15 Prozent.

Wer weiß, wie viel Zuschauer mehr man für die leise, unspektakuläre und dadurch sehr bewegende Reportage „Die letzte Loveparade“ vor zwei Wochen hätte gewinnen können, wenn sie nicht erst weit nach Mitternacht geendet hätte. So waren es nur 600 000. „Die verlorene Ehre der Hatun Sürücü“ begann immerhin um 23 Uhr und fand ein Publikum von 1,6 Millionen Zuschauern. Auch Filme, die sperriger sind, haben um diese Zeit die Chance, dass die Menschen vor den Fernsehern noch nicht ganz weggedöst sind. Lutz Hachmeisters anderthalbstündige Collage mit Einblicken in die SPD am Tag zuvor sahen 880 000 Menschen.

Im ZDF blockiert sonst „Markus Lanz“ regelmäßig die Sendeplätze, zu denen man Stoffe senden könnte, die sich vielleicht um 20.15 Uhr schwer täten, aber mehr Zuschauer verdient haben, als es in den Nischen und nachts gibt. Leider wiederholt der Sender stattdessen „Lanz kocht“, zeigt aber auch eine zweiteilige Dokumentation von Sandra Maischberger über den Nato-Doppelbeschluss vor dreißig Jahren: „Pershing statt Petting“.

Jetzt schafft es sogar die Reportagereihe „ARD-exklusiv“, die früher einen festen Platz am Hauptabend hatte, bis sie der Wiederholung des „Tatorts“ weichen musste, wieder ins Bewusstsein der Zuschauer. Sie ist der Lückenfüller, wenn „Hart aber fair“ pausiert, und beginnt am Mittwoch um 21.45 Uh r ihre „Sommerstaffel“ mit einem Bericht über „das Hermes-Prinzip“. Während Michael Otto, der Hauptbesitzer des Paketdienstes, sich öffentlich für sein soziales Engagement feiern lässt, bekommen die Fahrer am unteren Ende einer ausgeklügelten Unternehmenspyramide nur beschämende Cent-Beträge pro Paket, das sie ausliefern. In den Wochen daraufgeht es um alte Arbeitslose, um das lukrative Geflecht von Politik und Wirtschaft von Gerhard Schröder und Joschka Fischer und um die industrielle Hähnchenproduktion des „Systems Wiesenhof“, und vermutlich wird nicht jeder dieser Filme gleich gelungen sein. Aber ihre Relevanz und Brisanz ist offenkundig, und sie machen schmerzhaft deutlich, wie selten es die Lebenswirklichkeit sonst jenseits der Magazin-Häppchen ins Fernsehen schafft.

„Das ist bester Journalismus im Ersten“, sagt ARD-Chefredakteur Thomas Baumann. Nur warum kommt der sonst so selten so prominent ins Programm? Die vielen Shows, die sonst die Sendeplätze blockieren, pausieren nicht nur deshalb im Sommer, damit die Mitarbeiter schön mit ihren schulpflichtigen Kindern wegfahren können, sondern vor allem, weil dann am wenigsten Menschen fernsehen. Im Januar 2010 hatten die Deutschen im Schnitt 256 Minuten täglich den Fernseher eingeschaltet; im August war es fast eine Stunde weniger.

Das Programm als Wundertüte mit Relevanz, das wenigstens ansatzweise aus der berechenbaren vollständigen Formatierung ausbricht, leistet sich die ARD nur, wenn eh nicht so viel auf dem Spiel steht. Wenn die Menschen aus dem Alltag ausbrechen, macht sich auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen ein bisschen locker, was paradoxerweise bedeutet, dass auch schwerere Stoffe ins Programm kommen können. Das beschränkt sich nicht auf Dokumentationen. Am Montagabend, wo sonst Reinhold Beckmann am Küchentisch in Gästeseelen bohrt, gibt es im Sommer plötzlich einen Sendeplatz für junge Spielfilme. Morgen läuft dort Junge Parasiten“ von Christian Becker und Oliver Schwabe. Und auch für ein cooles, cleveres, schnelles Fernsehkrimiformat wie die bisher dreiteilige BBC-Reihe „Sherlock“, die sehr gegenwärtige Versionen der Klassiker Holmes und Watson zeigt, hätte die ARD außerhalb der Urlaubszeit gar keinen Sendeplatz, ebenso wenig wie für moderne internationale Serien und Filme. Es ist halt alles vollgestellt.

Dabei können die Zuschauer anscheinend sogar mit dem Schock umgehen, dass sonntags nach dem „Tatort“ etwas anderes kommt als ein Stuhlkreis zum Thema „Ist Deutschland / Europa / die Regierung / der Sommer am Ende“. Viereinhalb Millionen Menschen sahen vergangenen Sonntag um 21.45 Uh r die erste Folge von „Sherlock“ – eineinhalb mal so viel, wie die letzte Folge von „Anne Will“ hatte. Die Sommerpause ist auch nicht mehr, was sie mal war.