Ingo Appelt

Abgrundtief. Ingo Appelt muss gehen, aber die Politik schaut zu, wie das Privatfernsehen insgesamt am hellichten Tag Schmutz verbreitet.

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Vielleicht muss man ein bisschen Mitleid haben mit Ingo Appelt, der doch nur ein Komiker ist, wie es sie zu allen Zeiten gegeben hat. Einer, der nicht durch Talent oder Handwerk auffällt, sondern dadurch, dass er auffällt. Einer, der Tabus bricht, den die Kinder lieben, weil die Eltern ihn hassen. Einer, dessen Witze nicht gut sein müssen, weil das Publikum statt „hahaha“ immer noch „hohoho“ lachen und „Was der sich traut!“ denken kann. So einer hat es nicht leicht heute. Wie soll man provozieren, wenn jede besonders krasse Übertreibung täglich im Fernsehen von Jenny und Alex und Ramona und Jürgen getoppt wird?

Das Mitleid mit Appelt hat Grenzen. Aber bedauernswert der Zuschauer, dessen Fernsehprogramm so weit gekommen ist, dass es einer wie Appelt kaum schafft, abgesetzt zu werden. Es ist ja nicht so, dass er sich nicht lange schon bemüht hätte. Hat wieder und wieder „Ficken“ gerufen. Hat dumme Witze über den Bundespräsidenten gemacht, als der sich von einer Operation erholte. Hat ein Kind epileptische Anfälle vortäuschen lassen, um schneller einen Parkplatz zu bekommen. Aber er musste erst so tun, als schieße er Kinder auf eine Torwand, um von Pro Sieben endlich abgesetzt zu werden.

„Wir sind verwundert“, sagt Jörg Grabosch, Geschäftsführer der Firma Brainpool, die die Ingo Appelt Show produzierte. Was habe der Sender denn erwartet, fragt er, als er einen Komiker unter Vertrag nahm, der in seinem Bühnenprogramm einen Graf Dracula spielt, der das Blut nicht aus dem Hals seiner Opfer saugt, sondern aus ihren Tampons. Ja, was wohl? Quote! Die von Appelt war schlecht, aber auch nicht so mies, dass man nicht noch die restlichen Folgen hätte ausstrahlen können. Für die vorzeitige Absetzung spricht nur eins: Dass sich Pro Sieben zum Saubersender stilisieren kann. „Die Ingo Appelt Show genügt dem Qualitätsanspruch der Marke Pro Sieben nicht“, säuselt Programmchef Nicolas Paalzow in einer Pressemitteilung und „bekennt“ sich zu „qualitativen Maßstäben“. Kling, Glöckchen!

„Es gibt Dinge“, sagt Paalzow, „die gehen auf einer Bühne, vor einem geschlossenen Benutzerkreis, aber im Fernsehen kann man sie nicht machen. “ Mit dieser Ansicht steht er offenkundig allein in der Fernsehlandschaft. Und er erklärt nicht, warum dem Sender diese Erkenntnis nicht vorher kam, nach der Aufzeichnung zum Beispiel. Sei’s drum. „Der Zuschauer honoriert Geschmacklosigkeiten nicht“, sagt Paalzow. Ob Appelt weitersenden dürfte, wenn die Zuschauer dessen Geschmacklosigkeiten honoriert hätten, bleibt offen.

Am Nachmittag sitzen in der Talkshow Andreas Türck bei Pro Sieben Menschen, die drastische Ansichten über den Körpergeruch eines Freundes, das Sexualverhalten eines Partners oder die Rolle der Frau an sich haben, aber große Probleme, diese verständlich zu artikulieren, worüber sich der Moderator zur Unterhaltung des Publikums lustig macht. Das ist nicht geschmacklos und lässt sich mit dem Qualitätsanspruch von Pro Sieben vereinbaren. „Türck ist ein Idol für viele Teenager und sehr populär“, sagt Paalzow. Brainpool-Chef Grabosch findet es merkwürdig, was Fragen des Geschmacks mit der Absetzung von Sendungen zu tun haben sollen. Das ist nicht zynisch, sondern realistisch: In der vergangenen Woche holte Ramona Drews vor laufender Kamera eine Brust aus der Bluse und bewies durch gezielte Massage, dass daraus fünf Jahre nach der Geburt ihres Kindes noch Milch spritzt, weil ihr Mann Jürgen sie regelmäßig heraussaugt. RTL zeigt diese Szene ungefähr ein Dutzend Mal, auch mittags in Punkt 12. In Explosiv beglückt der Kölner Sender um 19. 30 Uhr die versammelten Kinder und Erwachsenen mit Großaufnahmen einer anderen Frau, die ihre Muttermilch in einen Behälter melkt, um sie Männern auf der Straße zum Trinken anzubieten. In Exclusiv Weekend fragt der gleiche Sender, zu welchen TV-Exzessen es noch kommen wird, und zeigt bei dieser Gelegenheit außer Frau Drews zwei Komiker, die sich vorn in ihre Hosen Bockwürste gesteckt haben, die sie während der Aufnahmen massieren, sowie den Komiker Niels Ruf, dessen Beitrag zur Diskussion die Andeutung von Analverkehr mit einer Gummipuppe und ein Auftritt mit der Unterwäsche von Anke Engelke sind. Die Berliner Verkehrsbetriebe stoppen am Wochenende die Aufnahmen zu Christoph Schlingensiefs neuer MTV-Show U 3000, weil dabei ein Mann, in dessen Hintern Mohrrüben stecken, auf einem Bahnsteig nackt auf ein Go-Kart gefesselt wird. In einer anderen Folge interviewt Schlingensief Maria und Margot Hellwig mit nacktem Unterkörper und frei schwingendem Glied, Aufnahmen, die andere Privatsender vorher zeigen, am frühen Abend.

In der RTL-Comedy Freitagnacht News wird ein Darsteller von einer Gruppe Skinheads gejagt, bis einer der Angreifer ihm mit einem Baseballschläger den Kopf abschlägt. Explosiv berichtet über eine extrem übergewichtige Frau, die mitsamt ihrem Bett mit einem Kran von der Feuerwehr aus dem Haus gehieft werden muss, und vermutet dabei, dass sie mit der Scham der Zurschaustellung kaum leben kann. Bei Sonja auf Sat 1 drohen sich zur Mittagszeit Gäste gegenseitig Gewalt an, während ihnen Zuschauer unter dem Beifall des Publikums vorwerfen, auszusehen „wie ein schwules Stück Kacke“. Explosiv lässt ein nacktes Paar so bemalen, dass ihre Brüste zwei Möpse darstellen und sein Glied den Rüssel eines Elefanten, filmt sie beim Bummel durch Wien und zeigt das um 19 Uhr. Alles wird überall wiederholt, spätestens in der Endlosschleife des Dauerlächlers Stefan Raab, der auch ein in einer Talkshow weinendes Mädchen zigmal vorführt, weil ja nicht er darunter leidet, sondern das Mädchen, das dann auch noch in Raabs Sendung eingeladen wird und vor Angst kaum einen geraden Satz herausbringt. Was bleibt ihr übrig?

So simpel ist Privatfernsehen: sind Tränen oder Titten zu sehen, steigt die Quote. Deshalb gibt es im deutschen Privatfernsehen keine Zeit mehr, zu der nicht Riesenbrüste, operierte Brüste, bemalte Brüste, Schwabbelbrüste oder (bei RTL) die Frau mit den vier Brustwarzen zu sehen sind. Was, wenn Eltern ihre fernsehenden Kinder nicht rund um die Uhr bewachen können?

Man läuft Gefahr, sich anzuhören wie ein Wanderprediger, aber die Degeneration des Fernsehens hat zweifellos neue Ausmaße erreicht, und das, nachdem Politiker die Talkshow- und Real-Life-Show-Sau je einmal durchs Dorf getrieben haben, fast ohne öffentliche Diskussion. Was in der Zeitschriften-Landschaft mit Coupé oder dem National Enquirer Randerscheinungen sind, ist im Privatfernsehen Alltag.

Pro-Sieben-Programmchef Paalzow sagt, dass er in letzter Zeit massenhaft Formate angeboten bekomme, die schärfer sind als Appelt war. Kein Wunder, dass der zum Äußersten gehen musste, um überhaupt bemerkt zu werden. Das Aus für seine Show ist kein Beleg dafür, dass es Selbstreinigungseffekte im Privatfernsehen gibt. Es ist ein Beleg dafür, wie verkommen das Privatfernsehen ist.

Es ist auch Beleg dafür, dass Politik und Fernsehwächter der Entwicklung tatenlos zusehen. Ihnen bringt eine zünftige Einmal-Erregung über Big Brother mehr Beifall als die Beschäftigung mit dem inzwischen normalen Schmutz, der aus den Kanälen, die diese Politiker fördern, zur besten Sendezeit vor Menschen ausgeschüttet wird. Vor Menschen, die sich dagegen nicht immer wehren können. Vor Kindern zum Beispiel. Frohes Fest.

(c) Süddeutsche Zeitung