Grundkurs Grand-Prix (1): Rückung

Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zu unserem kleinen Einführungskurs in die Grundlagen des Eurovision Song Contest. Im Publikum war die Frage aufgekommen, was eine Rückung ist. Nun, ohne Rückungen wäre der Grand-Prix nicht, was er ist, also machen wir das gleich zu unserem ersten Thema.

Eine Rückung ist ein Wechsel der Grundtonart in einem Musikstück. Im Gegensatz zur Modulation, bei der der Wechsel von der Ausgangs- zur Zieltonart über eine Folge mehrerer Akkorde erreicht wird, erfolgt der Wechsel bei der Rückung relativ übergangslos und unvermittelt.

In der Popmusik ist eine Rückung um einen Halb- oder Ganzton nach oben extrem häufig. Auf diese Weise entsteht der Eindruck einer Steigerung zum Beispiel trotz einer bloßen Wiederholung des Refrains.

Keine Sorge, an einem praktischen Beispiel wird das gleich viel klarer, und ich bin froh, dass Nicole eingewilligt hat, zum besseren Verständnis der Rückung ihr Lied „Ein bisschen Frieden“ noch einmal zu singen, mit dem sie 1982 den Eurovision Song Contest gewann. Es enthält die klassische Form der Rückung: vor einer Wiederholung des Refrains, kurz vor Schluss des Liedes, ohne jeden harmonischen Übergang. Achten Sie darauf — gegen Minute 2:40:

Das, meine Damen und Herren, war eine Rückung.

Nun ist die keine Erfindung des Eurovision Song Contest. Die meisten Schlager kommen nicht ohne Rückung aus, und zum Beispiel auch John Lennons „Woman“ verzichtet nicht auf den schlichten Effekt, der den Zuhörern quasi unter die Arme greift und ihnen die Illusion neuer Frische oder Dramatik gibt. Aber es ist schon auffällig, wie allgegenwärtig dieser musikalische Trick beim Grand-Prix ist, wie wenige Titel sich trauen, in ihren drei Minuten auf ihn zu verzichten. Der Siegertitel von 1981, „Making Your Mind Up“ von Bucks Fizz, ging auf Nummer sicher und baute gleich zwei Rückungen schon außergewöhnlich früh im Titel ein:

Erkannt? Ungefähr nach zwei und zweieinhalb Minuten passiert’s.

Aber es geht noch besser. Milk & Honey schafften 1979 in Israel einen Heimsieg mit „Hallelujah“ und wechselten nicht weniger als dreimal die Grundtonart:

Keine Frage: Die Rückung hat ein Imageproblem. Sie ist ein Klischee, gilt als billig. Dabei muss sie gar nicht abgegriffen sein. Der diesjährige Beitrag aus Moldau zeigt, wie sich der Tonartwechsel mit einem hübschen Break und an überraschender Stelle im Titel unterbringen lässt (2:00):

So. Und wenn Sie heute Abend das erste Halbfinale gucken, können Sie aus diesem Fachwissen ein lustiges Trinkspiel machen.

68 Replies to “Grundkurs Grand-Prix (1): Rückung”

  1. RÜCKUNG hört sich halt gleich wieder so deutsch an – nennen wir es doch HIT RESPONSE und denken uns div. modern talking stücke dazu.

  2. ach, rückung ist doch schon fast sowas wie entrückung. man stelle sich vor, wie bei aktion und reaktion würde bei jeder rückung der entsprechende Sänger entrückt.
    Ein Copperfield mit seinen verschwindtricks hinter einem vorhang wären nichts dagegen. :P

  3. Kleiner Fehler: „In der Popmusik ist eine Rückung um einen Ganzton nach oben extrem häufig.“

    Nee, um einen Halbton. Ganzton ist relativ selten. Die Rückung um einen Halbton erreicht einen viel größeren Effekt.

    Sogar eine Rückung um eine kleine Terz kommt häufiger vor, als eine Rückung von einem Ganzton.

    Ach bei Deinen Beispielen ist es jeweils ein Halbton. Nicole moduliert von Fis (daher bezweifel ich, dass die wirklich Gitarre gespielt hat) auf G, Bucks Fizz mit ihrem wahrlich genialen Song von G auf As und dann A und Hallelujah von As auf A auf B auf H. Die Rückung gehört zum Sieg einfach dazu. Und obwohl es eigentlich perfekt reingepasst hätte, fehlt die ausgerechnet bei „Disappear“ von den No Angels.

  4. @3: Hast du dir das Nicole-Video angeschaut? Sie spielt mit Kapo im 3. Bund und nach der Rückung eindeutig andere Akkorde als davor. Die sehen auch wie verkappte Barré-Akkorde. Ob das ganze dann hörbar gemixt wurde, ist noch eine andere Frage.

  5. Grundkurs zurück. Bitte richtige Beispiele. Rückung in der Popmusik ist zum Beispiel ‚Purple Rain‘.

  6. Da merk ich erst mal, wie unmusikalisch ich bin. Die inkriminierte Veranstaltung habe ich immer verachtet, aber selbst nach mehrmaliger Lektüre dieser und der Wikipedia-Artikel zum Thema bleibt mir schleierhaft, was da angeblich „leicht herauszuhören“ sein soll. Abstrus.

    Einmal mehr chapeau Richtung Stefan, sich dieses paneuropäische SM-Experiment freiwillig anzutun…

  7. […] Ich habe mich ja immer gefragt, wie das heißt, wenn in Liedern der Pop- und Schlagermusik (sprich: Lieder des Eurovision Song Contests) der Refrain nochmal in einer höheren Tonlage gesungen wird. Das heißt »Rückung«, wie Stefan Niggemeier aufklärt. […]

  8. Man muss in diesem Kurs aber keinen Schein machen, oder? Nicht mal ´nen Teilnahmenachweis, will ich hoffen?

  9. Danke, dass ich diesem schlimmen musikalischen Phänomen endlich einen Namen geben kann. Für mich ist diese Rückung geradezu der Inbegriff von einfallsloser Popmusik. Plastik-Püppchen wie Celine Dion und Ähnliches benutzen es auch regelmäßig. Wenn ich einen neuen Popsong im Radio höre, der diese Modulation anwendet, ist das für mich ein Grund diesen Künstler komplett aus meiner Liste der anhörbaren Musik zu streichen.

  10. Tatsächlich keine neuere Erfindung, diese Rückung. Keine Ahnung, wer damit vor Äonen mal angefangen hat, aber auch in Anton Bruckners Sinfonien finden sich Rückungen zuhauf.

  11. Mein Lieblingsbeispiel, dass die auch in der pop(ulären) Musik eine tatsächliche Überraschung und Steigerung bewirken kann: einfach mal mitten in der Strophe einbauen

    http://youtube.com/watch?v=8p53ns2wVYg

    (oder ist das jetzt wegen des chromatischen Übergangs keine mehr…? Musiktheorie war noch nie meins…)

  12. Ich hätte sowas ja immer „Transposition“ genannt. Aber evtl kann mir (uns) jemand in wenigen (verständlichen) Worten den Unterschied zwischen „Transposition“ und „Rückung“ erklären.

  13. Wenn ich das richtig im Kopf habe, wird bei der Transposition ein gesamtes Musikstück in der Tonart verändert (beispielsweise, um es einfacher zu spielen, oder besser auf ein(n) Sänger(in) zu passen) – die Rückung aber wechselt einfach innerhalb des Stücks die Tonart (ohne Rücksicht auf Verluste ;)

  14. Also, eine Rückung ist ein stilistisches Element innerhalb eines Songs dass (kurzzeitig) die Tonart verändert, eine Transposition hingegen ist eine Tonartveränderung des kompletten Songs, nicht nur eines Teiles.

    Du wolltest kurze Worte, deshalb erspahr ich mir jetzt das Beispiel. Aber ist ja eigentlich auch ganz einfach..

  15. Ein guter Indikator dafür, dass dieses Stilmittel verbraucht ist: das Lied «Danke für diesen guten Morgen». 15 Strophen, jede üblicherweise einen halben Ton höher als die vorige vorzutragen. Mit dem «Danke»-Prinzip kann man eine komplette Kirchenbesatzung zuverlässig in den Wahnsinn treiben.

    Das angedeutete Trinkspiel gibt’s natürlich schon; hier eine aktuelle Version des inzwischen erfreulich differenzierten Regelwerks.

    @Chris: Bei Bruckner natürlich (besonders vertrackt: 7. Sinfonie, 1. Satz, Reprise), und auch bei Schubert mangelt es bekanntlich nicht an mediantischen Rückungen. Der Unterschied zum klischeehaften Gebrauch in der Popmusik ist nur: Bei dieser (und tatsächlich ja auch in allen hier verlinkten Beispielen) ändert sich die Bezugstonart für den Rest des Stücks. In klassischer Musik ist die Rückung dagegen meistens Teil eines übergeordneten, weiterhin auf die Ausgangstonart bezogenen Modulationsplans, und insofern natürlich mehr als bloße Effekthascherei.

  16. Oder, Christian, nicht zu vergessen: Die Rückungs-Orgie schlechthin „Eisgekühlter Bommerlunder“ von den Toten Hosen.
    Das hat mir mein Gitarrenlehrer mal zum Barrégriffe üben aufgegeben.

  17. Ja, die Rückung ist ein beliebtes dramaturgisches Mittel. Es wirkt und ist für den Zuhörer unmissverständlich.
    „Abgegriffen“ und „Billig“ sind allerdings zwei abgegriffenen und billige Attribute, die immer dann Verwendung finden, wenn beim lästerlichen Gerede die Wortfindungsstörung greift. ;)
    Musik wird nicht schlecht, weil altbewährtes verwendet wird. Nur weil Nicole in ihrem Friedensliedchen die Rückung verwendet, ist Purple Rain ja nicht genau so langweilig.

    Ähnlich verhält es sich mit der seit 300 Jahren Verwendung von Pachelbels Kanon in D. Dadurch wird „Let it be“ ja kein schlechter Song. ;)

  18. Danke für diesen Beitrag „Wissen das die Welt nicht braucht“ anlässlich einer Sendung dito. ;-)

  19. @Manuel (#3): Ich hab jetzt oben mal der Einfachheit halber ergänzt „Halb- oder Ganzton“. Ich hoffe, das ist okay.

  20. @23: Das würde dann allerdings überhaupt nicht passen.

    @25: Abgegriffen und billig wird es aber dann, wenn es in einem Kontext auftaucht in dem oft dem Eindruck nach sehr kalkuliert Musik geschrieben wird (Grand Prix) und in dem noch dazu gerade dieses Stilmittel ständig auftaucht. So einem kalkulierten Lied kann das dann absolut den Rest geben, wenn am Ende dann die Rückung kommt. Das schmerzt dann nochmal final, wobei es bei mir dann gerne auch mal Lachkrämpfe auslöst, weil es so schön zu viel ist.

  21. @Flo: Nee, ne Bridge ist was ganz anderes.

    @Stefan: Hmmja, bedingt. Tatsächlich findet sogar eine Rückung um eine klleine Terz häufiger statt als um einen Ganzton (in MUsicals oft). Schau Dir mal mein übermüdetes Video an, da ist vieles erklärt.

  22. Ihr wollt mir jetzt aber nicht erzählen dass ich mich bei den ganzen Hupfdohlen in bunten Kostümen, ukrainischen 1-2-3 Transvestiten und irischen Techno-Truthähnen noch gleichzeitig auf Rückungen und Terzen konzentrieren soll, oder?

  23. @ 8: das sind die richtigen beispiele. die tonartänderungen in den von dir angeführten songs sind modulationen, die zur ausgangstonart zurückführen (bei purple rain nur in der album-version zu hören, es sind die streicherakkorde zum schluß, bei acdc wird während des ganzen stücks ziemlich uninspiriert auf dem bluesschema rumgehackt, der vorletzte akkord verläßt das schema kurz, um dann zum herkömmlichen schlußakkord zurückzukehren), wie bereits erwähnt tut die rückung das nicht. [hier bitte dieter-nuhr-zitat denken]

  24. Har
    Wenn ich sowas höre muss immer an Hape Kerkelings Schlager Playbacksketch denken

  25. Juchuu, noch zwei, drei Folgen dieses Grundkurses (z.B. authentische und plagale Kadenz), dann haben wir das gleiche kompositorische Rüstzeug wie Ralf Siegel!

  26. Was mir am besten gefällt, ist dass da

    Grundkurs Grand-Prix (1): Rückung

    steht, dass heißt wir bekommen noch mehr Folgen, vom Wissen, dass die Welt zwar nicht aber ich doch hin und wieder brauche.

    *freu*

  27. @34: Zu AC/DC, das Geschrammel auf F kurz vor Schluss ist tatsächlich keine Rückung. Eine solche wäre es, wenn etwa die letzte Strophe das komplette Bluesschema auf Basis F transponiert hätte. So ist es nur ein im Blues gar nicht unübliches Stilmittel, um im Finale kurz vor Schluss noch ein wenig Dramatik reinzukriegen.

    Ein schönes Rückungsbeispiel ist auch „In the year 2525“, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt.

  28. @ SvenR: Du meinst so wie in „Loaded Weapon 1“? , der im übrigen der beste Film mit Samuel L. Jackson ist!

  29. ich find solches wissen absolut genial. das macht unsere welt ein wenig lebenswerter. schön ist auch mal wieder den martin stosch im ersten video zu sehen.

  30. @3 und 5: Die Frage, ob die Gitarre hörbar abgemixt ist, lässt sich relativ einfach beantworten, wenn man sich mal das Mikro angu.. oh, kein Mikro. Bleibt die Frage, ob das Kabel in der Gita.. oh.

  31. Zurück zum Halbfinale: Wo kann man die Drogen der Kostümdesiger / Songschreiber kaufen?

  32. Ich habe da mal eine Frage (und vielleicht auch etwas für „Grundkurs Grand-Prix (x)“). Und zwar würde ich gerne wissen, was genau man unter „Timbaländlichkeit“ versteht?

  33. Mischt jeden „Künstler“, der ncht schnell genug auf den Bäumen ist. Gut, stimmt so nicht, großartiger Produzent mit Hitgarantie

  34. mal nebenbei: könnte es sein, dass „making your mind up“ der beste song aller zeiten ist?

  35. @Felix, #29: Der Musik vorzuwerfen, sie sei kalkuliert … – meinst Du Mozart, Bach und Beethoven waren heitere Naturburschen, die ihre Noten aus einer unverstellten Authentizität schöpften?

    Das Musik kalkuliert ist, ist ja wohl das mindeste was man erwarten möchte.
    Selbst der Amsel kaufe ich nicht ab, daß ihr Gesang ohne HIntergedanken ist.

    Kommen wir nun zu something complete different:
    Meine Rückung, Mothers finest, Baby love, 2:00
    http://youtube.com/watch?v=fmbaHaiIldA&feature=related

    Ich betrachte das Stilmittel als Katalysator: scheußliche Musik wird dadurch noch schlimmer, bei guter Musik wirkt es erfreulich.

  36. Selbstverständlich sollte man hoffen, dass Leute sich bei Musik etwas denken, aber mir ist’s dann doch lieber wenn sie es schaffen das etwas weniger holzhammermäßig auszudrücken.

    Wenn Beethoven in Grandprixmanier kalkuliert hätte hätte die Fünfte ihr Motiv immer nur in einer Stimme damit’s auch jeder oft genug mitkriegt, dann nach 2:30 die Rückung und danach noch 20 mal die 4 Töne und das wär’s.

  37. […] Der Song an sich ist nicht spektakulär, die Darbietung auch nicht. Trotzdem gibt es irgendwas daran, was ich sehr mag. Vermutlich liegts an der Karmen-Stavec-Gedächtnis-Leggins und -Frisur sowie an der obligatorischen Rückung. […]

  38. Also ich lese diesen Blog noch nicht lange, und was mir auffällt, is dass ihr ein ungewöhnlich sicheres Händchen dafür habt Videos einzubetten, die im Laufe eines Jahres verschwinden. Ich weiß, dass IS im Internet halt so, aber es frustriert, weil ich die beiden Engländer mit der doppelten Rückungen verdammt noch mal sehen will! und jetzt muss ich den mist selbst bei youtube eingeben, das kann doch nciht sinn der sache sein… aber ich merke schon, ich komme ins plaudern, meine rechtschreibung hat sich irgendwie mittendrin verabschiedet und mir bleibt nur noch zu sagen:

    Toller Blog, toller Beitrag, bitte Videos neu einbetten.

  39. Oder, eleganter ausgedrückt: „Sekundensprung“. Den kann man richtig gut machen wenn nicht nur der Ursprung transponiert wiederholt wird sondern sowohl melodie als auch Arrangement eine Steigerung erhält ;-) Höre: Chillwalker: The Csilla: Chillwalker „The Chilla“. Ein Riesenspass und so wirkungsvoll, hehe!

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