24 Stunden Berlin

Natürlich hätte ich den Rekorder programmieren und mir die erste Stunde, die von sechs bis sieben Uhr geht, gepflegt ab zehn ansehen können, anstatt mich im Morgengrauen aus dem Bett zu quälen. Aber das wäre nicht dasselbe gewesen. So sah ich, während ich mit der Müdigkeit kämpfte und den Tag verfluchte, Menschen, die mit der Müdigkeit kämpften und den Tag verfluchten. Im Fernsehen war es schon ganz schön hell, morgens um sechs, am 5. September 2008, in Berlin, und ich guckte aus dem Fenster und verglich.

Die Realzeit, in der das Mammutprojekt „24h Berlin“ von Volker Heise einen Tag im Leben dieser Stadt erzählt, schafft erstaunliche Verbindungen zwischen dem Leben vor dem Bildschirm und dem Leben darin. Natürlich war die Ausstrahlung gestern eine Art Event, aber die ganzen Public-Viewing-Veranstaltungen waren einigermaßen abwegig. Denn das Spektakuläre an den Geschichten ist ihre Alltäglichkeit: der Alltag einer Callcenter-Mitarbeiterin, eines alten Ehepaares, eines Junkies, eines Regierenden Bürgermeisters. Was „24h Berlin“ zu einem außerordentlichen Fernseherlebnis machte, war paradoxerweise der Reiz, es nebenbei sehen zu können oder umgekehrt: selbst nebenher leben zu können.

Morgens um kurz nach sechs lernt man Mario in der Obdachlosenunterkunft kennen. Wenn man nach dem eigenen Frühstück gegen zehn wieder einschaltet, sieht man ihn vor einem Bahnhof mit ein paar Straßenzeitungen stehen. Und ein paar Stunden später, ein paar Stunden in seinem Leben und ein paar Stunden in meinem, hat er immer noch keine verkauft. Erst am Nachmittag reicht es, dass er sich erst ein Bier besorgen kann und dann Heroin. Inmitten dieser und vieler anderer, erstaunlich vielfältiger Geschichten tauchen Szenen wie Running Gags auf – ein offenkundig dramaturgisches Element und zugleich ein extrem dokumentarisches: Immer wieder sehen wir die U-Bahn-Fahrerin, die von Ruhleben zurück nach Pankow fährt und von Pankow zurück nach Ruhleben, und den „Bild“-Chefredakteur, der schon wieder in einer anderen Sitzung ist und immer noch keine Schlagzeile für den nächsten Tag hat.

Das entwickelt einen erstaunlichen Sog, auch in der Mischung aus Dingen, die man selbst sehen könnte, wenn man auf die Straße ginge, und Einblicken in fremde Welten in der Nachbarschaft. „24h Berlin“ behandelt das Fernsehen als das, was es längst weitgehend ist: ein Nebenbeimedium, aber es nimmt den Anspruch, eine Dokumentation der Realität zu sein, in bemerkenswerter Weise ernst. Nicht so sehr die Rekordlänge, sondern diese Kombination ist es, weshalb „24h Berlin“ Fernsehgeschichte geschrieben hat.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung