Blut und Esskastanien

Es hat ja auch sein Gutes, wenn man sich stundenlang das Elend der Fernseh-Berichterstattung der vergangenen Tage ansieht. Ich habe dabei einen Ausschnitt aus der ZDF-Sendung „Drehscheibe Deutschland“ vom vergangenen Mittwoch gefunden, der in gerade einmal 50 Sekunden alles zeigt, was man über dieses tägliche Mittagsmagazin und sein journalistisches Selbstverständnis wissen muss:

So und so ähnlich geht das jeden Tag, und ich würde schätzen, dass das ZDF nicht nur der größte Abnehmer von Beiträgen über Zubereitungsideen von Herbstfrüchten, sondern auch von Filmen der professionellen Unfallgaffer ist. Einen Eindruck davon, was für ein Geschäft das ist, bekommt man zum Beispiel auf der Seite der Firma „TVR News“, von der auch die Bilder aus dem „Drehscheibe“-Beitrag stammen, wie ein Schwerverletzter aus seinem Auto geborgen gerettet wird.

(Aber, hey, sein Gesicht ist verpixelt. Das ist schließlich öffentlich-rechtliches Fernsehen!)

32 Replies to “Blut und Esskastanien”

  1. Warum denn so überrascht?
    Wer richtige Infos sehen will (und zu der Tageszeit überhaupt fernsieht) der wartet bis 13 Uhr. Oder schaut EinsExtra. Mangel an Ernsthaften besteht also nicht. Unterm Strich fordern jetzt all die hochgestochene Telekolleg-Formate, die den Kasten vor 8 nicht anstellen.

  2. „Haufenweise“ gibt es so manches bei den lieben ÖR, was diese immer wieder gerne vergessen, wenn sie sich coram publico als moralische Instanz aufspielen.

  3. Danke für die Pixel! Genau dieses Argument hat mich schon immer sehr stutzig gemacht. Und danke für das Dauerfernsehen – ich könnte das ja auf Dauer nicht, ohne gänzlich zu verblöden!

  4. Ist das nicht die alte Frage nach Henne oder Ei? Hier: Angebot oder Nachfrage. Ich vermute, die schaukeln sich gegenseitig hoch.

  5. Mein Gott, jetzt können wir die Diskussion endlos fortführen. Solche Formate hat es immer gegeben und wird es immer geben. Menschen sind so: neugierig und sensationslustig.

    Worüber wir aber reden können: Warum müssen die Öffentlich-Rechtlichen diesen Mist mitmachen? Es ist ja nicht nur die „Drehscheibe“, es sind auch „Brisant“ oder „Hallo Deutschland“. Sendungen, die ARD und ZDF nicht gut anstehen. Finanziert mit unseren Gebühren.

  6. Hachja – und einen Eindruck über den Zustand des Medienjournalismus bekommt man zum Beispiel auf der Seite http://www.turi2.de .

    Es müsste übrigens „aus dem Auto gerettet“ heißen. Der Mann ist ja nicht tot, sondern schwer verletzt.

  7. @nemo: Ich finde nicht, dass öffentlich-rechtliche Boulevardmagazine pauschal nicht sein dürfen. Schön wäre, da stimme ich zu, wenn sie hier und da anders aussehen würden.

    Blaulicht gibts aber übrigens auch in öffentlich-rechtlichen „normalen“ Nachrichten, weniger in der 20-Uhr-Tagesschau, aber grundsätzlich schon. Und in den Dritten sowieso, zurecht.

  8. @Stefan:
    „2.) Echt? Telekolleg oder Aufnahmen, wie Schwerverletzte am Unfallort versorgt werden? Das sind die einzigen Alternativen?“
    Dass die Sendung kein Glanzlicht ist, wissen wir nicht erst seit gestern(, auch wenn man um diese Zeit nicht schaut.) Daher wird hier wieder ein Aufreger geschaffen, an dessen Ende sich Leute aufregen, die nicht zu Zuschauerschaft gehören und auch nicht gehören würden, wenn dort was anders liefe, schlicht weil sie um die Zeit was besseres vorhaben.
    Am Ende sagt immer einer „warum müssen die ÖR sowas machen.“
    Dabei kennen wir die Antwort schon: Weil es zu einem normalen Angebot dazugehört und nachgefragt wird. Kritisch wäre es, wenn es keinen Ausgleich gäbe (so wie z.B. RTL). Aber den bekommen wir in ZDF eine Stunde später. Das macht das Angebot rund: Dinge, die wir fordern und Dinge die wir lieber nicht sehen wollen.
    Ich muss den Ball mit den einzigen Alternativen zurückspielen: Kann dein Fernseher mittags nur die eine Sendung? Falls er mehr kann und es dir nach richtigen Infos dürstet, dann habe ich mögliche Alternativen (MiMa, EinsExtra) schon genannt.
    Wir sollten nicht vergessen: Wir können Brisant und die Tagesschau jederzeit fehlerfrei auseinanderhalten. Sind wir jetzt erwachsen genug, das beste daraus zu machen und zu selektieren oder beschweren wir uns über Einzelnes, obwohl wir Alternativen haben?
    Und warum dreschen wir immer auf Angebote ein, aber nie auf die Nachfrage?

  9. @Schreiberling: Zu einem „normalen“ öffentlich-rechtlichen Angebot gehört dazu zu zeigen, wie Schwerverletzte aus ihren Autos geschnitten werden? Nicht in meiner Vorstellung eines öffentlich-rechtlichen Angebotes. Vielleicht wäre das auch eine gute Antwort an all die Leute, die gerade irgendwo schwerverletzt in ihren Autos sitzen und eigentlich dabei nicht noch gefilmt werden wollen: „Machen Sie sich nichts draus, das läuft ja nicht in der Tagesschau, sondern nur bei Brisant.“

    Sie haben aber auch eine lustige Vorstellung von der Funktion (bzw. Nicht-Funktion) von Kritik. Ihr „Man kann ja was anderes gucken“ ist dabei argumentativ aber ungefähr so überzeugend wie früher die „Geh doch nach drüben“-Rufe, wenn jemand die Bundesrepublik kritisierte.

  10. @Schreiberling
    „Und warum dreschen wir immer auf Angebote ein, aber nie auf die Nachfrage?“

    naja, wenn’s um Nachfrage ginge, müssten die den ganzen Tag Pornos zeigen.
    Will sagen: Es gibt sicherlich eine Nachfrage, die nicht erfüllt wird. Es ist also immer auch eine Frage des Wollens, was gezeigt wird und was nicht.

  11. „Zu einem „normalen” öffentlich-rechtlichen Angebot gehört dazu zu zeigen, wie Schwerverletzte aus ihren Autos geschnitten werden?“
    Boulevard gehört zu einem normalen Angebot natürlich dazu. Da müssen wir uns nicht an einzelnen Beiträgen festbeißen, obwohl den meisten bewusst sein sollte, dass diese Sendung Quark ist.
    „Man kann ja was anderes gucken“ ist solange ein zulässiges Argument, wie innerhalb des Senders Alternativen vorhanden sind, man also weder Sender noch Land verlassen muss. Zusätzlich könnte man im Ersten schauen, wenn mans etwas biederer haben will. Geht es uns im Herzen besser, wenn dort eine ZDF-Serie oder ein Servicemagazin mit Ärzten und Hüft-OPs läuft?
    Ich will auch nicht gefilmt werden, wenn ich verletzt irgendwo rumliege, aber wenn nicht die Expressgaffer mit Polizeifunkscanner auf mich halten, dann Lieschen Müller mit ihrem Handy. Das macht es ausdrücklich nicht besser, aber das Blut und Tränen-Magazin am Rentnermittag zur Wurzel allen Übels zu erklären, setzt an der falschen Stelle an. Ich frage oben schonmal: Warum dreschen wir immer auf Angebote ein, aber nie auf die Nachfrage?

  12. „naja, wenn’s um Nachfrage ginge, müssten die den ganzen Tag Pornos zeigen.“
    Wenn es uns um die Nachfrage ginge, müssen wir einander persönlich nachhaltig kritisieren und nicht den (anonymen) Sender. Warum kaufen sich Millionen täglich die Bild-Zeitung? Was ziehen die daraus? Hat es Auswirkungen, oder verpufft es? Wissen die nicht, dass es menschenverachtend ist? Und wie ändert man bspw diese Gaffgier?
    Das wären für mich mittlerweile spannendere Fragen, als die Fokussierung auf die Auswirkung. Stefan weist richtigerweise auf die ZDF-Sendung hin, aber es bleibt davon nichts, außer das schwammige Wissen, dass alles immer schlimmer wird. Ziel sollte nicht Dresche sein, sondern dass die Sendung überflüssig wird.

  13. Herr Niggemeier, jeder journalistische Anfänger lernt, dass Tote „geborgen“ werden, (noch) Lebende hingegen „gerettet“ werden.

  14. Frage an journalistisch Fortgeschrittene: Warum werden Tote bzw. Leichen „geborgen“ und nicht „gerettet“? Sind tote Menschen nur noch Gegenstände?

  15. @Schreiberling
    Ich versteh halt nicht, dass man windige und schmutzige Geschäftsmodelle damit rechtfertigen kann, dass die Rechnung aufgeht. (Natürlich kann man mit ekligen Bildern Geld verdienen, natürlich kann man mit windigen Zertifikaten reich werden, natürlich lohnen sich Gewinnspiele, die gratis sind, aber Geld kosten. Aber muss man das alles tun?)

  16. @Mike:
    Gegenstände kann man durchaus retten. Selbst immaterielles wie die „Ehre“ läßt sich retten. Aber Tote? Wovor (außer vor solcher Berichterstattung)?

  17. Ehrlich gesagt, habe ich (z.B. nach einem Flugzeugabsturz) noch nie von „geretteten“ Wrackteilen oder „gerettetem“ Gepäck gehört. Auch Flugschreiber werden – obwohl man ja die Daten davon haben will und das Auffinden der Recorder somit defintiv etwas Freudiges ist – „geborgen“, nie gerettet.
    Ist das Zufall – weilSprachgebrauch – oder gibt es da eine grammatikalische bzw. journalistische Leitlinie?

  18. Das „Bergen/Retten“-Thema ist interessant und komplizierter als der oberflächlich schlaumeiernde Zwiebelfisch annimmt. Recht hat er nur damit, daß die Wörter „bergen“ und „retten“ nicht gleichbedeutend sind. Aber bei Sprachfragen gibt es nicht immer nur entweder/oder, sondern bisweilen Grauzonen und Nuancen. Man kann auch Leichen *retten* (nicht vor dem Tod, aber vor Leichenschändern). Gegenstände sowieso. Bei Lebewesen scheinen mir Passivität und Hilflosigkeit des Opfers eine Rolle zu spielen. Schreiende und winkende Menschen werden vom Sims eines brennenden Hauses eher nicht geborgen, sondern gerettet. Ihre bewußtlos in der Nebenwohnung liegenden Nachbarn kann die Feuerwehr durchaus *bergen* und lebend in Sicherheit bringen. Letzteres wird übrigens von meinem Duden bestätigt (der natürlich auch nicht automatisch Recht haben muß). Ich glaube zudem nicht, daß die Feuerwehren mit Dienst an der Leiche werben wollten.

  19. @Claudius, Mike:
    Ich bezog mich auf den allgemeinen Sprachgebrauch im Bezug auf den Begriff „retten“.
    Man kann Unternehmen vor dem Konkurs retten, Gebäude vor dem Einsturz, Daten von einer Festplatte (Beispiele aus Wikipedia übernommen), man kann seine Ehre retten, seine Seele oder den Kuchen noch rechtzeitig aus dem Ofen.
    Auch Leichname kann man retten – zum Beispiel vor Grabräubern, vor Organräubern, oder (durch Einbalsamierung etc.) vor dem Verfall.
    Das alles empfinde ich als sprachlicher Laie, aber deutscher Muttersprachler, für korrekte Verwendungen des Begriffs.
    Zum „retten“ gehört hier immer etwas, WOVOR man rettet.
    Es impliziert eine Verbesserung des Zustandes.
    Bei einem Toten, der aus einem Auto „geborgen“ wird, trifft das nicht zu. Wäre er gerettet worden, wäre er nicht tot – diese Vorstellungen widersprechen sich.

  20. Wenn ich auch mal etwas klugscheissen darf: man kann sowohl Gegenstände als auch Menschen -egal ob lebendig oder tot- sowohl bergen als auch retten. Unabhängig davon, was „jeder journalistische Anfänger“ zu lernen glaubt.

    Ziel sollte nicht Dresche sein? (Ich hätt’s jetzt eher „Kritik“ genannt, aber gut, warum nicht etwas polemisieren…) Warum nicht? Warum sollten Sendungen wie diese nicht kritisiert werden? Warum soll man nicht seiner Meinung Ausdruck verleihen, dass solche Art von Blut-, Tränen- und Sensationsgafferbefriedigung im Fernsehen im Allgemeinen und im öffentlich-rechtlichen im Besonderen nichts verloren hat? Um „Information“ oder „Bildung“ geht es da ja schliesslich nicht, sondern so wie es aufbereitet ist allein um die Sensation. Dass die Nachfrage dabei angeblich das Angebot diktiert lasse ich nicht gelten, denn das ist ein unilateraler Mythos. Das Angebot schürt auch die Nachfrage.

  21. Meine ursprüngliche Frage hat eigentlich der Link von Mark (#24) beantwortet. Es gibt also tatsächlich ‚Katastrophenschutzsprech‘ und ‚Feuerwehrsprech‘. Aber da es selbst dort keinen Konsens gibt, scheint mir, dass die verpixelte Person sowohl gerettet als auch geborgen wurde und die Assoziationen ‚Lebende retten, Tote bergen‘ nicht zwangsläufig zutrifft.
    Sorry für das ganze Off-Topic Gerede, aber die Frage hatte mich nicht das erste Mal beschäftigt…

    Und auf die Themen des ZDF will ich eigentlich gar nicht wirklich eingehen. Die einzigen ÖR-Kanäle, die man sich ansehehn kann, ohne dass einen ein sofortiger Brechreiz überkommt, sind die Sparten- und Digitalkanäle (phoenix, arte, 3sat, EinsExtra, zdf.neo usw.). Und Blut und Esskastanien sind definitiv ein Grund dafür.

  22. @26: Der Vorwurf ging nicht an Sie, sondern an die Möchtegern-Besserwisser vom Zwiebelfisch, mit dessen Geschichte von der Rettung eines Sterbenden Sie ja anscheinend auch nicht ganz einverstanden sind.

    Ja, das alles ist off-topic, aber in einem Journalismus-Blog darf man doch mal ins Semantische abdriften, oder? Der nächste Forist kann ja gerne auf das unerfreuliche (und wichtige) eigentliche Thema zurückkommen.

  23. Zur von Mike (#29) postulierten brechreizfreien Ansehbarkeit von 3sat:

    „Keck: Ich habe im Fernsehen bei 3sat einen Beitrag des Wissenschaftsmagazins Nano gesehen. Angeblich sollten mit einer neuen, als Nanopartikelanalyse und neuerdings als Stoffwechselfunktionstest bezeichneten Methode Krankheiten schon vor dem Ausbrechen diagnostiziert werden können. Es war leicht erkennbar, dass es sich hier um Scharlatanerie handelte. Der Beitrag war eine verdeckte Werbesendung für das damalige BMIB, jetzt Indago GmbH. Ich habe mich bei der Redaktion und mehreren Instanzen des Senders beschwert, aber das hat nichts gefruchtet.“

    http://blog.esowatch.com/index.php?itemid=321

  24. Scharlatanerie, Schleichwerbung & Verbrauchertäuschung verursachen bei mir spätestens keinen Brechreiz mehr, seit es die Call-In-Sendungen geschafft haben, sich aus ihrem Zucht- und Entwicklungslabor ‚9live‘ zu befreien…

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