Nackt-Selfie-Affäre in der Schweiz: „Jetzt muss er auf die Knie“

Es ist eine pikante Geschichte, mit der gerade in der Schweiz der Boulevard gepflastert wird und die gestern Abend groß im Fernsehen, bei SRF1, diskutiert wurde. In Kurzform geht sie so: Ein Politiker, Nationalrat und Stadtammann, fotografiert sich (halb-)nackt, angeblich auch tagsüber in Diensträumen, und verschickt die Fotos nebst passender Kurznachrichten an eine Frau. Die Bilder und Texte liegen inzwischen, wie angeblich auch Ton-Mitschnitte von Gesprächen des Politikers, in etlichen Schweizer Redaktionsstuben, wo man sich fröhlich über sie hermacht. Allen voran: die Wochenzeitung „Schweiz am Sonntag“.

SRF1_still

Deren Chefredakteur, Patrick Müller, ließ es sich voriges Wochenende nicht nehmen, sein Blatt höchstselbst mit der Story vollzutropfen und ausführlich zu zitieren, was auf den Bildern des Nationalrats Geri Müller zu sehen und in den Nachrichten Schlüpfriges zu lesen ist. Privat waren die Dokumente für die „Schweiz am Sonntag“ nicht mehr, da die Aufnahmen ja im Stadthaus gemacht worden sein sollen, teilweise zur Dienstzeit, weshalb das von öffentlichem Interesse sei.

Zumal dem Nationalrat im Text auch unterstellt wird, er habe, durch sein Amt bevorteilt, die Polizei auf die Frau gehetzt, um an ihr Handy und damit an die Bilder und Nachrichten zu kommen. Klingt wie eine Tatsache, geschrieben aus Sicht des vermeintlichen Opfers, gedruckt in der „Schweiz am Sonntag“:

„Im Polizeiauto ist für sie klar: Der Stadtammann hat die Stadtpolizei losgeschickt, um ihr das Handy wegzunehmen.“

Das ist schon interessant. Hier wird suggeriert, der Politiker habe die Polizei quasi für private Zwecke instrumentalisiert, was tatsächlich von öffentlichem Interesse wäre. Aber die Frage ist: Stimmt es überhaupt? Nationalrat Müller stellte es gestern auf seiner Pressekonferenz anders dar. Die Frau sei in Not gewesen, sagte er, deshalb habe er die Polizei alarmiert. Also, um sie zu schützen. Oder eine andere Frage: Was war das für eine Beziehung? Wie eng war sie? Geht eigentlich niemanden was an, aber auch dazu kursieren verschiedene Versionen. Wie auch dazu, wer auf wen Druck ausgeübt hat. Der Nationalrat auf die Frau? Oder sie (auch) auf den Nationalrat? Es ließe die Sache in jeweils ganz anderem Licht erscheinen.

Aber die Gerüchte sind draußen und all die schmutzigen und erfundenen Details. Die heißeste Erfindung: das Alter der Bekannten. In der „Schweiz am Sonntag“ ist lediglich die Rede von einer „jungen Frau“, doch so wummst das natürlich noch nicht. Plötzlich wird kolportiert, der 53-jährige Politiker habe da was mit einer 21-Jährigen gehabt, worauf man sich natürlich prima einen runterschreiben kann, was auch etliche gemacht haben. Der alte Sack, das junge Ding – das läuft ganz gut, auch wenn es nicht stimmt. Nationalrat Müller hat dazu gestern erklärt, die Frau sei nicht 21, sondern 33 Jahre alt. Naja, und wer hat’s erfunden? Die Gratiszeitung „20 Minuten“. Online schrieb sie, noch bevor „Schweiz am Sonntag“ ihre Print-Geschichte mittags selbst ins Netz stellte:

„Die Geschichte, die die Zeitung ‚Schweiz am Sonntag‘ heute über den Grünen Badener Stadtrat und Nationalrat Geri Müller und dessen angebliche 21-jährige Handy-Sex-Chat-Partnerin schreibt, ist hochbrisant.“

Dass das Alter offenbar nicht stimmt, hat „20 Minuten“ inzwischen begriffen und sich entschuldigt. Chefredakteur Marco Boselli schreibt auf meine Nachfrage: „Der Fehler geschah auf Grund einer – im Nachhinein kaum mehr rekonstruierbaren – Fehlinterpretation des Original-Textes.“ Was wohl darauf hinaus läuft, dass der Autor des Artikels die Altersangabe irgendwo am Wegesrand gefunden hat. Man müsste viel „interpretieren“, um aus der Wendung „junge Frau“ abzuleiten, dass die so etwa genau 21 ist. In ihrer Korrektur schreibt „20 Minuten“, man habe die Altersangabe in allen Artikeln „entfernt“ und weise mittels einer Box darauf hin.

Stimmt.

So eine unscheinbare Box steht auch im Interview mit der „Sexologin Esther Schütz“, das mit der Frage beginnt: „Warum lässt sich eine 21-Jährige mit einem über 50-jährigen Politiker wie Geri Müller ein?“ Und in der zweiten Frage ist von der „21-Jährigen Geliebten“ die Rede. Davor und danach spekuliert die Sex-Tante, wieso irgendwer irgendwas macht, um einen „Kick“ zu bekommen, während „20 Minuten“ dafür Klicks bekommt. In der nun eingefügten Box heißt es, man habe das Interview in der Annahme geführt, die Frau sei 21, das stimme aber nicht. Worin bei „20 Minuten“ allerdings niemand einen Grund sieht, das Interview zu löschen. Stattdessen steht es da und verbreitet weiter Legenden.

Das falsche Alter, die schmierigen, unbestätigten oder erfundenen Details bleiben kleben, wie immer in solchen Fällen. Im Netz findet sich die falsche Altersangabe auch an anderen Stellen, beispielsweise in einem bemerkenswerten Kommentar der „Basler Zeitung“. Der Autor ahmt so etwas wie eine Argumentationskette nach, die bei der Hauptfigur der Serie „House of Cards“ beginnt und über Geri Müller und seine „sexuelle Beziehung zu einer 21-jährigen“ Frau führt, um dann bei Silvio Berlusconi und Bill Clinton anzukommen. Fazit: Vögeln darf man überall, man darf sich nur nicht erwischen lassen. Oder im Wortlaut:

„Selbstverständlich darf man in der Badener Amtsstube Sex haben, auch auf der Toilette, auf dem Parkplatz, im Lift, wo es eben beliebt – aber man sollte sich nicht erwischen lassen.“

Was schön die schwiemelige Moral zeigt, mit der hier die Geschichte breitgetreten wird. Denn es bedeutet ja schlicht: Machen darf jeder alles, aber sobald er erwischt wird – Feuer frei! Der Autor attestiert dem Politiker dementsprechend noch, einer „organisierte[n] Form von Sexualität“ gefrönt zu haben, da er, der Nationalrat, ja regelmäßig Nachrichten verschickte. Was schweizerisch-ordentlich klingt, aber auch so ähnlich wie „organisierte Kriminalität“. Der Text endet deshalb folgerichtig mit einem Richterspruch:

„Jetzt muss er auf die Knie. Das sind die Mechanismen der Öffentlichkeit.“

Auf die Knie. Weil er sich „erpressbar gemacht“ und „dämlich verhalten“ habe. Kurz abgesehen von der (wahrscheinlich beabsichtigten) sexuellen Konnotation – es ist ein bezeichnendes Bild vom Journalisten, der oben steht und auch bei dünner Faktenlage urteilt, wer sich nun bitteschön in den Staub werfen soll.

Wo Nationalrat Geri Müller übrigens längst ist: Der Nationalrat hat sich gestern Abend in der Sendung „Club“ bei SRF1 einer Runde gestellt, in der mehr als eine Stunde lang ausschließlich über ihn und untenrum geredet wurde.

  • Ebenfalls zum Thema: Kollege Rainer Stadler schreibt im NZZ-Blog, dass Vorsicht hier oberstes Gebot wäre. „Und Schweigen öfters besser.“

16 Replies to “Nackt-Selfie-Affäre in der Schweiz: „Jetzt muss er auf die Knie“”

  1. Von einem Land wie der Schweiz hätte ich doch etwas mehr Offenheit, Neutralität (das Wort darf im Zusammenhang mit der Schweiz natürlich nie fehlen) und Toleranz auch bei so einem Thema erwartet.

    Aber das dem nicht so ist, zeigen die ganzen Artikel dazu. Artikel und Leserkommentare sind meistens soweit in der untersten Schublade, dass ich mich frage, ob die Pressekultur in der Schweiz wirklich noch niveauloser ist, als allein unsere Boulevardpresse. Und deren Leser scheinen ja nach den Kommentaren keinen Deut besser zu sein.

  2. Sehr schön. Ich wollte gerade schon den Herrn Niggemeier für diesen Beitrag loben und les dann noch rechtzeitig den Beitrag davor. Also ein Lob für den Gastblogger.

  3. Man darf hier nicht von Vorurteilen bzgl. der Schweiz ausgehen: Es sind die gleichen Leute, die gegen neue Moscheen und arbeitssuchende Einreisende gestimmt haben.

  4. Nun, die Geschichte um Geri Müller geht weiter und wirft immer besseres Licht auf die ursprünglich beteiligten Journalisten:

    href=“http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Wer-in-der-Affaere-Geri-Mueller-die-Faeden-zog/story/26547441

  5. Das – vor allem die Auszüge aus den Medienberichten – klingt alles so hanebüchen, dass ich es nicht glauben will. Aber ich befürchte, das ist die Medienrealität. Und zwar offensichtlich nicht nur in Deutschland. Kaum zu glauben. Und sehr schade.

  6. Wegen dem Alter Frau:

    Kurz nach 21 Uhr klingelte das Telefon … Das soll zur Altersangabe geführt haben.

    Macht es nicht besser aber nachvollziehbarer. Schlimm auch, dass die Agentur SDA das Alter im Nachhinein verbreitete, ohne die Originalquelle abzuklopfen.

  7. Da wird aus privaten Geschichten ein Sommerlochskandal hochgeschaukelt. Und ein Politiker aus den Reihen der SVP (rechtsgelagerte Partei) darf ungestraft verkünden, wer homosexuell sei, habe einen Hirnlappen der falsch herum funktioniere etc.
    Die Doppelmoral und Heuchelei ist auf jeden Fall zum davonrennen. Es ist auch bigott: Da gibt es einen Aufstand wegen Nacktselfies, aber das Seite-1-Girl, welches meist ziemlich nackt ist, wird täglich bestaunt und zur Kenntnis genommen.

  8. @Sven Laser:

    Bullshit. Die Schweiz ist in dieser Hinsicht bereits auf dem Spitzenplatz, wenn man der Statistik glauben darf:
    http://de.statista.com/statistik/daten/studie/198659/umfrage/sitze-von-rechtspopulisten-in-nationalen-parlamenten-europas/
    http://www.sueddeutsche.de/news/politik/wahlen-so-hat-europa-gewaehlt-uebersicht-ueber-alle-28-eu-staaten-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-140526-99-06249

    Ich habe den ganzen letzten Monat in Rumänien verbracht und hatte nicht den Eindruck, die Einwohner seien überhaupt in der Lage, sich „rechtsextrem“ zu verhalten, wie das mancher Deutscher oder Schweizer tut. Es gibt im Gebiet von Siebenbürgen zwar sehr wohl einen gewissen Nationalstolz, der sich jedoch darauf gründet, dass das Land ein großer Schmelztiegel aus Ungarn, Deutschen, Österreichern, Türken, Italienern und Russen ist. Die Minderheit des fahrenden Volkes lebt von der restlichen Bevölkerung abgeschottet und z.T. unter katastrophalen Umständen – auf der Straße müssen sie, von unbehandelten Krankheiten gezeichnet, um Essen und Zigaretten betteln und werden meist abgewiesen, aber zusätzlich angefeindet werden sie nicht – die verhältnismäßig wohlhabenderen Rumänen sagen, dass sie einfach nicht wissen, was sie gegen das Elend tun wollen.

  9. „Die Schweiz rückt nach rechts und liegt jetzt zwischen der Ukraine und Rumänien“

    Achtung, Achtung: Vorsicht!
    Auf der rechten Gegenspur kommen ihnen unterbelichtete Geisterfahrer entgegen. Halten Sie sich selbst möglichst rechts und warten Sie ab, bis sie die freiheitlich desorientierten Geisterfahrer der deutschen Leitmedien und der EU passiert haben.
    Achten Sie auch auf aggressiven Wildwechsel, es herrscht gerade Brunftzeit bei Rasmussens….

  10. Das ist die Fortführung des 19. Jahrhunderts mit anderen Mitteln.

    Jens Jessen hat zur prüden Heuchelei einen erstaunlich blöden Text in die ZEIT hineingeschrieben.
    Ein paar Textstellen haben mir aber gefallen und anderem diese hier:

    Was damals auf das Salongespräch zutraf, gilt heute wohl für die gesamte Politik samt Umfeld.

Comments are closed.