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Steht am Band: Der aserbaidschanische Präsident bei der Arbeit

Nachher werden in Aserbaidschan im Beisein von Präsident Ilham Aliyev die ersten Europaspiele eröffnet, und man mag ja viel gegen den Mann sagen, aber das kann er: Sachen eröffnen.

Im Wesentlichen scheint sein Präsidentenalltag seit Jahren daraus zu bestehen, irgendwo Bänder durchzuschneiden, die zu diesem Zweck vor Straßen, Krankenhäusern, Parks und Schachschulen gespannt wurden. Ich bin ein bisschen überrascht, dass Bänderdurchschneiden keine Disziplin bei diesen olympiaähnlichen Spielen ist, denn da wäre Präsident Aliyev der Titel kaum zu nehmen. Er scheint vor allem auf rote Bänder spezialisiert zu sein, beherrscht aber auch grüne, blaue und sogar goldgemusterte Absperrungen.

Irgendjemand hat sich die Mühe gemacht, der Ausdauer Aliyevs ein Denkmal zu setzen, in Form eines Tumblrs: Ilham Aliyev Cutting Ribbons. Eine winzige Auswahl daraus:

http://aliyevcuttingribbons.tumblr.com/post/121294221892/president-ilham-aliyev-attended-the-opening-of

http://aliyevcuttingribbons.tumblr.com/post/121294075267/ilham-aliyev-his-spouse-attend-opening-of

http://aliyevcuttingribbons.tumblr.com/post/121294385902/president-ilham-aliyev-attended-the-opening-of

Ich glaube, mein Favorit ist dieses Motiv, in dem der Präsident scheinbar einen Zebrastreifen einweiht, was aber sicher täuscht:

http://aliyevcuttingribbons.tumblr.com/post/121281284067/ilham-aliyev-took-part-in-the-opening-of-tovuz

Aserbaidschan schon wieder enttäuscht von der freien Presse in Deutschland


(Ilcham Aliyew, Präsident von Aserbaidschan und Präsident des Nationalen Olympischen Komitees von Aserbaidschan, entzündet die Flamme der ersten European Games.)

Wie ungerecht. Da gibt Aserbaidschan gewaltige Summen aus, um sich der Welt in schönster Pracht zu präsentieren, und was machen deutsche Journalisten? Schreiben über so alberne Dinge wie die Verfolgung von Oppositionellen, Bürgerrechtlern und kritischen Journalisten im Land. Dabei sind die bloß zufällig alle samt und sonders kriminell, was soll man tun, sie einfach nicht verhaften, bloß weil sie Oppositionelle und Bürgerrechtler sind?

Es scheint ein merkwürdiger Widerspruch: Einerseits ist Aserbaidschan besessen davon, sich der Welt bekannt zu machen und durch Großereignisse wie den Eurovision Song Contest 2012 und jetzt die ersten Europa-Spiele ein glänzendes Bild von sich selbst zu zeigen. Andererseits sieht das Regime ganz offensichtlich keinerlei Notwendigkeit, im Dienst der Imagepflege wenigstens in den Wochen und Monaten vor diesem Großereignis positive Zeichen zu setzen, was den Umgang mit seinen Gegnern und den Respekt vor fundamentalen Rechten angeht.

Im Gegenteil: Regimekritiker wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt; Radio Liberty wurde aus dem Land geworfen, das Büro der OSZE geschlossen, Amnesty International abgewiesen; kritische Journalisten wurden am Flughafen festgehalten oder gar nicht erst akkreditiert.

Die Verfolgungs- und Einschüchterungskamapagne der aserbaidschanischen Regierung war so erfolgreich, dass es für Journalisten, Athleten oder gar Funktionäre, die in Aserbaidschan wenigstens auch mit Oppositionellen oder Bürgerrechtlern reden wollen, kaum noch Ansprechpartner gibt. Was bliebe, wäre noch ein Besuch bei den Angehörigen der politischen Gefangenen.

Um ein makelloses Image präsentieren zu können, nimmt das Regime jeden Makel in Kauf. Vermutlich aus dem Kalkül, dass die prächtigen, spektakulären, kontrollierten Bilder, die in den nächsten Wochen aus Baku kommen, ungleich mächtiger sind als die kritischen Kommentare der „Spaßbremsen“ und „Menschenrechtisten“, wie der „taz“-Redakteur Jan Feddersen vor drei Jahren Leute nannte, die sich partout nicht – wie er – von den schönen Fassaden blenden lassen wollten.

Ganz egal, also: völlig egal scheint der Regierung in Aserbaidschan aber die kritische Berichterstattung in einigen deutschen Medien doch nicht zu sein, jedenfalls hat die Botschaft in Berlin am Dienstag eine Mitteilung herausgegeben, in der sie sich über die schlechte Presse beklagt.
Sie nennt namentlich Claudia von Salzen vom „Tagesspiegel“ und Christoph Becker von der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und spricht von einer „Schmutzkampagne gegen Aserbaidschan“.

Zum Glück musste sich die Botschaft aber mit ihrer Klage über die böse deutsche Presse nicht allzusehr verausgaben. Ihre Pressemitteilung recycelt in weiten Teilen einfach Versatzstücke aus einer Pressemitteilung, die sie vor drei Jahren vor dem Eurovision Song Contest herausgegeben hat und in der sie über die freie Presse auch schon enttäuscht war.

Pressemitteilung 2015 Pressemitteilung 2012
Die Botschaft der Republik Aserbaidschan nimmt Stellung zu der unberechtigten Kritik an den Europa-Spielen in Baku Aserbaidschanische Botschaft nimmt Stellung zur Kritik in den deutschen Medien
In den vergangenen Wochen hat es in den deutschen Medien eine ganze Reihe von Versuchen gegeben, die Europa-Spiele, die zum ersten Mal in der Sport-Geschichte in diesem Jahr in Aserbaidschan ausgetragen werden, in Misskredit zu bringen. In den vergangenen Wochen sind in den deutschen Medien eine ganze Reihe von Vorwürfen gegen die Republik Aserbaidschan erhoben worden.
Wir laden alle kritischen Journalisten ein, sich ein objektives Bild von Aserbaidschan und der Entwicklung des Landes zu verschaffen und dem deutschen Publikum zu vermitteln. Wir laden alle kritischen Politiker und Journalisten ein, sich ein ehrliches Bild von Aserbaidschan und der Entwicklung des Landes zu verschaffen.
Kritik ist legitim, doch sollte sie auf Fakten beruhen. Einige der Berichte über Aserbaidschan basieren auf falschen oder unvollständigen Informationen. Die Lebensverhältnisse der Menschen in Aserbaidschan haben sich in allen Bereichen verbessert – die positiven Entwicklungen werden aber in vielen Presseberichten mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen kursieren unwahre und irreführende Berichte. Kritik ist legitim, doch sollte sie auf einer guten Informationsgrundlage beruhen. Einige der Berichte über Aserbaidschan, die in den vergangenen Wochen erschienen sind beruhten auf falschen oder unvollständigen Informationen. Ganz bewusst wurde und werden nachweisbar positive Fakten über die verbesserten Lebensverhältnisse der Menschen in Aserbaidschan unterschlagen. Es werden dem gegenüber ausschließlich kritische Stimmen gesammelt.
Von einer freien Presse ist solche unseriöse Herangehensweise sehr enttäuschend. Wir hätten nicht gedacht, dass eine freie Presse so einseitig berichten würde. Wir haben stets Fairness, Objektivität und wahrhaftige Berichterstattung erwartet.
Die Meinungs- und Informationsfreiheit ist in der aserbaidschanischen Verfassung verankert. Neben zahlreichen TV- und Radiosendern gibt es ca. 500 Printmedien im Land, die auf Aserbaidschanisch, Russisch und Englisch veröffentlichen, sowie über 50 Nachrichtenagenturen. Die oppositionellen Zeitungen „Yeni Musavat“ und „Azadliq“ zählen zu den auflagenstärksten Tageszeitungen. Mehr als 70 % der Bevölkerung sind Internet-Nutzer. Es gibt keine Beschränkungen für die Internet-Ressourcen. Die Meinungs- und Informationsfreiheit ist in der aserbaidschanischen Verfassung verankert. Neben zahlreichen TV- und Radiosendern gibt es über 200 Printmedien im Land, die auf Aserbaidschanisch, Russisch und Englisch veröffentlichen, sowie über 50 Nachrichtenagenturen. Ein Teil dieser Medien steht der Opposition nahe und veröffentlicht regierungskritische Artikel. Die auflagenstärkste Tageszeitung ist eine oppositionelle Zeitung. Auch die Nutzung des Internets ist unbegrenzt möglich.
Die Versammlungsfreiheit ist gewährleistet. Alle genehmigten Demonstrationen in Aserbaidschan verlaufen friedlich und ohne Zwischenfälle. Grundsätzlich sind alle friedlichen Formen von Demonstrationen und Versammlungen erlaubt und werden in der Regel genehmigt. Im Jahr 2012 wurden beispielsweise bereits mehrere regierungskritische Demonstrationen zugelassen, die unter anderem auch von oppositionellen Parteien organisiert wurden. Alle diese genehmigten Demonstrationen verliefen friedlich und ohne Zwischenfälle.
Die aserbaidschanische Regierung lässt die Bevölkerung vom wirtschaftlichen Aufschwung des Landes in höchstem Maße profitieren. Dies zeigt sich unter anderem an der Verwendung der Einnahmen Aserbaidschans aus der Öl- und Gasproduktion.. Die aserbaidschanische Regierung strebt an, die Bevölkerung vom wirtschaftlichen Aufschwung des Landes maximal profitieren zu lassen. Dies zeigt sich unter anderem an der Verwendung der Einnahmen Aserbaidschans aus der Öl- und Gasproduktion.
Mit großem Bedauern müssen wir leider feststellen, dass in den meisten Presseberichten keinerlei Proteste gegen die illegale militärische Besetzung von 20 % des aserbaidschanischen Territoriums und dieVertreibung von ca. einer Million Aserbaidschanern durch die Streitkräfte der Republik Armenien zu finden sind. Internationale Proteste gegen die völkerrechtswidrige Besetzung Berg-Karabachs werden in den meisten deutschen Medien schlichtweg ignoriert, selbst die Resolutionen des Deutschen Bundestages vom 04.03.2009 (Drucksache 16/12102) und des Europäischen Parlaments vom 23.10.2013 (Drucksache 2013/2621(RSP)) finden keine Erwähnung. Über die Verletzung der Heimatrechte der eine Million Aserbaidschaner durch Armenien herrscht Schweigen – zugleich werden Aserbaidschan pauschal und wahrheitswidrig Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Mit großem Bedauern und Befremden müssen wir leider auch feststellen, dass weite Teile der Medien in Deutschland, einem Land, das 40 Jahre auf brutale Weise geteilt war, keinerlei Proteste gegen die militärische Besetzung von 20 % des aserbaidschanischen Territoriums in der Region und um die Region Berg-Karabach durch die Republik Armenien erfolgte. Scheinbar achselzuckend wird diese völkerrechtswidrige Maßnahme zur Kenntnis genommen. Es wird zur Kenntnis genommen, dass über eine Millionen Aserbaidschaner vertrieben wurden
Unser Land nimmt die Aufgabe der Austragung der ersten Europa-Spiele sehr ernst und tut alles, um dem Vertrauen und den Erwartungen der europäischen olympischen Gemeinschaft gerecht zu werden. Aserbaidschan wird den europäischen Sport-Fans ein würdiges Sport-Ereignis präsentieren. (…) Wir hoffen auch, durch diesen großen Event Europa unsere Gastfreundschaft und die Kultur unserer säkularen und toleranten Gesellschaft näher zu bringen. Der Eurovision Song Contest ist eine der größten Veranstaltungen, die in Aserbaidschan seit seiner 20-jährigen Unabhängigkeit gefeiert wird. Wir in Aserbaidschan hoffen, dadurch Europa unsere Gastfreundschaft und die Kultur unserer säkularen und toleranten Gesellschaft näher zu bringen.

Die Artikel von Claudia von Salzen und Christoph Becker zum Thema sind übrigens sehr lesenswert. Interessant zum Beispiel, was passiert, wenn eine Gruppe von Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach Aserbaidschan reist. Spoiler: Außer Tabea Rößner von den Grünen sah keiner der Parlamentarier, denen Präsident Alijew eine Audienz gewährte (unbedingt auch das Gruppenfoto ansehen und die Körpersprache beachten), die Notwendigkeit, sich auch abseits des offiziellen Regierungsprogrammes über die Lage im Land zu informieren, auch Johannes Kahrs (SPD) nicht.

Jury aus Aserbaidschan beeindruckt wieder im Synchronabstimmen

Wo gerade wieder über den Unsinn der Jurys beim Eurovision Song Contest diskutiert wird: Die aus Aserbaidschan hat in diesem Jahr wieder eine erstaunliche Leistung in der besonderen Disziplin des Synchronabstimmens erbracht.

Die fünf Juroren, die eigentlich unabhängig voneinander über die Beiträge abstimmen sollen, waren sich in verblüffendem Ausmaß einig, wie jedes der 26 Länder zu bewerten ist. Es gab keinen einzigen Titel, bei dem die Mitglieder der Jury unterschiedlicher Meinung waren, ob er herausragend, unterirdisch oder mittelmäßig war. Es gab keinen einzigen Juror, der mal aus dem Konsens ausbrach und ein Stück gut bewertete, das seine Kollegen schlecht bewerteten.

Das ist bei 26 Titeln schon ein Kunststück.

Nun ist es nicht so, dass die Juroren aus Aserbaidschan allen Titeln dieselbe Punktzahl gaben. Das wäre auch keine gute Idee, denn das drohte wegen des Verdachtes der Manipulation, dass ihr Votum gar nicht gewertet würde. Das ist im vergangenen Jahr in Georgien passiert. (In diesem Jahr annulierte die Eurovision die Voten der Jurys aus Montenegro und Mazedonien.)

Die Juroren aus Aserbaidschan geben allen Titeln nur ungefähr dieselbe Punktzahl. Beim Lied aus Georgien liegt die Spannbreite ihrer Wertungen von Platz 1 bis 5, bei Italien und Slowenien von 2 bis 6, bei Schweden von 6 bis 8, bei Montenegro von 8 bis 11, bei Spanien von 14 bis 16, bei Österreich von 18 bis 20, bei Großbritannien von 22 bis 24.

Lied Juroren Ø σ
Russland 3 4 1 2 1 2,2 1,17
Georgien 1 2 3 4 5 3,0 1,41
Israel 2 6 5 1 4 3,6 1,85
Slowenien 5 3 4 6 2 4,0 1,41
Lettland 7 1 7 3 3 4,2 2,40
Italien 4 5 2 5 6 4,4 1,36
Schweden 6 7 6 7 8 6,8 0,75
Litauen 8 9 10 8 7 8,4 1,02
Montenegro 10 11 8 11 9 9,8 1,17
Ungarn 9 8 11 10 13 10,2 1,72
Estland 12 10 9 9 15 11,0 2,28
Serbien 13 12 13 12 10 12,0 1,10
Rumänien 11 14 12 14 11 12,4 1,36
Albanien 14 13 14 13 12 13,2 0,75
Spanien 16 15 16 16 14 15,4 0,80
Polen 15 16 15 18 16 16,0 1,10
Griechenland 18 18 17 17 17 17,4 0,49
Australien 17 19 19 15 19 17,8 1,60
Belgien 20 17 20 19 18 18,8 1,17
Österreich 19 20 18 20 20 19,4 0,80
Norwegen 21 22 21 22 21 21,4 0,49
Frankreich 22 21 22 21 23 21,8 0,75
Großbritannien 24 23 23 24 22 23,2 0,75
Zypern 23 24 24 23 24 23,6 0,49
Deutschland 25 25 25 25 25 25,0 0,00
Armenien 26 26 26 26 26 26,0 0,00

Votum der 5 aserbaidschanischen Juroren, Durchschnitt (Ø), Standardabweichung (σ).

(Dass alle Juroren Armenien auf den letzten Platz gesetzt haben, ist hingegen so etwas wie traurige staatsbürgerliche Pflicht in Aserbaidschan. Aserbaidschanische Fernsehzuschauer, die vor ein paar Jahren für den Erzfeind abstimmten, bekamen massiven Ärger.)

Dass fünf unterschiedliche Menschen mit ihren 26 Voten so eng beieinander liegen, ist überraschend, wenn sie sich nicht abgesprochen haben oder entsprechend instruiert wurden. Und denselben Effekt gab es in Aserbaidschan auch im vergangenen Jahr schon. Damals war er sogar noch ein bisschen extremer.

Wie sehr das Abstimmungsverhalten in Aserbaidschan – genauer gesagt: die Nähe der Stimmen der einzelnen Juroren zueinander – von dem der anderen Länder abweicht, zeigt sich, wenn man die durchschnittliche Standardabweichung σ bei den 26 Kandidaten mit der der anderen Länder vergleicht. (Die Standardabweichung ist das statistische Maß, das angibt, wie weit die einzelnen Werte im Schnitt vom Mittelwert abweichen. Zur Verdeutlichung: Wenn alle Juroren dieselbe Punktzahl vergeben, ist die Standardabweichung 0. Angenommen, von vier Juroren geben zwei zwei Punkte und zwei vier Punkte, ist der Mittelwert drei Punkte und die Standardabweichung davon 1 Punkt.)

Jury Standard-
abweichung
Aserbaidschan 1,08
Norwegen 2,73
Schweden 2,82
Armenien 2,86
Rumänien 3,04
Serbien 3,05
Österreich 3,10
Niederlande 3,12
Litauen 3,27
Portugal 3,32
Deutschland 3,34
Spanien 3,34
Belgien 3,61
Estland 3,69
Weißrussland 3,71
Island 3,71
Slowenien 3,77
Großbritannien 3,77
Albanien 3,89
Malta 3,98
Schweiz 4,01
Dänemark 4,09
Moldau 4,16
Italien 4,18
Zypern 4,21
Israel 4,26
Polen 4,28
Australien 4,31
Finnland 4,34
Ungarn 4,39
San Marino 4,42
Frankreich 4,45
Tschechien 4,59
Griechenland 4,64
Irland 4,73
Lettland 4,78
Russland 4,96
Georgien 5,10

Übrigens gibt es auch bei der deutschen Jury wieder eine erstaunliche Übereinstimmung: Alle Juroren (die sich, wie gesagt, nicht absprechen dürfen) setzten Lettland an die erste Stelle. Im vergangenen Jahren haben alle damaligen deutschen Juroren den ersten und den zweiten Platz gleich gewählt. Der deutsche Grand-Prix-Chef Thomas Schreiber schert sich traditionell nicht besonders um die Vorgabe, dass die Jury möglichst ausgewogen besetzt sein soll, was Geschlecht, Alter und Hintergrund angeht.

(Hinweis: Eine geringe Standardabweichung beweist nicht, dass das Ergebnis einer Jury in irgendeiner Weise manipuliert wurde. Die statistische Auswertung zeigt nur Auffälligkeiten, vielleicht Indizien. Streng genommen wäre es auch kein Beweis einer Manipulation, wenn alle Juroren eines Landes alle Länder exakt gleich bewertet hätten. Aber doch ein Anlass zum Zweifeln.)

Der aserbaidschanische Regierungssender TV.Berlin

Es tun sich so viele aufregende Dinge in der Hauptstadt, es gibt ambitionierte Bauvorhaben, Reformen in der Verwaltung, große internationale Veranstaltungen, die viele Besucher anziehen. Der lokale Fernsehsender TV.Berlin widmet sich ihnen beispiellos ausführlich – den aufregenden Dingen in der Hauptstadt Aserbaidschans.

Die Homepage von TV.Berlin sieht schon seit Wochen aus, als stünde die Umbenennung in TV.Baku unmittelbar bevor. Prominenter als jedes andere Format wird die vielteilige Reportagereihe beworben, in der der Sender vor den ersten Europäischen Spielen, die hier im Juni stattfinden werden, über Aserbaidschan berichtet.

Es ist, kurz gesagt, ein beneidenswertes Land, geführt von einer großartigen, modernen Regierung, die unter nicht immer ganz leichten Umständen viele gute Dinge tut und an deren Spitze ein weiser Präsident steht. Aber warum sollte man das kurz sagen, wenn es so viele beeindruckende Details gibt, die Freunde der Regierung gern in die Kamera von TV.Berlin sprechen! Und die Menschen auf der Straße in Baku, aber das ist ja letztlich kein Unterschied. Ein älterer Mann sagt gleich in der ersten Folge:

„Es war eine gute politische Entscheidung vom Präsidenten, dass Aserbaidschan die Spiele austrägt. Ich finde, Baku ist eine der schönsten Städte, und ich muss sagen, dass die Regierung in den vergangenen 20 Jahren viel für den Sport und das Land getan hat.“

Sicherheitshalber fragt Aileen Waurick, die junge TV.Berlin-Reporterin aber nochmal bei der Vize-Präsidentin des (angenehmerweise weitgehend oppositionsfreien) aserbaidschanischen Parlamentes nach. Die ist begeistert.

„Selbstverständlich ist Aserbaidschan in der Lage, dieses Sportereignis auszutragen. Nicht umsonst haben wir uns beworben und den Zuschlag erhalten. Und das war nicht unsere Entscheidung, sondern das Europäische Olympische Kommitte hat Aserbaidschan für würdig empfunden und bringt uns das Vertrauen entgegen, die Spiele auszurichten. Deswegen ist es ganz offensichtlich, dass das IOC weiß, wo die Stärken unseres Landes liegen.

Gut, da ließe sich jetzt einiges zu sagen. Andererseits, wenn man schon mal Gelegenheit hat, mit der Vizepräsidentin der aserbaidschanischen Nationalversammlung ein Interview zu führen, drängen sich natürlich andere Fragen auf. Konkret zum Beispiel diese:

Sind Sie denn selbst auch vor Ort und welche Sportarten finden Sie persönlich ganz spannend?

(Sie schaut mal, was ihr Terminkalender zulässt, ist jetzt nicht Fan irgendeiner bestimmten Sportart, hält sich aber selbst mit Fitnessübungen in Form.)

Die TV.Berlin-Reportagen aus Baku sind Werbefilme für das Land und seine Regierung. Mit der Ausrichtung der European Games will sich das neototalitäre Regime der Weltöffentlichkeit in bester Form präsentieren, und diese Filme wirken, als seien sie Teil der Kommunikationsstrategie. Gezeigt wird nicht nur, wie wunderbar das erstaunlich moderne Land die Ausrichtung eines solchen Großereignisses schultert. Eine ganze Folge lang werden die diese fantastischen neuen Bürgerzentren gerühmt, die es im ganzen Land gibt. Blenden wir uns ein in den faszinierenden Bericht über die Asan-Service-Zentren!

„Dieses mal führt uns uns unser Entdeckungsreise direkt in das Zentrum von Baku“, sagt die Sprecherin. „Genauer gesagt in die Heysan-Aliyew-Straße im Westen der Stadt. Unser Ziel: Eines von insgesamt acht Asan-Service-Zentren in Aserbaidschan. Fasst man es mit zwei Worten zusammen, dann trifft es die Bezeichnung ‚Innovatives Bürgerzentrum‘ wohl am besten.“

Früher habe es bei den Behörden im Land häufig Korruption gegeben. Dieser Willkür habe die aserbaidschanischen Regierung vor zwei Jahren ein Ende gesetzt.

TV.Berlin-Reporterin Waurick konfrontiert den Asan-Direktor Inam Kerimov mit der Feststellung, dass das Projekt ja noch neu, aber doch sehr erfolgreich sei. Er kann das sehr bestätigen, zeigt der jungen Reporterin und uns ausführlich alles und erzählt:

Das Asan-Projekt ist Teil eines umfassenden Modernisierungsprozesses, den unser Präsident ins Leben gerufen hat. Selbstverständlich ist ein Ziel, alle negativen Effekte zu eliminieren.

Die Sprecherin ergänzt:

Die Asan-Center in Aserbaidschan sind Bürgerzentren ganz besonderer Art. Zeitraubende Wege zu mehreren Behörden, wie es in Deutschland üblich ist, entfallen. Denn die Zentren bündeln jeweils 30 Dienstleistungen wie die Ausstellung von Dokumenten, Steuer- und Rentenbescheiden unter einem Dach.

Und die Menschen in Aserbaidschan, sind die dankbar für diese Einrichtungen? Und wie!

Wie groß der Zuspruch der Bürger ist, lässt sich an folgender Zahl erkennen: Allein innerhalb des ersten Jahres nahmen eine Million Männer und Frauen den Asan-Service in Anspruch.

Zu dem Erfolg haben auch maßgeblich die vielen ehrenamtlichen Helfer beigetragen. Von 2013 an bis heute unterstützen mehr als 2000 Freiwillige die Bürger in acht Service-Zentren. Eine von ihnen ist Müjgan Haciyeva. Die 23-jährige musste keine Sekunde nachdenken, als sich die Möglichkeit eines Ehrenamtes bot. Sie ergriff die Chance sofort.

Haciyeva sagt dann, wie glücklich sie ist, und dass sie im Anschluss an ihre ehrenamtliche Tätigkeit sehr gern dort …

(Neinnein, bleiben Sie dran, das kann jetzt wirklich nicht mehr lange gehen. Der Mann von der Verwaltung hat schon über elf Minuten am Stück gesprochen, was deutlich mehr ist als die Gesamtlänge der täglichen Nachrichtensendung auf TV.Berlin, jetzt sind wir sicher gleich durch.)

… weiterarbeiten würde. „Denn ich stehe voll hinter dem Asan-Projekt“, sagt sie. „Ja, deshalb wäre es eine Ehre für mich.“

Natürlich gibt es nicht in allen entlegenen Regionen des Landes solche tollen Zentren. Aber dorthin fahren dann Busse, in denen Bürger ebenfalls ihre staatlichen Angelegenheiten erledigen können. „Der mobile Service erfreut sich großer Beliebtheit“, weiß TV.Berlin. Kein Wunder:

Beamter: Hier ist der Vertrag für Sie.
Bürger: Damit ist alles erledigt, ja?
Beamter: Ja, alles fertig. Sie können gehen.

Geschafft.

Folge 4 widmet sich dem Konflikt mit dem Erzfeind Armenien um die umstrittene Region Berg-Karabach und die angrenzenden, von armenischen Truppen besetzten Gebiete Aserbaidschans. TV.Berlin schildert die langjährigen blutigen Auseinandersetzungen sowie die komplexen Hintergründe des verfahrenen Streits ganz aus aserbaidschanischer Sicht. Die Reporterin besucht eine vertriebene aserbaidschanische Familie, die ihr tragisches Schicksal beklagt, aber gleichzeitig auch die Regierung rühmt, sich so gut um sie zu kümmern. Der aserbaidschanische Parlamentsabgeordnete Azay Goliyew, dem TV.Berlin bescheinigt, „um eine friedliche Lösung (des Konfliktes) bemüht“ zu sein, schildert in langen Monologen die Regierungsposition, kritisiert Armenien und die sogenannte Minsk-Gruppe, die sich um eine Vermittlung zwischen den verfeindeten Ländern kümmert. Sicherheitshalber wiederholt auch die stellvertretende Parlamentspräsidentin noch einmal die Position des Regimes, wobei ihr die TV.Berlin-Reporterin zusieht. Andere Positionen und Haltungen zu dem Konflikt kommen nicht vor.

Nun könnte man den Gedanken abwegig finden, dass sich ein Land, das hinter dem Kaukasus liegt, ausgerechnet den Kleinsender TV.Berlin für solche PR-Aktionen aussucht. Andererseits ist Aserbaidschan bekannt dafür, auf vielfältigen Wegen in ganz besonderer Weise in Deutschland und Europa sein Image zu polieren, auch mit Hilfe von PR-Agenturen wie der Berliner Firma Consultum. Und die freundliche Berichterstattung von TV.Berlin ist wiederum Thema in den aserbaidschanischen Medien.

Der Sender interessiert sich auch sonst auffallend für Aserbaidschan. Also, jetzt weniger für das Schicksal von Bürgerrechtlern, die dort eingeschüchtert, verfolgt, verhaftet und verurteilt werden. Sondern eher für die Bodenschätze und die rasant wachsende Wirtschaft. Als im Januar der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew zum Staatsbesuch in der Stadt war und Bundeskanzlerin Angela Merkel traf, war das für TV.Berlin die Aufmachermeldung in den Nachrichten, mit der aufregenden Information:

Beide sprachen über die bilaterale Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Aserbaidschan. Das Gespräch und das gemeinsame Mittagessen verliefen harmonisch.

(Die dpa-Meldung über das Treffen begann mit den Worten: „Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat von Aserbaidschan die Einhaltung der Menschenrechte verlangt. Bei einem Treffen in Berlin erinnerte sie Staatspräsident Ilham Aliyev am Mittwoch daran, dass sich die ehemalige Sowjetrepublik als Mitglied des Europarats auch zum Schutz der Menschenrechte verpflichtet habe. Zudem müssten deutsche Stiftungen und andere Organisationen die Gewissheit haben, dass sie ‚auf sicherem rechtlichen Grund‘ arbeiten können.“)

Im März zeigte TV.Berlin in einem zweiteiligen „Spezial“ lange Ausschnitte aus einem „Symposium“ über „Perspektiven Deutsch-Aserbaidschanischer Zusammenarbeit“, zu dem der aserbaidschanische Botschafter Freunde des Landes geladen hatte.

Mehrere Anfragen bei der Redaktion von TV.Berlin, wer die Filme produziert und finanziert hat und ob es eine Unterstützung zum Beispiel durch die aserbaidschanische Regierung gab, blieben unbeantwortet. Die Sendungen haben keinen Abspann. Der Vorspann besteht aus Bildern, die bereits in einem früheren Dokumentarfilm verwendet wurden. TV.Berlin wird nach diversen Insolvenzen seit 2013 von der Firma Godd Media Broadcast von Seyhan Yigit betrieben.

Ausgewandert, eingesperrt, abgetaucht: Für Kritiker ist in Aserbaidschan kein Platz mehr

Krautreporter

Der Eurovision Song Contest 2012 war eine Gelegenheit für Aserbaidschan, sich der Weltöffentlichkeit in strahlendem Licht zu präsentieren – aber auch für Kritiker, auf Missstände im Land hinzuweisen. Doch alle Hoffnungen auf positive Veränderungen durch die internationale Aufmerksamkeit wurden enttäuscht: Um die Menschenrechte steht es so schlecht wie noch nie.

Der Eurovision Song Contest 2012 war eine Gelegenheit für Aserbaidschan, sich der Weltöffentlichkeit in strahlendem Licht zu präsentieren – aber auch für Kritiker, auf Missstände im Land hinzuweisen. Doch alle Hoffnungen auf positive Veränderungen durch die internationale Aufmerksamkeit wurden enttäuscht: Um die Menschenrechte steht es so schlecht wie noch nie.

Wenn im Juni die ersten European Games in Baku stattfinden, eine europäische Ausgabe der Olympischen Spiele, stehen die Chancen gut, dass sie nicht wie der Eurovision Song Contest (ESC) 2012 von Protesten aserbaidschanischer Bürgerrechtler überschattet werden. Denn die sind inzwischen fast alle im Gefängnis oder untergetaucht. Von den Aktivisten, die ich vor drei Jahren beim Grand Prix in Baku getroffen habe, ist keiner mehr frei.

Ich war damals zweimal vor Ort, um für den „Spiegel“ und ein eigenes Videoblog zu berichten. Ich sah ein Land, dessen Regierung wild entschlossen war, die seltene Gelegenheit zu nutzen, sich der Welt in prächtigster Form zu präsentieren, als wohlhabende, moderne, weltoffene Nation. Den Kritikern, die fragten, ob man einem zweifelhaften Regime eine solche Bühne bieten sollte, hielt die Eurovision als Veranstalterin des Grand-Prix deshalb entgegen:

„Die Regierung von Aserbaidschan ist sich bewusst, dass der ESC in Baku dafür sorgen wird, dass das Land international genauer unter die Lupe genommen wird. Die Veranstaltung könnte daher einen Anlass für Verständnis und Fortschritt bieten.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel zog später indirekt eine positive Bilanz. Im Zusammenhang mit der Diskussion um einen Boykott der Olympischen Winterspiele in Sotchi nannte sie Aserbaidschan vor eineinhalb Jahren als positives Beispiel für die Veränderungen, die ein internationales Großereignis in einem heiklen Land bewirken kann. In Wahrheit steht der Fall Aserbaidschan für das Gegenteil. Die Hoffnung, dass die internationale Aufmerksamkeit nicht nur dem Regime nutzt, das sich der Weltöffentlichkeit im besten Licht präsentiert, sondern auch der Kritik eine Bühne bietet und positiven Wandel bewirken kann, hat sich vollständig als Illusion erwiesen. Die Situation ist sogar schlimmer geworden.

Aserbaidschan ist ein besonderes Land im entferntesten Zipfel von Europa, jenseits des Kaukasus, zwischen Russland und dem Iran. Es ist, trotz fast ausschließlich muslimischer Bevölkerung, ein säkularer Staat. Er orientiert sich nach Westen, verfügt dank Öl über Geld, ist ein begehrter Handelspartner und ein Stabilitätsanker in einer unruhigen Region.

Das mit der Stabilität liegt nicht zuletzt daran, dass Präsident Ilham Alijew alles ausgeschaltet hat, was seine Macht bedrohen könnte, lästige Dinge wie echte Opposition, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Bürgerrechte gibt es auf dem Papier.

“Ich war schon zweimal im Gefängnis, und ich mache jetzt mal eine kleine Pause“, sagt Emin Milli lakonisch. Der Dissident hat das Land verlassen. Von Berlin aus betreibt er seit zwei Jahren das Online- Angebot Meydan.tv, eine alternative Informationsquelle mit Nachrichten aus Aserbaidschan. Im Land selbst könnte er einen solchen Kanal nicht produzieren, sagt er. Meydan.tv wäre illegal, weil es beim Justizministerium registriert werden müsste und man die nötigen Zusagen nicht bekäme.

Der Chef der aserbaidschanischen Präsidialverwaltung hat den Meydan.tv-Machern vorgeworfen, sie wollten „gewaltsam die verfassungsmäßige Ordnung Aserbaidschans umstürzen“. Milli weiß nicht, ob er darüber lachen oder weinen soll, dass das Regime ihn als so großen Feind darstellt – angesichts der winzigen Zahl und der schlechten Ausstattung seiner Helfer im Land. „Ich denke nicht, dass ich das Regime zerstöre“, sagt er.

Was ist das überhaupt für ein System? Eine Diktatur? Ein autoritäres Regime? Milli findet den Begriff „neo-totalitärer Staat“ am treffendsten. Es sei keine reine Diktatur; man könne zum Beispiel gegen die Regierung demonstrieren – weit entfernt von allen Orten, wo man Aufmerksamkeit erregt, als ritualisierter, sinnloser Protest. Ein „ziemlich zivilisiertes, neo-totalitäres Regime“ sei das: Wer zum Beispiel heikle Recherchen über Korruption in der Regierung veröffentlichen will, dem kann es passieren, dass er erst Geld angeboten bekommt, um zu schweigen, und ihm dann erst mit Gefängnis gedroht wird.

Aserbaidschan will beachtet und geliebt werden und gibt viel Geld dafür aus, die Welt zu beeindrucken. Dafür entstehen dort die atemberaubendsten Gebäude. Lobbyisten und willige Politiker in aller Welt sorgen dafür, dass das autoritäre Regime in einem guten Licht dasteht.

Events wie der Eurovision Song Contest, die European Games (für deren Premiere sich außer Baku niemand beworben hatte) und die Olympischen Spiele (um die sich Baku hartnäckig bewirbt), sollen für Aufmerksamkeit und Prestige sorgen.

Sie sind aber natürlich auch eine Gelegenheit, auf die Missstände im Land hinzuweisen, auf politische Gefangene und die Willkür der Justiz. Im Umfeld des Eurovision Song Contest mühten sich die einheimischen Bürgerrechtler, unterstützt durch Organisationen wie Human Rights Watch, nach Kräften. Sie luden zu Pressekonferenzen, gaben Interviews, organisierten Demonstrationen und versuchten (letztlich vergeblich), unter dem Namen „Sing for Democracy“ ein Konzert auf die Beine zu stellen.

Es wirkte manchmal rührend bemüht, wie sie das Interesse der anwesenden Journalisten gewinnen wollten und sich lautstark in Hotel-Konferenzräumen mit Vertretern der Regierung stritten. Es war ganz offenkundig keine Massenbewegung.

Wenn Emin Milli zu internationalen Konferenzen zum Thema Pressefreiheit geht, hat er immer Probleme, Interesse für sein Land zu wecken: „Die Tragödie ist nicht groß genug. In Usbekistan gibt es über 10.000 politische Gefangene; in Aserbaidschan 100. Niemand stirbt auf der Straße. Seit 2005 gab es nur zwei Fälle, wo Oppositionelle ermordet wurden.“

Es wäre leicht, daraus zu schließen, dass die Situation in Aserbaidschan nicht so schlimm ist. Es ist andererseits Ausdruck davon, wie gut die Diktatur funktioniert. Das System der Angst ist so perfekt und die Herrschaft des Regimes wirkt so alternativlos, dass es gar keinen großen Widerstand mehr gibt, der niedergeschlagen werden müsste.

Es herrscht weicher Autoritarismus statt brutaler Unterdrückung. Dafür genügt es, gelegentlich ein Exempel zu statuieren, wie 2009 an Emin Milli. Er hatte mit einem Freund ein satirisches Video gedreht. Wenig später wurden beide von Fremden angepöbelt und daraufhin wegen Hooliganismus verhaftet und verurteilt. Ein Berater des früheren Präsidenten Heydar Alijew (dem Vater des heutigen Präsidenten) sagte der „New York Times“: „Das mag Ihnen absurd erscheinen, uns aber sehr vernünftig. Wenn zwei Blogger auf diese Weise bestraft werden, gibt es keinen dritten.“

Milli beschreibt, dass der Druck auf Kritiker oft auch über den Umweg von Freunden oder Familienangehörigen passiert. Nicht der Aktivist selbst gerät ins Visier der Behörden, sondern seine Verwandten bekommen Probleme zum Beispiel am Arbeitsplatz – und drängen ihn

dann, mit der unerwünschten Aktivität aufzuhören, um ihnen das Leben nicht so schwer zu machen, werfen ihm Egoismus und Verantwortungslosigkeit vor, weil er nicht an die Konsequenzen für seine Familie denkt. Manchmal muss der Staat selbst überhaupt nicht tätig werden, die Furcht davor reicht aus; die Gesellschaft organisiert den Druck auf die Abweichler alleine.

Das kleine Grüppchen von Aktivisten, die sich nicht einschüchtern ließen und den Eurovision Song Contest nutzten, um auf die demokratischen Defizite hinter der Glitzerfassade hinzuweisen, stellte eigentlich keine große Bedrohung für das System dar. Aber schon während der Veranstaltung sagten Experten voraus, dass sich das Regime hinterher, wenn die ausländischen Journalisten wieder abgereist sind, an diesen Leuten rächen würde.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch legte im Sommer 2013 einen Bericht vor, in dem sie feststellte:

„Seit einigen Jahren schon macht Aserbaidschan Rückschritte in Sachen Meinungs-, Versammlungs– und Vereinigungs-Freiheit, aber seit Mitte 2012 ist die Lage dramatisch schlechter geworden. Seitdem bemüht sich die Regierung gezielt, oppositionelle Aktivitäten einzudämmen, öffentliche Korruptionsvorwürfe und andere Kritik an der Regierung zu bestrafen und Nichtregierungsorganisationen stärker zu kontrollieren.“

Im vergangenen Jahr wurde es noch schlimmer. Ein prominenter Bürgerrechtler nach dem anderen wurde unter dubiosen Anschuldigungen verhaftet, wie Amnesty International dokumentiert:

  • Khadija Ismayilova, eine bekannte investigative Journalistin, die mit ihren Recherchen immer wieder dubiose Geschäfte der Präsidentenfamilie enthüllt hat.
  • Leila Junus, eine zähe, kleine Frau, die ich in Baku mehrmals getroffen habe und die seit vielen Jahren unermüdlich die Rechtsverstöße des Regimes anprangert und für einen Dialog mit dem verfeindeten Armenien wirbt. Sie ist nach Angaben ihrer Tochter sehr krank.
  • Auch ihr Mann Arif kam ins Gefängnis.
  • Intigam Alijew, Chef der Organisation „Legal Education Society“, die rechtliche Unterstützung für unterprivilegierte Gruppen organisiert.
  • Rasul Jafarow, der vor dem Eurovision Song Contest die Kampagne „Sing for Democracy“ ins Leben gerufen hat.
  • Der Menschenrechtler Emin Husejnow, der während des Eurovision Song Contest einer der sichtbarsten Wortführer der Bürgerrechtler war, musste damit rechnen, ebenfalls verhaftet zu werden, und tauchte im August 2014 unter. Das Schweizer Fernsehen enthüllte im Februar, dass er in die Schweizer Botschaft in Baku geflohen ist.

60 unabhängige Nichtregierungsorganisationen seien 2014 de facto geschlossen worden, sagt Emin Milli, ihre Bankkonten eingefroren. „Es gibt eine Null-Toleranz-Politik gegenüber jeder Art von Selbstorganisation.“ So schlimm wie heute sei es noch nie gewesen.

Celia Davies, eine englische Helferin, die ich 2012 bei Emin Husejnows Institute for Reporters‘ Freedom and Safety IRFS in Baku getroffen habe, beschreibt, wie sich die Lage seitdem verändert hat:

„Als ich im Herbst 2012 wegging, waren wir eine Organisation von 30 Leuten, mit einer Gruppe von Journalisten, die Inhalte für einen Online- Kanal produzierte, örtliche Journalisten ausbildete und internationale Menschenrechts-Kampagnen organisiert. Jetzt sind zwei Leute übrig: ein Anwalt und ein Übersetzter, 24 beziehungsweise 23 Jahre alt. Sie arbeiten von zu Hause, weil das Büro versiegelt ist. Sie benutzen ihre eigenen Computer, weil die ganze Ausrüstung bei einer Polizeidurchsuchung beschlagnahmt wurde. Sie arbeiten unentgeltlich, weil das Bankkonto der Organisation eingefroren wurde.“

Ende vergangenen Jahres haben die aserbaidschanischen Behörden auch das Büro von Radio Liberty in Baku durchsucht und geschlossen und Mitarbeiter festgenommen.

Warum geht der aserbaidschanische Staat so rigoros gegen seine Kritiker vor – wenn die ihm nicht einmal wirklich gefährlich werden konnten? „Ich glaube, jede Maschine hat ihre eigene Logik“, sagt Emin Milli. „Es muss einfach jemand verhaftet werden, denn der Sicherheitsapparat muss Berichte schreiben, muss sich rechtfertigen, muss zeigen, dass er noch gebraucht wird.“

Vor allem aber müsse die Angst in der Gesellschaft erhalten bleiben. „Wenn Leute gegen das Regime arbeiten können und keine Konsequenzen erfahren, kann es ganz schnell gehen, dass solche Regime kaputtgehen“, sagt Milli. „Die Gewalt als Routine muss immer da sein.“

Er vergleicht den Umgang der Regierung mit den Bürgerrechtlern mit dem mit einer lästigen Mücke. „Du kannst sie tolerieren, denn sie ändert nichts an deinem Leben. Aber sie stört halt. Und dann willst du, dass sie weg ist. Das ist netter.“

Das rigorose Vorgehen gegen die Bürgerrechtler im Land zeigt aber auch, dass die Regierung nicht mehr glaubt, einen Anschein wahren zu müssen. Die Kampagne gegen die Opposition im vergangenen Jahr fiel in die Zeit, als Aserbaidschan den Vorsitz im Ministerkomitee des Europarates hatte. Der Europarat fühlt sich eigentlich ausdrücklich dem Einsatz für Menschenrechte, demokratische Grundsätze und rechtsstaatliche Prinzipien verpflichtet.

Für Aserbaidschan offenbar kein Anlass, zumindest so etwas guten Willen zu demonstrieren – im Gegenteil. Allerdings hat das Land das Gremium nach Ansicht von Kritikern ohnehin längst von innen ausgehöhlt, wie Emin Milli meint – und zwar dadurch, dass es die entscheidenden Leute im Europarat kaufte – durch Einladungen nach

Auch die internationale Aufmerksamkeit, die jetzt mit den European Games verbunden ist, scheint Aserbaidschan nicht zu fürchten. Womöglich würde es einen besseren Eindruck machen, wenn nicht fast die ganzen bekannten Kämpfer für Menschenrechte im Land verhaftet, verurteilt oder abgetaucht wären. Womöglich klängen dann auch die Appelle von Amnesty International, Human Rights Watch und ähnlichen Organisationen nicht ganz so dringlich. Aber womöglich ist es der Weltöffentlichkeit auch einfach: egal.

In den vergangenen zwei Wochen sind Rasul Jafarow und Intigam Alijew zu rund siebenjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Christoph Strässer, der Menschenrechts-Beauftragte der Bundesregierung, nennt die Urteile „unverhältnismäßig hart“. Die Prozesse seien nach Ansicht aller unabhängigen Beobachter von schweren Verfahrensfehlern gekennzeichnet gewesen.

„Es ist gut, wählen zu können“, sagte Anke Engelke während der Punkte-Bekanntgabe beim Grand Prix. „Und es ist gut, eine Wahl zu haben. Viel Glück auf Deiner Reise, Aserbaidschan! Europa beobachtet Dich!“

Auch das war natürlich eine Illusion.

Jury aus Aserbaidschan wird zweiter Sieger im Synchron-Abstimmen

Alle fünf Juroren aus Georgien haben beim Eurovision Song Contest am Samstag ihre Punkte für die ersten acht Plätze exakt gleich vergeben. Ihre Wertung wurde deshalb annulliert; Georgien droht eine mehrjährige Sperre.

Man sollte die georgische Jury aber eigentlich nicht wegen des Verdachts auf unerlaubte Absprachen disqualifizieren. Sondern wegen erwiesener Dummheit. So blöd muss man erstmal sein, das abgesprochene/erwünschte/gekaufte Ergebnis nicht ein bisschen zwischen den einzelnen Juroren zu variieren, damit es nicht so auffällt.

Die Jury aus Aserbaidschan hat das besser gemacht. Ihre fünf Juroren haben nicht exakt gleich abgestimmt. Sie haben nur fast gleich abgestimmt. Ihr Votum ist nicht identisch, aber in einem solchen Maße ähnlich, dass ich mir schwer vorstellen kann, dass es dabei mit rechten Dingen zugegangen ist.

Aufgabe der Juroren ist es, einzeln, ohne Absprachen, 25 Titel in eine Reihenfolge zu bringen. Vielleicht haben Sie das selbst mal beim ESC versucht. Es ist gar nicht so leicht. Man kann sich mit sich selbst ganz gut auf eine Handvoll Favoriten einigen. Und man findet schnell auch Kandidaten, die man problemlos auf den letzten Platz einsortiert, den vorletzten und vielleicht auf den vorvorletzen.

Es ist aber gar nicht so leicht, für sich selbst zu unterscheiden, wer auf den elften Platz gehört und wer auf den zwanzigsten. Ich würde wetten, dass es den meisten von uns nicht gelänge, das eigene Abstimmungsergebnis am nächsten Tag von 1 bis 25 zu wiederholen, weil so viel in der Mitte willkürlich, zufällig, erratisch war.

Mit anderen Worten: Es ist extrem unwahrscheinlich, dass fünf Juroren sämtliche 25 Plätze mit nur minimalsten Abweichungen gleich sortieren, selbst wenn diese Juroren denselben Geschmack hätten, denselben fachlichen Hintergrund, dieselben politischen Abneigungen.

Dass alle fünf Juroren Armenien auf den letzten Platz gesetzt haben, ist kein Grund, Verdacht zu schöpfen, sondern Ausdruck der politischen Realität in Aserbaidschan. Dass alle Conchita Wurst doof fanden und auf den 23. oder 24. Platz setzen, finde ich auch nachvollziehbar. Und warum sollte es nicht weitgehende Übereinstimmung geben, dass Russland und Weißrussland besser waren als der Rest?

Nein, der Grund, das aserbaidschanische Jury-Urteil anzuzweifeln, ist die frappierende Übereinstimmung in dem ganzen Bereich dazwischen. Die Abweichungen sind minimal. In keinem einzelnen Fall wich das Urteil eines einzelnen Jurors über einen Beitrag mehr als zwei Punkte von dem gemeinsamen Durchschnitt ab. Es gab keinen einzigen Juror, der auch nur ein einziges Lied, gegen den Trend, besonders toll oder misslungen oder mittel fand.

Wenn man einer Jury sagen würde, welche Platzierung gewünscht ist, sie aber aufforderte, ein bisschen zu variieren, damit es nicht auffällt, käme eine Verteilung wie in diesem Jahr in Aserbaidschan heraus. (Was natürlich kein Beweis dafür ist, dass es so war.)

Die folgende Tabelle zeigt das Abstimmungsverhalten der fünf aserbaidschanischen Juroren. Dahinter steht die resultierende Jurywertung (also der Durchschnitt). In der letzten Spalte habe ich die Standardabweichung σ ausgerechnet. Sie ist ein statistisches Maß, das angibt, wie weit die einzelnen Werte im Durchschnitt vom Mittelwert abweichen. (Zur Verdeutlichung: Wenn alle Juroren dieselbe Punktzahl vergeben, ist die Standardabweichung 0. Angenommen, von vier Juroren geben zwei einem Beitrag zwei Punkte und zwei vier Punkte, ist der Mittelwert drei Punkte und die Standardabweichung davon 1 Punkt.)

Jury-Votum Aserbaidschan:

Juror A Juror B Juror C Juror D Juror E Ø σ
Russland 1 3 1 1 2 1 0,8
Weißrussland 3 2 3 4 1 2 1,0
Ungarn 2 1 4 3 4 3 1,2
Rumänien 5 6 2 2 3 4 1,6
Griechenland 4 4 6 5 7 5 1,2
Ukraine 6 5 5 7 6 6 0,7
Italien 8 7 9 6 5 7 1,4
Malta 7 9 7 8 9 8 0,9
Slowenien 11 8 8 10 8 9 1,3
Montenegro 9 11 10 9 10 10 0,7
Polen 10 10 12 11 12 11 0,9
Spanien 12 13 11 14 11 12 1,2
San Marino 13 14 13 12 13 13 0,6
Frankreich 15 12 15 13 14 14 1,2
Finnland 14 15 14 15 16 15 0,7
UK 16 17 16 16 15 16 0,6
Dänemark 17 16 18 17 17 17 0,6
Island 19 18 17 19 19 18 0,8
Niederlande 18 19 19 18 20 19 0,7
Norwegen 20 21 20 20 18 20 1,0
Schweiz 21 20 21 22 21 21 0,6
Deutschland 23 22 22 21 22 22 0,6
Schweden 22 23 24 23 24 23 0,7
Österreich 24 24 23 24 23 24 0,5
Armenien 25 25 25 25 25 25 0,0

Die größte Streuung ist bei Rumänien. Hier liegt das beste Einzelvotum um vier Plätze über dem schlechtesten. In allen anderen Fällen umfasst die Bandbreite höchstens drei Plätze, meistens liegen die Juroren nur ein oder zwei Plätze auseinander. Bei Armenien sind sie sich natürlich einig.

Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass ein solches Abstimmungsergebnis zufällig zustande kommt, selbst wenn die Juroren ganz ähnliche Vorlieben haben. Es würde nicht nur bedeuten, dass sich die Juroren extrem einig sind in ihren Geschmäckern, sondern dass sie es schaffen, zwischen, sagen wir, Platz 13 und Platz 20 zu differenzieren. Norwegen auf Platz 20 fand niemand in der aserbaischanischen Jury besser als Platz 18 und niemand schlechter als Platz 21. San Marino auf Platz 13 fand niemand in der aserbaischanischen Jury besser als Platz 12 und niemand schlechter als Platz 14. Das lässt sich durch alle Plätze durchdeklinieren.

Die durchschnittliche Standardabweichung bei der Jury aus Aserbaidschan beträgt 0,9. Zum Vergleich: Bei der Jury aus Österreich beträgt sie 5,0; bei Großbritannien 4,7; bei Russland 3,1. Selbst bei der deutschen Jury, die sich ja, zum Beispiel was Platz 1 (Dänemark) und Platz 2 (Niederlande) angeht, frappierend einig war, beträgt die durchschnittliche Standardabweichung 2,8.

Wenn Jurys beim ESC nicht nur wegen erwiesener Dummheit, sondern auch wegen des Verdachts auf Absprachen und Manipulation disqualifiziert werden können — es gäbe im Jury-Urteil aus Aserbaidschan viele Anhaltspunkte dafür.

Merkels Aserbaidschan

Vor zwei Wochen berichtete der „Spiegel“:

Kanzlerin Angela Merkel lehnt einen Boykott der Olympischen Winterspiele in Sotschi wegen der Diskriminierung Homosexueller in Russland ab. Während der Veranstaltung im kommenden Februar sei die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Situation in Russland gerichtet, hieß es im Kanzleramt. Dies könne eher Veränderungen bewirken als ein Boykott, wie sich auch beim Eurovision Song Contest im vergangenen Jahr in Aserbaidschan gezeigt habe.

Vor zwei Tagen veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) einen Bericht über die Entwicklung in Aserbaidschan in den vergangenen eineinhalb Jahren. Er trägt den Titel „Tightening the Screws“ — die Schrauben anziehen.

Darin heißt es:

Seit einigen Jahren schon macht Aserbaidschan Rückschritte in Sachen Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungs-Freiheit, aber seit Mitte 2012 ist die Lage dramatisch schlechter geworden. Seitdem bemüht sich die Regierung gezielt, oppositionelle Aktivitäten einzudämmen, öffentliche Korruptionsvorwürfe und andere Kritik an der Regierung zu bestrafen und Nichtregierungsorganisationen stärker zu kontrollieren.

Nach den Angaben von HRW hat die Regierung

  • Dutzende Aktivisten unter fabrizierten Strafvorwürfen festgenommen und inhaftiert,
  • Gesetze verschärft,
  • öffentliche Demonstrationen in der Hauptstadt konsequent aufgelöst
  • und nicht versucht, die Täter zu ermitteln, die kritische Journalisten gewalttätig angegriffen und verleumdet haben.

Das schärfere Vorgehen der Behörden begann Anfang 2011, kurz nach den Aufständen in Arabien, als Jugendgruppen in Aserbaidschan versuchten, Proteste in Baku zu organisieren. Mitte 2012 wurde der Kurs weiter verschärft, offenkundig wegen der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im Oktober 2013.

Die aserbaidschanische Regierung hat eine lange Tradition, Kritiker mithilfe falscher Anschuldigungen ins Gefängnis zu bringen und friedliche Demonstrationen mit Gewalt aufzulösen. Die Zahl der Verhaftungen in jüngerer Zeit sowie das massive Vorgehen, mit dem Protestkundgebungen verhindert oder aufgelöst werden, deutet nach Ansicht von Human Rights Watch aber darauf hin, dass die Regierung jetzt kalkuliert mit besonderer Energie gegen Oppositionelle und Bürgerrechtler im Land vorgeht.

Auf der Grundlage von zahlreichen Interviews dokumentiert der Bericht im Einzelnen 39 Fälle von Menschen, die festgenommen, angeklagt, verurteilt oder bedrängt wurden. HRW schreibt:

Dieses harsche Vorgehen zielt besonders auf junge, politisch aktive Menschen ab. So wurden beispielsweise im März und April 2013 sieben Mitglieder der Jugendbewegung NIDA (dt. „Ausrufezeichen“) verhaftet. Alle sieben waren aktive Facebook- und Twitter-Nutzer, die vielfach Meldungen über vermeintliche Fälle von Korruption innerhalb der Regierung und Menschenrechtsverletzungen veröffentlicht hatten. Die Behörden behaupteten, die Festgenommenen hätten den Plan gehegt, Teilnehmer an friedlichen Demonstrationen zur Gewalt anzustiften.

Unter den Festgenommenen und Inhaftierten sind zudem mindestens sechs Journalisten, zwei Menschenrechtsaktivisten, die Hilfe für Flutopfer ermöglichen wollten, sowie ein Rechtsanwalt, der sich für die Entschädigungen von Menschen einsetzte, deren Wohnungen und Häuser zwangsgeräumt worden waren.

Die Behörden bedienten sich einer Reihe erfundener Vorwürfe, darunter Waffenbesitz oder Besitz von Betäubungsmitteln, Rowdytum, Aufhetzung und Landesverrat, um sich der Kritiker zu entledigen.

Regierungskritiker klagen, dass sie im Polizeigewahrsam verletzt wurden — die Behörden gehen den Vorwürfen nicht nach. Beschuldigte dürfen zeitweise nicht mit einem Verteidiger ihrer Wahl sprechen und müssen offenbar grundlos in Untersuchungshaft. In erstaunlicher Zahl scheinen bei politisch lästigen Menschen plötzlich Drogen gefunden zu werden. Kritische Journalisten werden aufgrund von fadenscheinigen Anschuldigungen zu Haftstrafen verurteilt.

HRW-Vize-Direktorin Rachel Denber, die ich auch in Baku getroffen habe, sagt, die aserbaidschanische Regierung habe unmittelbar nach dem Eurovision Song Contest begonnen, verschärft gegen Oppositionelle vorzugehen, und seitdem nicht mehr aufgehört. Im Frühjahr und Sommer dieses Jahres habe sich die Situation eindeutig verschärft. „In den vergangenen 18 Monaten haben die Behörden mindestens 22 politische Aktivisten, Journalisten und Menschenrechtler verhaftet oder verurteilt, andere ernsthaft bedroht und für schlimmste Schmierkampagnen gegen bekannte investigative Journalisten gesorgt.“

Angela Merkel sagt, Aserbaidschan sei ein positives Beispiel für die Veränderungen, die ein internationales Großereignis wie der Eurovision Song Contest oder die Olympischen Spiele bewirken kann, wenn man teilnimmt anstatt sie zu boykottieren. Sie verrät damit gleichzeitig die bedrängten Menschenrechtsaktivisten in Aserbaidschan und die verfolgten Homosexuellen in Russland.

Aserbaidschan und die Pflicht zu hassen

Keine guten Nachrichten aus Aserbaidschan.

Der aserbaidschanische Schriftsteller Akram Ajlisli hat Ende vergangenen Jahres in einer russischsprachigen Zeitschrift die Novelle „Steinträume“ veröffentlicht. Sie spielt während der anti-armenischen Pogrome in Aserbaidschan zum Ende der Sowjetunion und schildert, wie zwei aserbaidschanische Männer versuchen, ihren armenischen Nachbarn zu schützen.

Armenien ist der Erzfeind Aserbaidschans und hält nach dem Krieg vor 20 Jahren die Region Bergkarabach besetzt. Eine freundliche Darstellung von Armeniern ist in Aserbaidschan eine Unmöglichkeit.

Ajlisli sagt, er hätte damit gerechnet, dass sein Werk Aufregung provozieren würde, aber die Heftigkeit des Aufruhrs habe ihn schockiert. Vor seinem Haus versammelte sich ein Mob, rief Beschimpfungen und verbrannte sein Portrait. Ein Präsidentschaftskandidat setzte eine Belohnung von umgerechnet 10.000 Euro aus für jeden, der Ajlislis Ohr abschneidet. Während einer Debatte im Parlament empfahl einer der Abgeordneten, ihm seine Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Der hochrangige Regierungsvertreter Ali Hasanov forderte das aserbaidschanische Volk auf, „öffentlich Hass“ gegenüber Leuten wie Ajlisli kundzutun.

Präsident Alijew erkannte Ajlisli Ehrenpreise, Staatsrente und den Titel des Volksschriftstellers ab. Seine Frau und sein Sohn verloren ihre Stellen. Die Bürgerrechtskämpferin Leyla Yunus spricht von einer „stalinistischen Reaktion“ der autoritären Regierung.

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Der aserbaidschanische Blogger Emin Milli ist heute nach zwei Wochen Arrest freigekommen. Er war wie zahlreiche andere Bürgerrechtler und Oppositionelle bei einer unangemeldeten Demonstration in Baku festgenommen worden. Andere, wie die Enthüllungsjournalistin Khadija Ismailowa, wurden zu Geldstrafen verurteilt.

Milli war 2009 international bekannt geworden, als das Regime gegen ihn vorging, nachdem er mit einem Freund ein satirisches Video über die Korruption von Politikern gedreht hatte. Er war trotz internationale Proteste aufgrund einer höchst zweifelhaften Anklage zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Anlässlich des Internet Governance Forums, das Ende vergangenen Jahres in Baku stattfand, hatte er einen offenen Brief an Präsidenten Alijew geschrieben und die „Gesellschaft der Angst“ in seiner Heimt beklagt.

Die Proteste gegen die Regierung haben in den vergangenen Wochen zugenommen; die Härte, mit denen der Staat dagegen vorgeht, und die Schikanen, denen sich Bürgerrechtsorganisationen ausgesetzt sehen, ebenfalls.

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Das aserbaidschanische Regime hat Freunde in Deutschland, und einer der prominentesten ist die große moralische Autorität der FDP, Hans-Dietrich Genscher. Der ehemalige Außenminister ist Ehrenvorsitzender im Beirat der Agentur Consultum Communications des früheren „Bild“-Journalisten Hans-Erich Bilges, die, wie es der „Spiegel“ formuliert, „undemokratischen Regierungen bei der Imagepflege hilft“. Zu den Kunden gehören oder gehörten neben Ländern wie Kasachstan und Weißrussland auch Aserbaidschan, und Genscher hilft, das Prestige der dortigen Machthaber zu heben.

Als Bilges eine große Feier zum 20-jährigen Unabhängigkeitstag Aserbaidschans in Berlin organisierte, kam neben der damaligen Bundespräsidentengattin Bettina Wulff auch Genscher.

Gleich zweimal reiste Genscher in den vergangenen Jahren auch nach Baku, um Präsident Alijew zu treffen: im November 2010 und im Juni 2012. Laut aserbaidschanischer Regierung lobte der FDP-Ehrenvorsitzende dabei den rasanten Entwicklungsfortschritt des Landes und sagte, Deutschland wolle die Zusammenarbeit mit Aserbaidschan auf allen Gebieten ausbauen. Auch am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz traf sich Genscher im vergangenen Jahr mit dem aserbaidschanischen Präsidenten.

Eine Anfrage vom mir im vergangenen Sommer, was die Absicht des damaligen Treffens mit Alijew war, wer die Mitglieder seiner Delegation waren und ob es einen Zusammenhang mit den Aktivitäten von Consultum gebe, ließ das Büro Genschers unbeantwortet.

Ein aserbaidschanischer Held

Am 18. Februar 2004 kauft sich der aserbaidschanische Soldat Ramil Safarov eine Axt. Er ist mit Militärangehörigen aus anderen Ländern in Budapest, um an einem Nato-Fortbildungsprogramm teilzunehmen. In der übernächsten Nacht nimmt er die Axt, geht ins Zimmer eines schlafenden Teilnehmers aus dem verfeindeten Nachbarland Armenien und erschlägt ihn im Schlaf. Die Obduktion wird ergeben, dass er ihn sechzehn Mal im Gesicht trifft und den Kopf fast vom Rumpf trennt.

Danach macht sich Safarov auf den Weg, einen weiteren armenischen Soldaten im Gebäude zu töten. Bevor er in dessen Zimmer eindringen kann, wird er von der Polizei verhaftet.

Ein ungarisches Gericht verurteilte Safarov 2006 zu lebenslänglicher Haft. Frühestens 2036 sollte er begnadigt werden können. Der Richter begründete das Urteil mit der Brutalität der Tat und dem Fehlen jeder Reue.

Am vergangenen Freitag wurde Safarov von Ungarn nach Aserbaidschan ausgeliefert. Nach Angaben der ungarischen Regierung hatte ihr das aserbaidschanische Regime zugesichert, dass Safarov den Rest seiner Strafe würde verbüßen müssen.

Unmittelbar nach seiner Ankunft in Baku begnadigte Präsident Ilham Aliyev den Mörder. Er wurde von jubelnden Menschen empfangen und als Volksheld gefeiert. Das Regime in Baku hatte Safarovs Taten nie verurteilt und Medien und Organisationen im eigenen Land ermuntert, ihn als prominente Persönlichkeit zu behandeln.

Safarov besuchte nach seiner Rückkehr ins Land die Märtyrer-Allee und legte Blumen am Grab von Heydar Aliyev nieder. Der aserbaidschanische Verteidigungsminister stellte ihm kostenlos eine Wohnung zur Verfügung, zahlte ihm den in den vergangenen acht Jahren entgangenen Lohn nach und beförderte ihn in den Rang eines Majors.

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Es kommt mir im Nachhinein so naiv vor, dass wir im Mai beim Eurovision Song Contest annahmen, dass in einer Disco, die Teil des offiziellen Programms war, Musik aus Armenien gespielt werden könnte. Mir erscheint aber auch der Gedanke absurd, dass eine armenische Delegation in diesem politischen Klima in diesem Land an dem Grand-Prix hätte teilnehmen können.

Es stimmt: Das aserbaidschanische Regime hatte dem Veranstalter, der European Broadcasting Union (EBU) versprochen, dass sie für die Sicherheit der Delegationen bürge. Aber vermutlich wusste es damals schon, dass man dieser Organisation folgenlos alles versprechen konnte.

Ende Mai ist ein norwegischer Reporter, der sich am Rande des ESC über die politische Situation im Lande lustig gemacht hatte, bei der Ausreise am Flughafen eine Stunde lang festgehalten, bedroht und misshandelt worden. Auch das widersprach den Garantien, die Aserbaidschan der EBU gegeben hatte. Die angeblich laufende „Untersuchung“ des Vorfalls durch die EBU ist bis heute, über ein Vierteljahr danach, zu keinem Ergebnis gekommen.

Aserbaidschan: Kritischer Journalist als „Hooligan“ verhaftet


Mehman Huseynov. Foto: Emin Huseynov

Die Nachricht aus Aserbaidschan ist schlecht, aber keine Überraschung: Der 23-jährige Journalist und Fotograf Mehman Huseynov ist gestern abend verhaftet worden. Nach Angaben des Instituts für die Freiheit und Sicherheit von Reportern (IRFS), für das er gearbeitet hat, wird ihm Hooliganismus vorgeworfen. Anlass (oder Vorwand) sei eine Auseinandersetzung mit Polizisten am Rande einer Demonstration vor dem Büro des Bürgermeisters am 21. Mai, in der Woche des Eurovision Song Contest. Die Polizisten hatte die Proteste mit Gewalt aufgelöst und war auch gegen Berichterstatter vorgegangen.

Laut IRFS war Huseynov bereits im März von den Behörden verhört worden. Die Beamten hätten ihm geraten, weniger aktiv zu sein. Auch die beiden Blogger Emin Milli und Adnan Hajizade, die es gewagt hatten, sich mit einem satirischen Video über Korruption in der Verwaltung lustig zu machen, waren vor drei Jahren wegen Hooliganismus verurteilt worden.

Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ teilte mit, sie halte die Vorwürfe gegen ihn für politisch motiviert und vermute, er solle für seine kritischen Berichte vor dem Grand-Prix bestraft werden. Mehman ist der jüngere Bruder von Emin Huseynov, einem der beiden Haupt-Organisatoren der Kampagne „Sing for Democracy“. Auch Mehman selbst war ein sehr sichtbarer Teil der Bürgerrechtsbewegung. Am Abend, an dem in notgedrungen kleinem Rahmen das Konzert von „Sing for Democracy“ stattfand, hüpfte er mit seiner Kamera quirlig und glücklich durch den Saal.

In den Wochen vor dem Grand-Prix ist er unter anderem von stern.de und dem NDR-Medienmagazin „Zapp“ vorgestellt worden.

Nachtrag, 21:50 Uhr. Mehman scheint wieder auf freiem Fuß zu sein.

© 2024 Stefan Niggemeier