Digitale Revolution

Das Publikum an der Macht. Die digitale Revolution kommt gerade erst richtig in Schwung: Die Tage, in denen eine Handvoll Leute bestimmen konnte, was wir hören, sehen, lesen, sind gezählt. In naher Zukunft werden wir alle Programmdirektoren und Chefredakteure sein.

Trotz fünfzig Jahren Berufserfahrung hätte Deborah Howell nicht damit gerechnet, je in dem Maße beschimpft und beleidigt zu werden, wie es vorletzte Woche tausendfach geschah. Die Ombudsfrau der „Washington Post“ hatte sich mit einer Kolumne den Zorn vieler Leser zugezogen, die sich im Internet zu einer Art Mob formierten. Ihre Haßtiraden füllten die Kommentare in einem Weblog der „Post“, in dem Redakteure mit Lesern über ihr Blatt diskutieren, weshalb man sich schließlich entschloß, die Kommentarmöglichkeit für unbestimmte Zeit abzuschalten.

Mindestens so lehrreich wie diese kleine Episode über die Abgründe der offenen Diskussionskultur im Internet ist, wie sie in deutschen Medien aufgenommen wurde. Bei Spiegel Online erschien eine (bis heute unkorrigierte) Falschmeldung, wonach die „Post“ „ihr Experiment, Leser unter dem Dach der Zeitung bloggen zu lassen, beendet“ habe. Der Autor behauptete, die Zeitung habe ihr Blog geschlossen – was nicht stimmt und zudem verschweigt, daß sie Dutzende Blogs betreibt, fast alle nach wie vor mit offener Kommentarfunktion. Tage später erschien im „Tagesspiegel“ ein noch ahnungsloserer Artikel, der alte Fehler durch neue ersetzte und nebenbei Blogs als „prinzipiell kontrollfrei“ deklarierte, was wohl warnend gemeint war.

Der Subtext der Berichterstattung war unmißverständlich: Hätte man sich ja gleich denken können, daß das nicht gutgehen kann, wenn man das Publizieren und öffentliche Kommentieren nicht den Profis überläßt, Journalisten also. Experiment gescheitert. In Zukunft hört ihr wieder schön zu, was wir zu sagen haben, dann gibt es auch keinen Ärger.

Das wird nicht passieren. Die Zeiten, in denen Medieninhalte von einer kleinen, relativ homogenen Gruppe von Leuten produziert wurden und dem großen Rest nur das Rezipieren blieb, diese Zeiten sind bald endgültig vorbei. Das Publikum wird in Zukunft bestimmen, wann und in welcher Form es Medieninhalte konsumiert, es wird in einen viel stärkeren und öffentlicheren Dialog über diese Inhalte eintreten, und es wird selbst zum Produzenten von Inhalten.

Und je schneller sich Journalisten und Medien darauf einstellen, um so größer ist die Chance, daß sie auch unter diesen Bedingungen noch besonderes Gehör finden werden.

Es wird nicht damit getan sein, die neuen Kommunikationstechnologien als schöne Attrappen in das eigene Angebot zu stellen. Einige Versuche von Zeitungen, den Hype um Blogs nicht zu verpassen, sind Zeugen eines großes Mißverständnisses. Das Neue an dieser Technik ist nicht, daß Journalisten nun auch unter der modischen Rubrik „Blog“ Artikel schreiben können, die dann statt in der Zeitung im Internet erscheinen. Neu ist die Möglichkeit, ungefiltert, mutig und schnell zu schreiben, Nicht-Journalisten eine Stimme zu geben, in einen echten Dialog mit Lesern einzutreten, auf andere Seiten zu verlinken und zu reagieren. Die „Süddeutsche Zeitung“ (um nur ein Beispiel zu nennen) nutzt diese Möglichkeiten ungefähr so gut wie jemand, der in ein Flugzeug steigt, um damit schön über die Autobahn zu rollen. Vierzehn Blogs hat die „SZ“, die meisten Autoren schreiben einmal im Monat etwas rein und ignorieren dann, was andere dazu schreiben. Das Medium, das dafür besser geeignet wäre, ist schon erfunden und heißt „Buch“.

Diese Blogs sollen Interaktivität suggerieren und demonstrieren das Gegenteil. Echte Interaktivität wäre aber auch ein wahrhaft revolutionäres Konzept. Der amerikanische Journalist und Vordenker Jeff Jarvis, der unter anderem die Online-Ausgabe der „New York Times“ berät, beschreibt es so: „Das Problem mit der Art, wie die Medien Interaktivität definieren, ist, daß es immer um kontrollierte Reaktionen auf die Tagesordnung des Mediums geht: Kommt und redet über unser Zeug. Sie wird gestaltet wie ein Museum für Kinder, mit Knöpfen, die man drücken kann und die einen beschäftigen sollen. Das ist die Botschaft, die alle Foren und Chats und Blogs vermitteln, die sich mit den Veröffentlichungen der Medien beschäftigen. Bei Interaktivität geht es um mehr als ums Reagieren. Es geht ums Gestalten. Es geht nicht um kontrollierte Autorität. Es geht um geteilte Autorität.“

Kontrollverlust? Autoritätsverlust? Kein Wunder, daß vielen Journalisten sogenannter etablierter Medien vor der digitalen Zukunft (um nicht zu sagen: Gegenwart) graust. Wenn sie daran denken, daß das Publikum mitredet, sehen sie dumpfe Gestalten, die sich einen eskalierenden Brüllwettbewerb liefern, wie scheinbar in jenen Online-Kommentaren bei der „Washington Post“ (obwohl auch hier von den tausend Kommentierern nur eine Minderheit die Regeln verletzte). Was sie meist nicht sehen, ist die Chance, stärker, besser, klüger zu werden, wenn sie auf ihr Publikum hören. Der Journalist Dan Gillmor, der den Begriff citizen journalism geprägt hat, sagt im notebook-onlinejournalismus.de: „Etwas, das ich vor langer Zeit gelernt habe, als ich im Silicon Valley über Technologie geschrieben habe: Die Gesamtheit meiner Leser weiß viel mehr als ich! Das war eine großartige Chance, besseren Journalismus zu produzieren.“

Man fühlt sich einigermaßen albern, über solche Konzepte zu diskutieren, wenn man sich die Online-Realität deutscher Medien ansieht. Zu deren Standard gehört es, Foren einzurichten. Hier kann jeder seine Wünsche, Beschwerden, Anregungen, Fragen loswerden – er könnte sie alternativ aber auch auf ein Stück Papier schreiben und verbrennen, mit ungefähr derselben Wirkung. Meist sind diese Foren kleine verwahrloste Interaktivitätsattrappen. Nicht selten wird der Online-Nutzer wie ein Idiot behandelt. Wenn „Bild“ hundert Gründe aufschreibt, warum Mozart toll ist, macht Bild-Online daraus ein Pop-up mit je einem Grund, so daß man hundert Mal klicken muß, was kurzfristig gut ist für die Statistik – und jeden halbwegs intelligenten Leser auf Dauer vertreibt. Wer auf bravo.de die Titelgeschichte anklickt, kommt nicht zum zugehörigen Artikel, sondern muß sich noch ein halbes Dutzend Mal durch verschachtelte Menüs klicken.

Dahinter steckt der Versuch, dem Publikum den Abschied von den etablierten Vertriebswegen so unattraktiv wie möglich zu machen. Und die Sorge, daß Leser, Zuschauer und Nutzer sich tatsächlich nur noch das angucken, was ihnen gefällt. Genau diese Möglichkeit bietet das Internet, und man könnte nun annehmen, daß die Medien versuchen, dadurch eine besonders gute Ausgangsposition zu erreichen, daß sie ihren Lesern diesen Wunsch erfüllen. Häufiger ist das Gegenteil der Fall: Die Angst, daß das Publikum das Gesamtpaket aufschnürt und sich nur noch heraussucht, was ihm gefällt, ist so groß, daß man ihm das Aufschnüren so schwer wie möglich macht.

In ein paar Jahren wird man auf eine Zeit, in der voraufgezeichnete Fernsehprogramme nur zu einer einzigen, bestimmten Zeit anzusehen waren (und auch dann erschwert durch Werbeunterbrechungen), ähnlich mitleidig zurückschauen wie heute auf Stummfilme oder Fernsehgeräte, die nur ein Programm zeigten. Welchen Grund gibt es, auf die nächste Folge von „Desperate Housewives“ eine Woche zu warten? Oder zu verzweifeln, daß man die letzte Folge verpaßt hat? Keinen – in Zeiten von Breitband und verschmelzender Technik von Fernsehern und Computern.

Die Zeichen dafür sind unübersehbar: Die BBC experimentiert mit einem eigenen Media-Player, über den das riesige Archiv zugänglich gemacht wird. Nutzer können die Clips herunterladen und austauschen, und jeder, der die BBC-Rundfunkgebühr bezahlt hat, soll sie kostenlos sehen können. Vor drei Monaten gab das amerikanische Network ABC bekannt, seine Serien auch über den Apple-downloaddienst iTunes verfügbar zu machen. Für 1,99 Dollar kann man eine Folge von „Lost“ oder „Desperate Housewives“ auf den Computer oder den iPod herunterladen. Konkurrent NBC („Law & Order“) folgte im Dezember, diese Woche schloß MTV Networks („Spongebob Schwammkopf“, „South Park“) einen entsprechenden Vertrag ab.

Solche Plattformen eröffnen den Produzenten und Sendern nicht nur neue Erlöswege jenseits der Werbung; sie helfen ihnen auch, neue Zielgruppen zu erobern. Verblüfft stellte NBC fest, daß sich die Quoten für die Comedyserie „The Office“ dramatisch verbesserten, nachdem das Network Folgen davon bei iTunes zum kostenpflichtigen Runterladen angeboten hatte. Vertriebschef Frederick Huntsberry glaubt, daß durch iTunes neue Zuschauerschichten auf die Show aufmerksam wurden: „Konsumenten haben die Wahl, und wir erreichen nicht alle Konsumenten mit nur einer Technologie.“ Vor allem ein sehr junges Publikum werde so erstmals erreicht. Und Jeff Jarvis fügt hinzu, man möge sich nur vorstellen, um wieviel größer die Wirkung gewesen wäre, wenn NBC eine Folge von „The Office“ kostenlos (aber mit Werbung) zum grenzenlosen Download und Weiterreichen zur Verfügung gestellt hätte.

Zweifellos werden Menschen in absehbarer Zeit selbst entscheiden, wann und wie sie ihre Lieblingsprogramme sehen. Selbst ohne Breitband-Angebote kann man einen Vorboten davon in Deutschland schon erkennen: die explodierenden Umsätze mit Fernseh-DVDs. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Art der Programme, die produziert werden. Das kommerzielle Fernsehen von heute fährt ganz gut damit, Sendungen herzustellen, die eine große Zahl von Leuten gerade so wenig langweilt, daß sie nicht ausschalten. Zu den Gewinnern der Zukunft werden Produzenten gehören, die es schaffen, Inhalte herzustellen, die eine bestimmte Zahl von Leuten wirklich sehen will – und deshalb bereit ist, dafür Zeit oder Geld zu investieren.

Und es wird nicht mehr nötig sein, das Okay von mutlosen Senderverantwortlichen zu bekommen. In Großbritannien produziert der Komiker Ricky Gervais, Hauptdarsteller und Miterfinder von „The Office“ (dem Vorbild für „Stromberg“), eine wöchentliche Radioshow als Podcast. In den ersten sieben Wochen ist sie über zwei Millionen Mal heruntergeladen worden. „Normalerweise muß man eine Show auf BBC Radio 1 oder Radio 2 machen, um von Millionen Leuten gehört zu werden“, sagt Gervais. „Das Problem ist, daß diese Sender von einem erwarten, kompetent und professionell zu sein. Wir mußten einen Weg finden, das zu umgehen.“

Das kann man schon wieder als eine alarmierende Aussage und das Ende aller professionellen Standards sehen. Doch im deutschen Fernsehen sind professionelle Standards längst gleichbedeutend mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner, unbedingter Massentauglichkeit und Innovationsfeindlichkeit. Je mehr das Fernsehen dadurch zu einem durchformatierten Medium wie dem Radio wird, das eigentlich nur nebenbei zu konsumieren ist, um so größer ist der Bedarf an aufregenden Alternativen. Das Internet wird sie bieten.

Der amerikanische Sender Comedy Central hat im November ein Breitband-Portal namens „Motherload“ eröffnet. Dort kann man sich nicht nur viele hundert Clips aus bekannten Programmen des Fernsehkanals ansehen, sondern auch eigens für das Internet hergestellte Produktionen. Es soll ein Ort für experimentellere Programme sein, nichttraditionelle Stimmen, Formate jenseits der üblichen dreißig Minuten – kurz: ein „Brutkasten“ für neue Ideen.

Daß nur eine kleine Gruppe von Menschen die Möglichkeit hatte, Inhalte zu erzeugen und einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, lag allein an technischen Beschränkungen: Die Kanäle und Vertriebswege waren limitiert und teuer. Das hat sich inzwischen geändert, nun ist potentiell jeder Produzent von Inhalten – und schlaue Medien nutzen das neue kreative Potential für sich. Im Kleinen probiert das gerade das Religionsportal des ORF im Internet, das unter religion.orf.at seine Nutzer auffordert, in eigenen Filmchen zu zeigen, was ihnen „heilig“ ist. Systematischer geht der britische Fernsehsender Channel 4 das Thema an. Unter dem Label „FourDocs“ kann jeder vierminütige Dokumentationen hochladen und mit der Welt teilen. Der Erfolg ist groß genug, um demnächst ein verwandtes Projekt namens „FourLaughs“ zu starten, das ein Showroom für Komiker werden soll. Diese Projekte sind kein Selbstzweck, Channel 4 erhofft sich auf diese Art, nicht nur ein Publikum an sich zu binden, sondern spannende neue Talente zu entdecken.

Auf der internationalen Fernsehmesse NATPE zitierte BBC-Chef Michael Grade diese Woche in Las Vegas Schätzungen, wonach in zehn Jahren zehn bis fünfzehn Prozent der neuen Inhalte von Anbietern wie „Ein-Mann-Bands, Hinterhof-Produktionen und Leuten, die eine gemeinsame Leidenschaft wie Fliegenfischen haben“ stammen wird. „On-Demand kommt und wird alles ändern“, sagt er. „Wir werden die Medienwelt nicht wiedererkennen.“

Für zukünftige Generationen wird es keine unüberbrückbare Trennung zwischen Produzenten und Konsumenten von Medieninhalten mehr geben. Laut einer amerikanischen Studie hat die Hälfte aller Zwölf- bis Siebzehnjährigen ein Blog oder eine Homepage, hat eigene Kunstwerke oder Fotos, Geschichten oder Videos im Internet veröffentlicht oder die von anderen weiterverarbeitet. Die Untersuchung nennt sie „Content Creators“.

„Was früher nur eine Vorlesung war“, sagt Dan Gillmor, „bewegt sich immer mehr in Richtung einer Konversation. Wenn Medien ihre Attitüde und ihre journalistische Praxis nicht ändern, um darauf zu reagieren, wird ihnen das auf lange Sicht schaden.“ Oder in den Worten von Jeff Jarvis: „Wer nicht Teil der Konversation ist, wird nicht gehört werden.“

Es ist erstaunlich, wie wenig über diese Revolution in Deutschland gesprochen wird, wie wenig Ansätze hierzulande zu erkennen sind, ihr gerecht zu werden. Vielleicht liegt es daran, daß diese Revolution schon einmal angekündigt war, vor ein paar Jahren im allgemeinen Dotcom-Hype, und dann doch nicht eintrat. Jetzt hat sie begonnen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

2 Replies to “Digitale Revolution”

  1. […] …gingen Heidi Klums Papa und das Sozialgericht Bremen gegen Blogger vor… …fuhr ich für einen Tag nach London… …starb Marc Spoon … …schrieben die Arctic Monkeys Musikgeschichte… …schrieb Stefan Niggemeier diesen wundervollen Text… …wurden aus Blogs die “Klowände des Internet“… …gingen Muslime scheinbar wegen ein paar Dänen auf die Barrikaden… …schrieb ich meine erste Kurzgeschichte… selbstverständlich mit Zombies… …trat ich in Hundekacke… …gab es ein paar sehr gute Animationen… …habe ich mir den Mashr angeschafft – und wieder abgeschafft… …hat Jens mal aufgeschrieben, warum wir bloggen: …wurden Häuser mit LED-Dingern beschmissen… …rief ich zu mehr Phantasie im Horror-Genre auf. Genützt hat es nichts… …erzählte ich Geschichten aus meiner Vergangenheit… …trugen Blogger nicht genügend Hüte… …sagte ich, geistiges Eigentum ist Geschichte… …postete ich den 1000sten Eintrag und es war mir scheißegal… …habe ich die Arctic Monkey live gesehen, vor 400 Leuten im Mousson-Turm… …konnte man mich mehrfach beim Thaisuppenverspeisen beobachten… …verwandelte ich mich in den Kachelmann… …regte ich mich furchtbar über Johnny auf… not… …wo wir grade bei Johnny sind, der schrieb einen tollen Text über Vampire… …gaben wir das ultimative Mannatüüt-Karaoke-Dings… …starb Rudi Carrell… …kackte Euroweb den Bloggern vor die Tür… …war ich in Los Angeles… …hat Transparency International mit der Juristenkeule gewedelt. …wurde ich Teil der Spreeblick-Familie… …gabs Popetown im Fernsehen. War aber langweilig… …fuhr ein betrunkener Volldepp sein Auto durch eine Absperrung auf die Gleise in meinem Kaff und… lies es da stehen…. …war ich ziemlich faul… …war was mit Fußball, glaube ich… …wurde ein deutscher Familienvater ins Koma geprügelt… …hatte ich ziemlich heftige Zahnschmerzen… …war das Jahr der Video-Mashups, das grandioseste davon ist dieses… …gab’s für die Opel-Blogger mal anständig auf die Fresse… …sind wir per Anhalter durch die Blogosphäre gereist… …entdeckte man riesige No-Go-Areas mitten in Deutschland… …habe ich im Sommer viel zu wenig geschlafen… …wurde ich abgemahnt, worüber ein Song geschrieben wurde und die Rechnung, die habt Ihr bezahlt. Danke nochmal dafür… …war ich beim Blogtalk… …hamse Bruno totgeschossen. Ihr Schweine… …entdeckte ich mein Alter… […]

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