Ein Scherz für Kinder

Der kleine Jeetham muß zurück in seinen Slum: Bei Benefizshows ist die gute Tat wichtiger als der gute Geschmack

Wenn es November wird, vergeht keine Stunde, ohne daß irgendwo auf der Welt ein Prominenter in ein deutsches Mikrofon Sätze wie diese spricht: „Alles, was man für Kinder tun kann, ist wichtig. Ich setze mich sehr dafür ein. Denn Kinder sind doch unsere Zukunft.“ In diesem Fall stammen die Worte von Halle Berry und das Mikrofon von RTL, Variationen in der Formulierung sind erlaubt. Schon im Sommer wird damit begonnen, deutsche Schauspieler mit dürren fremden Kindern zu versehen und zu filmen. Der Sender macht daraus Beiträge von dreißig Sekunden und fügt Sätze hinzu wie: „Jeetham ist traurig. Seine Mutter und Maria Furtwängler bringen ihn zurück in seine Hütte in den Slums. Es fällt ihnen schwer, doch sie hoffen auf Unterstützung.“

Geschenkt: Jeder Euro, der für einen guten Zweck gespendet wird, weil jemand sich von solchen Bildern und Worten beeindrucken läßt, ist ein Gewinn. Die übergroße Mehrheit der Kinder kommt zu kurz, fast überall – außer im weihnachtlichen Wohltätigkeitsrausch. Die Designer von RTL haben es geschafft, den Vorspann ihres „Spendenmarathons“ diese Woche so randvoll mit großen, traurigen, fremden Kinderaugen zu packen, daß nicht einmal ihre Körper, kaum ein Haar, ein Hals zu sehen sind, nur Augen, die dem Moderator über die Schulter gucken, überlebensgroß, fast größer als die Logos der Sponsoren.

Ohne Kinderaugen geht wenig, wenn das Fernsehen sich ans Spendensammeln macht. Kinder sind selbst im Elend deutlich ansehnlicher als Kranke, Behinderte, Greise. Und sie sind unschuldig – da ist man sich ja nicht bei jedem Notleidenden so sicher. So sammelt das Fernsehen, wenn nicht gerade eine Jahrtausendflut ist, für Kinder. Kai Pflaume letztens in „Charity“ (Sat.1) für „Hand in Hand for Children“, Wolfram Kons in dieser Woche für die RTL-Stiftung „Wir helfen Kindern“, Dirk Bach gestern für die Unicef (ZDF), Thomas Gottschalk bald für „Ein Herz für Kinder“ (ZDF). Lobt man den Sat.1-Unterhaltungschef Matthias Alberti dafür, daß er sich traut, statt dessen für das sperrige Thema Aids zu sammeln, sagt der erst: „Öhm“, und dann: „Es gibt ja auch wichtige HIV-Projekte für Kinder, eines aus Südafrika werden wir ganz am Anfang der Sendung vorstellen.“ Vermutlich müßte man ihm sonst auch vorwerfen, die Erlösmöglichkeiten für die Deutsche-Aids-Stiftung fahrlässig zu gefährden.

Jobst Benthues, Unterhaltungschef von Pro Sieben, sagt, er sei überhaupt nicht daran interessiert, den Bildschirm mit traurigen Kinderaugen zu füllen – fast glaubt man es ihm, beim Sender, der gerne so flippig unelternhaft daherkommt. Und für wen wird Pro Sieben sammeln, mit einer großen neuen Aktion 2003? Für drei Organisationen: Eine für Kinder, eine für Kinder und eine für Kinder.

Das ist insofern tragisch, als es an anderen unterstützenswerten Hilfsorganisationen nicht mangelt. Für die Aids-Stiftung soll die Sat.1-Gala immer fast eine Hälfte der Gesamtspenden einbringen – da werden die Begehrlichkeiten groß und die Versuche, eine eigene Show zu bekommen, entsprechend verzweifelt. Alle Sender erzählen, daß Organisationen auf sie zugekommen seien mit dem Angebot, für eine Benefizshow zu ihren Gunsten auch einen erheblichen Teil der Produktionskosten zu übernehmen. Da dadurch mehr Geld zusammenkomme, als für die Sendung ausgegeben werden müßte, gehe das schon in Ordnung. Offiziell sind dennoch alle ganz empört über den damit verbundenen Mißbrauch von Spendengeldern und sagen, für sie käme so etwas nicht in Frage. Bei den Charity-Vereinen erzählt man die Geschichte übrigens umgekehrt: Es seien die Sender, die die Ausstrahlung von Galas gelegentlich davon abhängig machten, daß die Hilfsorganisation einen Teil der Showkosten übernimmt. Der MDR etwa hat den Fluthelfern die Kosten für das Callcenter in Rechnung gestellt – dabei waren sie verpflichtet, dafür die teuren Dienste einer MDR-Tochter in Anspruch zu nehmen. Einige in der Branche glauben, es gebe nicht zuletzt deshalb so viele Benefizshows, weil das der leichteste Weg sei, viele große Stars zu bekommen, preisgünstig, weil die „natürlich“ auf ihre Gage verzichten. Der Vorwurf trifft nicht alle. Regina Ziegler zum Beispiel, die die gestrige Unicef-Gala im ZDF produziert hat, legt Wert darauf, die Künstler, denen es freisteht, die Gage zu spenden, für ihre Arbeit normal zu bezahlen.

Manchen Künstlern ist dennoch nicht wohl bei der Mischung aus Imagewerbung, lustigen Auftritten und guter Tat. Der Komiker Bastian Pastewka spendet gerne, sagt er, geht aber zu den klassischen Formen mit Elendsbildern, Auftritt und Anrufmöglichkeit nicht hin. „Über den guten Zweck vergessen leider viele, eine gute Sendung zu machen“, sagt er. Karat singt auf der MDR-Flutgala: „Über sieben Brücken mußt du gehn.“ Dieter Thomas Heck steht in einer Dekoration aus den frühen achtziger Jahren und mahnt zum Thema Krebs: „Wir alle wissen nicht, wann diese Geißel der Menschheit direkt neben uns einschlagen kann.“ Verona Feldbusch, die gerade eine große goldene Version eines Schmuckstücks aus ihrer Kollektion versteigert hat, sagt: „Wer leer ausgegangen ist, muß sich das leider in kleinem Silber morgen nachkaufen.“ Und immer Katastrophenbilder, in denen der Originalton durch Geigen (ältere Zielgruppen) oder Peter Gabriel (jüngere Zielgruppen) ersetzt wurde.

Es darf – neuerdings – gelacht werden. Die Sat.1-Aids-Gala, im vergangenen Jahr noch eine Musikrevue, wird heute von Hape Kerkeling moderiert, der dafür mit einem achtjährigen Mädchen, das er als seine Nichte ausgab, durch die Bambi-Preisverleihung zog und Kollegen bat, sie aufzuklären. „Wenn die Menschen lachen“, sagt Sat.1-Mann Alberti, „kommt man viel näher an ihre Seele ran.“ Ab nächstem Jahr will Pro Sieben das britische Konzept des „Red Nose Day“ importieren. An diesem Tag kauft die halbe Insel eine rote Nase und macht schrille, witzige Aktionen, um Geld zu sammeln. Für die Lizenz bekommen die Briten von Pro Sieben zehn Prozent der deutschen Erlöse. „Der ,Red Nose Day‘ paßt gut zu uns“, sagt Jobst Benthues. „Er entspricht unserer internationalen Comedy-Tradition – und das Marketing freut sich, weil die Nasen unsere Senderfarbe haben. Es soll nicht verkrampft-staatstragend zugehen. Wir machen eine lustige Comedy-Show, bei der Künstler für einen guten Zweck aktiv werden.“ Dazu muß man sich das Pro-Sieben-Ensemble mit Stefan Raab, Elton, Erkan & Stefan vorstellen und wissen, daß die Aktion von Prime Productions produziert wird, die auch schon an Highlights wie der „Karl Dall Show“ und „Strip!“ (Ausziehen mit Jürgen und Ramona Drews) beteiligt war.

Benthues betont, daß die Aktionen rund um den 14. März keine reine Pro-Sieben-Veranstaltung bleiben, sondern allen offenstehen sollen. Nur die große Sendung wird auf Pro Sieben laufen, denn natürlich soll das Image, das mit der guten Tat verbunden wird, seinem Sender zugute kommen.

Ist das schlimm? Oder ist es schlimmer, daß manche ARD-Anstalt grundsätzlich keine Spendenshow macht, weil die Einschaltquoten dabei zurückgehen, bei Themen wie Aids sowieso? Beim ZDF, das mit gleich acht Sammelsendungen in diesem Jahr weit vorne liegt, räumt man ein, daß das auch damit zu tun hat, daß viele dieser Wohltätigkeitsorganisationen ja im ZDF-Fernsehrat säßen . . .

Die Hilfswerke der beiden großen Kirchen teilten sich eine ZDF-Benefizshow, die wegen Überfüllung nicht mehr in die Vorweihnachtszeit paßte und schon Mitte November laufen mußte. Da es sich aber zweifellos um eine vorweihnachtlich geprägte Musiksendung handelte, hatten die Kirchenleute ein Problem: Öffentlich kritisieren sie nämlich mit Kampagnen wie „Advent ist im Dezember!“ den Trend, schon ab dem Spätsommer Straßen zu schmücken und Lebkuchen zu verkaufen. Man fand dann einen Kompromiß: In den Liedern wurden nicht die „Weihnachtsglocken“ besungen, sondern „Winterglocken“. Oder waren es „Kinderglocken“? Hauptsache rührend.