Entspanntere Wahlabende mit stern.de

„Aktuelle News“ steht in der Titelzeile über der Startseite von stern.de, und das ist nicht nur ein alberner Pleonasmus, sondern bezeichnet ziemlich genau, aus welchem Geschäft sich der Online-Ableger des „Stern“ spätestens mit dem jüngsten Relaunch verabschiedet hat.

Ich hätte ja, ehrlich gesagt, größere Summen darauf gewettet, dass zum Beispiel am vergangenen Abend dort außer einem Pförtner niemand arbeitete. Aber Ralf Klassen, der Vize-Chef, twitterte gegen 17 Uhr:

In der Redaktion, noch knapp eine Stunde bis zu den ersten Prognosen der Landtagswahlen. Wir basteln an mehreren Szenarien… #Farbenlehre

Kurz darauf ergänzte er:

Erste Hürde genommen: Unsere super-schöne Wahlgrafik ist online. Zurzeit noch Umfragen, ab 18 Uhr mit aktuellen ARD/ZDF-Werten www.stern.de

Ich weiß persönlich nicht so genau, was für Kunststücke die ungezählten anderen Online-Medien vollbringen, auf deren Seiten schon seit Jahren an Wahlabenden aus Hochrechnungen und Ergebnisse Säulen- und Tortendiagramme werden. Ich weiß nur, dass die „super-schöne Wahlgrafik“ von stern.de dann zum Beispiel so aussah:


Aber das war nicht das eigentlich Frappierende an der Berichterstattung von stern.de am Wahlabend. Das eigentlich Frappierende an der Berichterstattung von stern.de am Wahlabend war, dass sie praktisch nicht stattfand.

Dies ist der Kopf der stern.de-Titelseite (die am Nachmittag noch wie die Wahlplattform der CDU-Sachsen aussah) um 18.34 Uhr:

Der Text dahinter ist eine knappste Zusammenfassung der Ergebnisse in den drei Ländern (mit einem weiteren Jemand-wirft-einen-Wahlzettel-in-die Urne-Bild als Illustration); die zweite verlinkte Geschichte ist ein vor der Wahl geschriebenes Erklärstück.

Dabei blieb es im Wesentlichen.

Um 19.06 Uhr war immerhin eine Fotostrecke hinzugekommen:

Und um 19.43 Uhr war der inaktuelle Zweittext, der rechts unten angeteasert wurde, gegen ein anderes, drei Tage altes Stück ausgetauscht worden:

Um 20.10 machte die Seite, die ihr Chef Frank Thomsen für die „bildstärkste Nachrichtensite im deutschsprachigen Internet“ hält und der der Branchendienst turi2 „opulente Optik“ und „neuen Glanz“ attestiert, immer noch mit dem erschütternd nichtssagenden und zeitlosen Platzhalterwahlmotiv auf:

Bevor es wenige Minuten danach gegen ein anderes klassisch-langweiliges Vor-der-Wahl-Foto von Wahlplakaten ausgetauscht wurde:

So etwas ähnliches wie aktuelle Berichterstattung bildete sich währenddessen nur in dem offenbar ohne weitere redaktionelle Betreuung vor sich hin arbeitenden „Newsticker“ ab:

An dem Wettlauf der Online-Medien nimmt stern.de nicht einmal mehr teil: In der aktuellen Berichterstattung beschränkt sich das Angebot — ergänzt um ein paar Kolumnen und Rubriken — inzwischen zum größten Teil auf Agenturmeldungen. Einzelne, gelegentlich herausragende Reportagen deuten an, was stern.de statt eines Nachrichtenportals sein könnte, aber auch nicht ist.

Bei stern.de kann man in diesen Wochen beobachten, wie es aussieht, wenn ein großes Medium den Glauben an das Internet (oder wenigstens seine Erlösmöglichkeiten) verliert. Und nachdem die News-Community „Tausendreporter“ und die Foto-Community „Augenzeuge“ bereits abgeschaltet wurden, kann es nicht mehr lange dauern, bis auch die Gaga- und Werberubrik „Shortlist“ den Gnadenschuss bekommt: Die Redaktion hat schon seit über zwei Monaten nichts mehr beigesteuert; auch von Lesern kommt kaum noch etwas, seit stern.de das dubiose Angebot kaum noch bewirbt.

Immerhin hat stern.de es im Lauf des Abends noch geschafft, eine Klickstrecke mit Archivfotos (!) und Reaktionen zu produzieren. Das Treffendste daran war die Anzeige darüber…

…die allerdings für die Zeitung „Die Welt“ wirbt.

24 Replies to “Entspanntere Wahlabende mit stern.de”

  1. Die ARD hatte auch Probleme beim Anzeigen der tollen Flash-Animationen. (Habe verschiedene Browser ausprobiert.)
    Ob das an den vielen Zugriffen lag, oder an der Technik, entzieht sich meiner Kenntnis.

  2. Beim ‚Stern‘, dem bundesdeutschen Angie-Kuschel-Magazin, mussten die Redakteure gestern abend erst einmal die zerfledderten Weltbilder sortieren. Da konnten sie angesichts dieser Wahlergebnisse sich nicht auch noch um einen popeligen Online-Auftritt kümmern. ERST die neue Redaktionslinie, DANN die passenden Artikel – so herum läuft’s …

  3. Ich habe mit großem Interesse den Videotext verfolgt. Zur selben Zeit waren sich gegen Mittag alle Sender einig, daß die Wahlbeteiligung hoch und niedrig war und der Start in den Wahlsonntag zäh und besser als vor vier Jahren. So viel Einigkeit in der Wahlkampfzeit!

  4. #6: Könnte daran liegen, dass gleich in 3 Bundesländern gewählt wurde. Wahlbeteiligung in Saarland und Thüringen höher, in Sachsen gesunken.

  5. Zuerst hätte man beim Stern wohl das Twittern einsparen sollen. Aber für diese Großmäuligkeit reicht es halt immer noch

  6. @Hausherr

    Gerade im Radio gehört, dass derjenige CDU-Mensch aus Radebeul, dem vorgeworfen wird, die Prognose via #Twitter in die Welt rausgeblasen zu haben, sich damit rausredet, dass jemand unter seinem Namen gezwitschert hätte. Fällt das dann auch unter „Rechtsfreier Raum“?

  7. @ frederick:

    Zumindest in Sachen Wahlberichterstattung war der Spiegel absolut up to date, da gibt es aus meiner Sicht nix zu meckern.

    Grundsätzlich finde ich es sinnvoll, dass man beim Stern Rubriken schließt, die nicht mehr betrieben werden sollen, anstatt sie mit irgendwelchen sinnlosen Inhalten zu füllen, auch wenn ich bezweifle, dass anstelle dessen andere Rubriken mit besseren Inhalten gefüllt werden. Aber ein „seriöser“ Kaufmann in der Industrie würde wohl ähnlich handeln: unrentable Produkte nicht mehr produzieren. Die Absicht, Geld zu verdienen, kann ich niemandem verdenken, denn die hat jeder von uns.

    Eine Reduzierung des Angebots kann dem Markt aus meiner Sicht nur gut tun in der Hoffnung, dass daraus eine Konzentration auf Qualität erfolgt.

    @ Stefan Niggemeier

    Gibt es eigentlich fundierte Daten darüber

    a) welche Medienseiten im Netz überhaupt Geld verdienen? SPON bspw. rühmt sich, eine der wenigen Seiten zu sein, die von „Online“ profitieren, aber ist dem wirklich so?
    b) welche Zahlungsbereitschaft deutsche Kunden derzeit hätten, um gebührenpflichtige Inhalte abzurufen?

  8. @ frederick: Irgendwelche Buchstaben- und Wortdreher finde ich jetzt eher unspannend, und auch Marcus‘ Hinweis auf die PDS ist nur ein kleiner Schmunzler für die Lesebeute – aber sonst immer her mit der Kritik.

  9. Okay, sieht so aus, als ob – abgesehen vom Vize-Chef und dem Pförtner – tatsächlich niemand da war. Und der Vize-Chef war ja mit Twittern ausgelastet.

  10. Im Verhältnis zum monatelangen Wirtschaftskrisen-Billigschienen-Wiederholungsfernsehen ist die Berichterstattung über die Wahlen ein echter Krimi, noch dazu mit völlig neuem Content ;-)

  11. Wo #21 gerade „völlig neuen Content“ erwähnt: schreibense mal wieder was, Herr Niggemeier? Tät‘ mich freuen.

  12. Wenn man sich bei Stern.de darüber beschwert, dass man die Seiten kaum abrufen kann und stattdessen nach ca. 3 Sekunden eine weiße Seite bekommt, erhält man folgende automatische Antwort, die auch gut in den Eintrag „Indikativ Futur I“ hätte gepostet werden können:

    „Wir haben Ihren Hinweis soeben an die zuständigen Kollegen von der Technik weitergeleitet, die dieses Problem zeitnah behoben haben werden.“

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