Die Winterkatastrophe der ARD

Es gibt Tage, da ist die Nachrichtenlage so krass, dass nur eine Organisation wie die ARD mit ihrer föderalen Struktur und ihrer Informationskompetenz ihr angemessen Herr werden kann.

Gestern war so ein Tag, wo einiges zusammen kam. Gestern war es nämlich ganz schön kalt in Deutschland, weshalb das Erste sein Programm änderte und um 20.15 Uhr, nach der „Tagesschau“, einen „Brennpunkt“ sendete. Es war aber auch in Hessen ganz schön kalt, weshalb das Hessen-Fernsehen sein Programm änderte und um 20.15 Uhr, nach der „Tagesschau“, ein „Hessen-Extra“ sendete. Und zu allem Überfluss war es auch in Nordrhein-Westfalen ganz schön kalt, weshalb der WDR sein Programm änderte und um 20.15 Uhr, nach der „Tagesschau“, ein „WDR-Extra“ sendete. (In Berlin und Brandenburg war es zwar auch ganz schön kalt, aber der RBB ließ sich aus irgendwelchen Gründen Zeit bis 21 Uhr, bis er sein Programm änderte und ein „RBB-Spezial“ sendete.)

Der „Brennpunkt“ im Ersten kam vom MDR. Wahrscheinlich weil in seinem Sendegebiet der Ort Oderwitz liegt, in dem es noch kälter war als an all den anderen schon ganz schön kalten Orten. Eventuell aber auch nur, weil der ehemalige ZDF- und Sat.1-Nachrichtenmann Thomas Kausch endlich auch mal einen „Brennpunkt“ moderieren wollte. (Womöglich gab es sogar einen ARD-internen Losentscheid oder eine Kampfabstimmung und der WDR und der HR haben einfach bockig ihre eigenen Sendungen ausgestrahlt, obwohl sie unterlegen waren.)

Eigentlich müsste Radio Bremen noch gute Karten gehabt haben müssen, den „Brennpunkt“ veranstalten zu dürfen, denn die dortige Müllabfuhr meldete, dass der Müll in den Tonnen festfriere, was sich als die dramatischste Nachricht dieser Sondersendung herausstellte.

Aus Dippoldiswalde, wo es auch ganz schön kalt war, vermeldete ein Reporter: „Auch der Bürgermeister war überrascht, dass ausgerechnet seine Stadt vergangene Nacht zu den kältesten gehörte.“ Es gebe aber, erklärte besagter Bürgermeister, keine Probleme mit irgendwelchen Leitungen. In einem Ort namens Langewiesen fiel das Gas aus, weshalb es keine Brötchen gab, was einige seiner Kunden, wie der Bäcker berichtete, nicht so gut fanden.

ARD-Reporter berichteten vom Hamburger Flughafen, dass hier routinemäßig Flugzeuge enteist würden, und vom Frankfurter Flughafen, dass es kaum Verspätungen gebe. Der Kapitän eines Eisbrechers auf der Elbe murmelte unbeeindruckt an der Kamera vorbei: „Ja, es ist schon mehr Eis als in den letzten Jahren.“ Moderator Thomas Kausch selbst konnte immerhin beisteuern, dass sein Zug von Berlin nach Leipzig auf freier Stecke stehen geblieben sei, weil der Lokführer die Scheibe freikratzen musste.

Die ARD schaltete schließlich live an die Raststätte Osterfeld an der A9 für einen Lagebericht. „Die Situation ist relativ gut“, meldete der Reporter. „Der Verkehr rollt.“ Die Brummi-Fahrer hätten ihm erzählt, dass er sich keine Sorgen um sie machen müsse („Standheizung!“), und ein Polizist, den der Reporter noch ins Bild zog, vermutlich in der Hoffnung, dass er von einem schlimmen Chaos wusste, das ihm bislang entgangen war, erklärte punktum, es habe „recht wenig“ Unfälle gegeben und es würden auch nicht mehr werden, wenn es kälter wäre.

Der WDR hingegen hatte – wie sich herausstellte – sein Programm offenbar deshalb kurzfristig geändert, um seine Zuschauer über die Möglichkeiten zu informieren, dass man auf diesem Eis, das man jetzt überall findet, Dinge tun kann. Schlittschuhlaufen zum Beispiel. Die Außenreporterin machte das auf einer sogenannten Eisbahn einmal vor und ließ sich dabei gründlich von einem Mann beraten, der diese Betätigung offenbar schon mehrmals erfolgreich durchgeführt hatte: Leicht vornüber beugen müsse man sich, war sein Tipp, weil: Man fällt besser nach vorne, auf alle Viere, als nach hinten. Als Alternative bietet sich offenbar sogenanntes Eisstockschießen an. Aber „die Königsdiziplin“, meldeten die Nachrichtenleute des Westdeutschen Rundfunks, „bleibt das Schlittenfahren.“ Es handelt sich, wie man vielen Aufnahmen entnehmen konnte, um einen Spaß für Jung und Alt, vor allem aber für Jung, was der Reporter mit den Worten kommentierte: „Wenn sie groß sind, können diese Kinder sagen: Damals, da gab es noch richtige Winter.“

Die Kollegen aus Hessen hatten richtige Opfer der kalten Witterung gefunden. Einen Mann zum Beispiel, der nur dachte, dass seine Autobatterie leer wäre, in Wahrheit aber vergessen hatte, beim Anlassen, wie durch die Automatik vorgeschrieben, das Bremspedal zu treten! Eine Art Grinsekater moderierte die Sondersendung, auf die der HR schon während der „Tagesschau“ mit einer Laufschrift hingewiesen hatte – vermutlich, damit niemand auf die Idee kam, sich diesen blöden „Brennpunkt“ im Ersten über das kalte Wetter anzusehe. Jedenfalls begann der Grinsekater die Sendung mit den Worten: „Was ist das kalt draußen! Und selbst im Haus muss man die Heizung voll aufdrehen, wenn man es kuschlig warm haben will.“ Ja.

Die Nachrichtenlage war auch hier unüberschaubar. Ein Mann ist irgendwo gestürzt und hat sich den Oberschenkel gebrochen. Irgendwo anders sind Wasserrohre eingefroren. „Zahlreiche Pendler kamen heute zu spät zur Arbeit.“ Bei Autounfällen kam es zu „Blechschäden“. Der HR fragte bei einem KFZ-Mechaniker nach, was eigentlich die Ursache für solche Unfälle ist. Er antwortete: „Meist, weil die Leute nicht vorsichtig fahren.“ Ein Meteorologe des HR sagte versehentlich, dass es gestern teilweise bis minus 23 Grad kalt war und der historische Rekord bei minus 27 Grad liege (die Sendung hieß: „Kälterekord in Hessen“). Und dann schaltete das HR-Fernsehen live in die Rhein-Main-Therme, wo ein Außenreporter berichtete, dass es auch dort ganz schön kalt sei, aber warmes Wasser gebe. Für eine zweite Schaltung war er sogar in die Sauna gegangen (die ganze Sendung verzögerte sich, bis er endlich angekommen war), um von dort zwischen halbnackten Körpern den Zuschauern zu sagen: „Schauen Sie sich das mal an, was Sie machen können, in den nächsten Tagen, wenn Ihnen warm werden soll.“

Vorteil dieser Live-Aufnahmen war immerhin, dass sie nicht gerade vorher schon zu sehen waren, in der „Hessenschau“, wie Teile der Straßenumfrage, die der HR durchgeführt hatte und zum Ergebnis kam, dass es die Menschen ganz schön kalt fanden.

Der RBB recylete dafür in seinem „RBB-Spezial“ die Reportage von dem „Kältebus“, der durch Berlin fährt und Obdachlosen hilft und im „Brennpunkt“ schon gewürdigt worden war. „Eiskalt erwischt – Berlin und Brandenburg im Dauerfrost“, hieß die Sendung hier, die mit der Standardklage aller Neurodermitis-Geplagten aufwartete: „Ohne Kratzen ging heute gar nichts.“ Die Nachrichtenlage sonst: Die Zahl der Unfälle ging deutlich zurück, der Braunkohletagebau verläuft „noch“ „problemlos“. Eine Straßenumfrage ergab, dass ein Mann fast ausgerutscht wäre und ein anderer sicherheitshalber das Auto hat stehen lassen.

Ein Außenreporter und eine Meteorologin berichteten live von der Lage an der Friedrichstraße, wo die Temperatur innerhalb der letzten Stunde von minus drei auf minus vier Grad gefallen sei. Die Moderatorin sagte, man werde später, in der regulären Nachrichtensendung, noch einmal zu den beiden schalten.