DSK: „Spiegel“ beklagt Vorverurteilung

Ullrich Fichtner und Mathieu von Rohr schreiben im neuen „Spiegel“ über die neuen Entwicklungen im Fall Dominique Strauss-Kahn:

Der Mann, der wochenlang zum Sexverbrecher gemacht wurde, ohne dass er schuldig gesprochen war, erschien am Freitag schon fast wieder rehabilitiert. (…)

Die Frage ist nun, was für die Öffentlichkeit schwerer wiegt: die unappetitlichen Details aus dem Leben des potentiellen Präsidentschaftskandidaten oder die Euphorie über die wiedergefundene Unschuld und das schlechte Gewissen über die massive Vorverurteilung.

Zum Sexverbrecher gemacht ohne Schuldspruch? Massiv vorverurteilt? Wer macht denn sowas?

Ullrich Fichtner und Dirk Kurbjuweit, „Spiegel“, 23. Mai 2011:

Strauss-Kahn ist nur der vorerst letzte in einer langen Kette gleichgestrickter Brüder, die an ihrer herausragenden gesellschaftlichen Stellung irre wurden, die alles Maß verloren und die machttrunken glaubten, die ungeschriebenen und auch die geschriebenen Gesetze gälten nicht für sie.

Dies trifft auf Strauss-Kahn ganz unabhängig davon zu, ob ihm im Sofitel-Fall die Schuld nachgewiesen und er als Vergewaltiger wirklich verurteilt wird. Man muss diesen Angeklagten, der am Ende mutmaßlich zum Verbrecher wurde, aber bis zu einem Urteil natürlich als unschuldig zu gelten hat, trennen von dem Mann, der mit dem fragwürdigen Ruhm eines Schürzenjägers durch die Welt lief, eines geilen Bocks, dem Frauen immer wieder vorwarfen, sie bis an den Rand der Nötigung und darüber hinaus zu bedrängen, ohne damit weiter anzuecken, ohne aufzufliegen. (…)

Der letzte Halbsatz seiner Rücktrittserklärung an den IWF lautet, „ich möchte nun vor allem – vor allem – all meine Kraft, all meine Zeit, alle meine Energie dem Ziel widmen, meine Unschuld zu beweisen“. Es ist nur ein Gefühl, aber beim Lesen der Erklärung, die nicht sehr lang ist, stellt sich der Eindruck ein, dass sie nicht so klingt wie die eines Mannes, der zu Unrecht einer ungeheuerlichen Straftat angeklagt ist und seine Ehre wiederherstellen will.

Von einem „schlechten Gewissen“ des Nachrichtenmagazins kann natürlich keine Rede sein. Ich finde es nach wie vor erstaunlich, wie viele Leute meinen, es gäbe zuviel Selbstbezüglichkeit in der deutschen Medienwelt, wo sie doch in Wahrheit — gerade in den großen, renommierten Blättern — mit soviel Selbstblindheit geschlagen ist.

Übrigens hatte derselbe „Spiegel“, der in dieser Woche über ein „Comeback Strauss-Kahns“ spekuliert, vor sechs Wochen noch behauptet:

Dominique Strauss-Kahn (…) war zu diesem Zeitpunkt längst erledigt. Die Bilder von ihm in Handschellen und die anderen, die ihn unrasiert, hilflos vor der Haftrichterin zeigten, löschten ihn aus als Figur der Macht, sie disqualizierten [sic] ihn für jedes denkbare Amt (…).

Wann ist aus Journalismus eigentlich der Versuch geworden, die Zukunft vorherzusagen, und die Praxis, die eigene Wahrsagerei als Tatsache auszugeben?

24 Replies to “DSK: „Spiegel“ beklagt Vorverurteilung”

  1. Ich hoffe ja immer, daß dieser ganze elende Schrott nur auf SPON zu finden ist und nicht auch gedruckt wird. Finde aber, daß SPON relativ wenig Grund liefert, den „Spiegel“ auch mal am Kiosk zu kaufen. Ich werde es also nie mehr erfahren.

  2. Der gedruckte SPIEGEL ist i.d.R. immer (noch) lesenswerter als der tägliche SPON-Wahnsinn.

  3. „Wahrsagerei“ ist aber eine äußerst unsensible Lesart des Textes, immerhin ließen Fichtner und Kurbjuweit hier endlich einmal „nur ein Gefühl“ sprechen. Überhaupt: Von dem Gefühl zu berichten, dass sich ein Eindruck einstelle – das muss man als Journalist erst einmal können und dann auch noch dürfen.

  4. Schlimm, was die beiden da so schreiben und zweimal Geld für gegensätzliche Artikel kassieren.

    Aber wie hieß noch mal die Frau, die schon im Kachelmann-Prozess alles wusste, und in den Kachelmann-Talkshows mit großer Euphorie abglit auf DSK. Den weißen Mann verurteilte, der Macht über das arme schwarze (jetzt wäre mir fast der Name eingefallen) Zimmermädchen ausübte. Mit dem Hinweis, hier ist die Schuldfrage deutlicher als im Kachelmannfall.

    Vielleicht sollte der Spiegel mal überlegen, ob er das Format seiner Print-Ausgabe dem der Bild-Zeitung anpasst. Dann wäre sichtbarer, wo er seit Jahren hinarbeitet.

  5. aber lässt das schlechte gedächtnis der spiegel-redakteure wirklich den schluss zu, dass deutschen medien zu wenig selbstbezogen arbeiten? ständige selbstreferenz ist vielleicht doch von der selbstkritischen auseinandersetzung mit den eigenen artikeln zu trennen – die natürlich wünschenswert wäre.

  6. Ich empfehle, Artikeln über Gerichtsverfahren in Presse und Funk generell zwei Sätze voranzustellen:
    Eine Anklage ist kein Schuldspruch. Eine Entlassung aus Untersuchungshaft ist kein Freispruch.

  7. Diese Art Journalismus ist peinigend. Sie schädigt das Sensorium des Lesers… Gestern Held, heute Paria, morgen Held, übermorgen Paria. Gestern Kanzler, heute Schwindler, morgen wieder Kanzler. Aber immer auf die Pauke, immer volles Rohr, Hauptsache Wumms, spitze These, Knalleffekte, Pose, Krawall. Ich blättere sowas höchstens noch mit ganz spitzen Fingern durch.

  8. Gleiches gilt für den Buchmarkt. Ohne „Abrechnung mit…“, „Klartext zu…“, „die Wahrheit über…“ ohne diese ekelhafte Renommisterei geht gar nichts mehr. Nur noch schwerer Säbel…

  9. Von einem „schlechten Gewissen” des Nachrichtenmagazins kann natürlich keine Rede sein.
    (…)
    Wann ist aus Journalismus eigentlich der Versuch geworden, die Zukunft vorherzusagen, und die Praxis, die eigene Wahrsagerei als Tatsache auszugeben

    deswegen ist es auch als „ehemaliges Nachrichtenmagazin“ bekannt *duck*

  10. […] Stefan Niggemeier zum Thema Dominique Strauss-Kahn: SPIEGEL verurteilt Vorverurteilung von DSK – und hat im Mai selbst kräftig vorverurteilt. So schnell kann’s gehen mit dem Richtungswechsel der Argumentation! […]

  11. „Wann ist aus Journalismus eigentlich der Versuch geworden, die Zukunft vorherzusagen, und die Praxis, die eigene Wahrsagerei als Tatsache auszugeben?“
    Die Suche kann bei 1899 – rückwärts gerichtet – beginnen. Ab 1899 haben wir einen permanenten Zeugen dafür, dass es leider so ist: Karl Kraus.

  12. Tja, was hätte Adenauer dazu wohl gesagt? Ich erspare euch das Zitat.

    Das Lustige an Strauss-Kahn ist u.a., dass hier der übliche Hype-Dump-Zyklus mal andersherum gespielt wurde. Normalerweise machen die Medien ja erst den Star zu dem, was er ist, nur um ihn dann später in Grund und Boden zu schreiben (siehe auch Lena, wobei das da noch vglw. harmlos war).

    Ansonsten empfehle ich einen schönen Artikel zu DSK (ohne den Medienteil) bei Weissgarnix: http://www.weissgarnix.de/2011/07/02/zu-viele-lose-enden/

  13. Wer heut zu Tage einen wichtigen „Mann“ los werden möchte, unterstellt ihm einfach eine Vergewaltigung.
    Leider sind anscheinend die „Obrigen“ so dumm, sowas 3x in einem Jahr zu tun.

    Strauss-Kahn
    Kachelmann
    Assange

    Ja, einfach zu sagen, es geht sicher nur um Geld.
    Nur, wer kein Geld hat? Bezahlt mit was?
    :)

  14. Ich formuliere jetzt mal ganz vorsichtig. Es gibt ja auf seiten von Frauenrechtlern und Opferverbänden mitunter die Meinungslage, „spektakuläre“ Fälle dieser Art seien schädlich für die Strafverfolgung von Vergewaltigungsfällen, schädlich für die gesellschaftliche Ächtung von Vergewaltigern, schädlich für die Bereitschaft von Opfern zur Anzeige der Täter, und überhaupt. Das kann man sicherlich so sehen. Normalerweise wird das dann den freigesprochenen/haftentlassenen (ehemals) Verdächtigen angekreidet, denn sie hätten mit sich doch bestimmt mit ihren Millionen freigekauft, oder mit ihrer Medienmacht garentiert die öffentliche Stimmung manipuliert, oder wie auch immer.
    Wie lange wird es wohl dauern, bis stattdessen diese Art der Berichterstattung als schädlich identifiziert wird? Wäre doch mal ein Fortschritt.

  15. Ist das der vielzitierte Qualitätsjournalismus? Ach nein, der ist im Internet ja nicht möglich, weil dort damit niemand Geld verdienen kann. Also ist es doch einfach nur Schund.

  16. „Dies trifft auf Strauss-Kahn ganz unabhängig davon zu, ob ihm im Sofitel-Fall die Schuld nachgewiesen und er als Vergewaltiger wirklich verurteilt wird.“
    Das ist das perfide an der Sache. In dem Bewusstsein, dass die Unschuldsvermutung gilt, aus dem bloßen Verdacht schlussfolgern, dass wir die Unschuldsvermutung nicht brauchen, denn sonst wäre er ja nicht verdächtig.

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