Im Fernsehen wird nicht gestorben

Ich habe eigentlich gar keine Zeit, das jetzt aufzuschreiben, fürchte aber, dass mein Mund vorher nicht wieder zuklappt. Die Kollegin Antje Hildebrandt berichtet auf „Welt Online“ über die „Popstars“-Folge von gestern, die soviel (zumeist unberechtigten) Wirbel ausgelöst hat.

Während der Dreharbeiten zu der Casting-Show ist die Mutter einer Kandidatin unerwartet gestorben. Die Kameras sind, anders als eine Schwesterzeitung der „Welt“ behauptet hatte, nicht dabei, als sie diese Nachricht bekommt. Die Sendung zeigt das Mädchen auch hinterher nicht, sondern nur die Hilf- und Fassungslosigkeit der anderen.

Frau Hildebrandt meint, dass das verboten sein müsste.

Was machen die Produzenten einer Casting-Show, wenn die Mutter einer Kandidatin plötzlich stirbt? Pro Sieben baute das persönliche Unglück einer ihrer Kandidaten in die Dramaturgie mit ein. Ein unerträglicher Faux pas, der ein rechtliches Nachspiel haben sollte.

Bevor Frau Hildebrandt sich damit beschäftigt, was da im Fernsehen zu sehen war, erklärt sie uns, was das überhaupt ist, so ein „Tod“:

[Der Tod] ist die Antithese der Show. Er konfrontiert uns mit der Erkenntnis, dass das Leben kein Selbstbedienungsladen ist. Am Ende schnurren alle Sonderangebote auf zwei Optionen zusammen: On oder Off. Sein oder Nichtsein.

(Nehmen Sie sich eine Minute, um über dieses Bild nachzudenken.)

Sie meint dann, dass ProSieben die Trauer der anderen Mädchen auf gar keinen Fall hätte zeigen dürfen: „Das gebietet schon der Respekt vor den Gefühlen der Familie von Victoria.“ Darüber kann man natürlich streiten. Ich hätte es wesentlich zynischer gefunden, auf diese paar Minuten Kitsch zu verzichten, die ein Abschied von Victoria waren, und unmittelbar zur Tagesordnung zurück zu kehren.

Dann zitiert Hildebrandt die wohlfeilen Kritiker, die sich (vermutlich ohne die Sendung gesehen zu haben) vorab empörten, und nennt es eine „Ironie des Schicksals“, dass „ausgerechnet die Kritik an der Sendung zur PR“ wurde:

Any motion is promotion.

Das ist eine anscheinend selbst erfundene Redensart, die die Kollegin so sehr mag, dass sie sie nun schon zum dritten Mal in eine ihrer Fernsehkritiken eingebaut hat (zuvor über „Wetten dass“ und die Dschungelshow).

Über die Pressemitteilung, mit der ProSieben der Falschmeldung der „Bild“-Zeitung widerspricht, schreibt Hildebrandt schließlich:

Das Dementi ist die makabere Schlusspointe einer Geschichte, von der man nur hoffen kann, dass sie ein Nachspiel vor Gericht haben wird.

Vielleicht kann ProSieben ja den Tod verklagen.

[Auf ProSieben.de kann man sich die Folge noch eine Woche ansehen. Die umstrittene Szene beginnt ungefähr ab 16.00.]

45 Replies to “Im Fernsehen wird nicht gestorben”

  1. Auch schön in dem Text: „Herr Reich-Ranicki, so berechnend er auch sein mag…“ Ganz im Gegensatz zur Springer-Presse natürlich!
    Das Leben ist ja auch bekanntlich kein Wunschkonzert.

  2. Ich verstehe die Argumentation nicht – wenn der Tod die Antithese der Show ist, ist es dann nicht mutig von der Show, aufklärerisch, subversiv gar, ihn dennoch vorkommen zu lassen?

    Oder soll das Fernsehen nach Meinung der Autorin seine Zuschauer in dem Glauben lassen, das Leben sei ein Selbstbedienungsladen?

    Vielleicht erfahren wir es ja heute abend aus gegebenem Anlass.

  3. Oh bitte ProSieben, verklagt den Tod. Nachdem der sich doch bei Simpsons und Family Guy schon so gut gemacht hat. ;(

  4. on…off…on…off…sonderangebot…kein sonderangebot…sonder…off…on…arrghhhh!!! Ich will keine Minute über solch ein Bild nachdenken müssen…on …off…piiiiiiiiiiiiiiip_____________

  5. Das wusste ich ja gar nicht, das mit den zwei Optionen am Ende. Ich wähle dann bis auf weiteres ‚on‘.

  6. Einmal abgesehen davon, dass ich die hier zitierten Zeilen von Frau Hildebrandt sehr einfallsreich finde; einmal abgesehen davon, dass ProSieben es hätte viel schlimer machen können. Ganz abgesehen davon, finde ich die ganze Sache trotzdem hart. Ich halte die gestern von ProSieben ausgestrahlte Szene ebenfalls, wie der ein oder andere Kritiker, schon wieder zu viel des Guten. Als ich mir die Szene in YouTube angesehen habe, fand ich das sehr schlimm und habe mitgelitten. Als Andenken für das sechszehnjährige Mädchen halte ich das also nicht für sehr gelungen. Und auch nicht insofern, als dass sie viele darauf ansprechen werden.

  7. @Frederic Schneider: Aber es ist doch sehr schlimm. Und ist es nicht richtig, dass man mitleidet mit den Mädchen?

    Bitte nicht missverstehen: Ich finde auch, dass da noch viel Luft nach oben war. Und dass ProSieben das deutlich sensibler hätte machen können — zum Beispiel ohne die Zwischenschnitte auf die (offenbar bei anderer Gelegenheit) weinende Victoria. Und ohne so lang den um Fassung ringenden D! zu zeigen. Ich bin auch sehr für eine kontroverse Diskussion genau darüber: Wie kann und soll ein Sender im Rahmen eines solchen Formates mit einem solchen Schicksalsschlag umgehen? Und inwiefern ist vielleicht das ganze Format mit dem unglaublichen Druck, unter den die Kandidatinnen gestellt werden, eigentlich schon jenseits dessen, was wir im Fernsehen akzeptabel finden.

    Aber diese fruchtbare Diskussion kann man nicht führen, wenn man sich im hysterischen DIE-HABEN-DEN-TOD-IN-DIE-SENDUNG-GELASSEN verheddert und nach Gerichten ruft.

  8. Keine Frage, Frau Hildebrandt verliert sich – ebenfalls wie ProSieben – in der Dramatik und macht sich insofern meiner Meinung nach ein wenig mitschuldig. Sie geht richtig in die Debatte, aber skandalisiert, statt seriös das Thema zu diskutieren. ProSieben ist bestimmt auch nicht geholfen, indem man juristische Schritte erwägt. Den Produzenten muss vielmehr klar werden, wie sie mit einem persönlichen Schicksal eines Mädchen, einer ganzen Familie umgeht. Ich finde es schrecklich, dass man – warum auch immer – nicht bedenkt, dass davon Millionen Menschen hören und es sehen und dieses Mädchen (mit 16 Jahren!) womöglich auf der Straße angesprochen wird: „Hallo, du warst doch die im Fernsehen, wo deine Mutter gestorben ist?“ Pardon, aber das grenzt für mich an Perversität.

  9. Könnten Sie uns, Herr Niggemeier, mal direkt Ihre Meinung zu dieser Angelegenheit mitteilen, anstatt lediglich die Meinungen anderer dazu als fragwürdig hinzustellen?

  10. „Das ist eine anscheinend selbst erfundene Redensart, die die Kollegin so sehr mag, dass sie sie nun schon zum dritten Mal in eine ihrer Fernsehkritiken eingebaut hat (zuvor über „Wetten dass” und die Dschungelshow).“

    Nicht zwingend. Google sez:
    http://www.musicline.de/de/artist_bio/Martin,Ricky
    (ein undatierter und anonymer Promo-Text, vermutlich von 2003)

    http://www.comicforum.de/showthread.php?t=29009
    („Auge“ wäre in dem Fall Jörg Augsburg, Leipziger Musikjournalist)

  11. Sprich, Sie wollen das öffentliche Leben nicht so nehmen wie es ist? Sie wollen gerne Ernst bei der Sache bleiben, wo täglich irgendwelche Leute in die Öffentlichkeit drängen, und merken, dass es nicht gut geht? Ich kann meine Meinung auch gerne verklausulieren, damit Sie keiner Ihrer Leser versteht und niemand sich dran reibt. Ein Kommentar unter vielen. Mit dem Strom schwimmt es sich leichter, schon klar. Aber ehrlich gesagt ist der Tod nichts, vor dem man sich fürchten muss. Und zudem war mein Kommentar an Frederic gerichtet – man kennt sich, bzw. wir kennen uns, er hat mich auf Ihren Artikel aufmerksam gemacht, weil ich Ihren Blog für gewöhnlich nicht frequentiere. Obgleich es durchaus Überschneidungen in der geistigen Anschauung bei Ihnen und meiner Wenigkeit gibt. Allerdings bin ich wohl nicht geneigt, Dinge besonders nüchtern zu formulieren, wenn sie geradezu dazu geeignet sind, sie nicht ernst zu nehmen. Frederics Beitrag ist in meinen Augen eine Farce. Wenn jemand sich ins öffentliche Leben wagt, egal ob er Koch, Haider oder wie auch immer heißen mag, dann hilft ihm das nicht, den Tod auszutricksen.

    Noch eine Randnotiz: Sie sollten Ihren Namen in der Kommentarunterschrift ausschreiben. Sonst hat das „Sie“ etwas Lächerliches, wenn es von einem „Stefan“ kommt. Das ist, wie wenn Schwiegereltern einen ständig beim Vornamen nennen, aber einem nie das Du anbieten. Kann ich jedenfalls nicht ernst nehmen.

  12. Der Tod ist wie die Geburt Bestandteil des Lebens und so wie die Medien und Dummschwätzer darin das Leben in all seine Bestandteile verwursten, warum dann auch nicht den Tod!

    Ich sehe nichts verwerfliches am Sichtum der Medien. Zum Glück leben die, die die Medien mit ihren erwartungslosem Leben ausfüllen und sich für unwichtig wichtig halten, auch nicht ewig.

  13. Stimmt, Herr Trust. Man sollte den Gastgeber sicherlich duzen. Es sollte jedem klar sein, wer mit Stefan gemeint ist, zudem sollte man wirklich jeder Person Respekt zollen, egal ob Max Mustermann oder Gänseblümchen74.
    BTT:
    Argumentation#2 von Sebastian ist sehr schön, denn das Fernsehen soll das reelle Leben doch widerpsiegeln. Und dazu gehört der Tod und auch Trauer und Schock nach solch einer Schreckensnachricht; – Ist doch menschlich! Ich verstehe die Aufregung nicht.
    Also ich fand die Darstellung ProSiebens nicht so schlimm. Es hätte viel schlimmer kommen können. Aber so geht das in Ordnung. So viel respekt, die Story ganz außen vor zu lassen, muss ich gestehen, hätte ich den Privaten eh nicht zugemutet *evil*

  14. Der Tod darf nicht ins Fernsehen?
    Warum?
    Er ist doch längst drin.

    Wir schauen in den Nachrichten Menschen zu, wie sie sich aus dem WTC stürzen, wie sie sich gegenseitig über den Haufen schießen oder wie ihre zerfetzten Körper nach Sprengstoffanschlägen aussehen. Wir zeigen zerstörte Autowracks mit Blutspuren im Fernsehen. Oder wir halten der trauernden Frau in *hier Kriegsgebiet einfügen* die neben dem Leichnahm ihres Toten Familienmitglieds schreit die Kamera noch tiefer ins Gesicht.

    Überall wird gestorben und gemordet.
    Was soll also dabei sein, in einer X-beliebigen Castingshow, die sowieso nichts mit Musik, sondern mit der systematischen Dekonstruktion und Observation naiver bis dummer Jugendlicher zu tun hat, ein paar, für eine Verstorbene vergossene Tränen, zu zeigen?

    Nichts ist dabei. Absolut gar nichts.
    Ob man das sehen möchte kann man ja, dem Universum sei Dank, immer noch mit der Fernbedienung entscheiden.

  15. Mal nur so dahin gefragt: Kann es vielleicht sein, dass PRO7 die Szene, in der die Kandidatin vom Tod ihrer Mutter erfahren hat, noch schnell herausgekürzt hat – angesichts des Presseechos?
    Es gab ja offenbar eine Version, die vorab der Presse gezeigt wurde – ist es sicher, dass es sich um genau die Version handelt, die dann im Fernsehen gezeigt wurde? Nur mal so dahin gefragt…

  16. Nun kann man natürlich argumentieren, dass sich Teilnehmer einer solchen „Show“ freiwillig in die Fänge der Privatfernseh-Medienmaschinerie begeben. Oder auch, dass naive junge Leute willkürlich ihr Recht auf Privatsphäre zum Teufel jagen unter der scheinheiligen Vorgaukelung von sogenanntem „Ruhm“ oder fragwürdiger „Berühmtheit“ und dabei unter vertraglicher Bindung alles mit sich machen lassen (müssen). Dann wären wir wieder bei der doch recht alten Diskussion, ob man solche Menschen nicht vor sich selbst schützen muss, oder ob den angehenden Rampensäuen nicht doch eher Recht geschieht, denn sie wollen es ja angeblich so.

    Ob man in einem Fall wie diesem so argumentieren *sollte* – ich weiss es nicht.

    Der Tod ist sowas wie die letzte Instanz der Würde – auch der Würde der Angehörigen, wohlgemerkt. Der Tod löst gemeinhin viel Leid aus, Mitgefühl ist da grundsätzlich angebracht. Praktisch keine andere Situation verlangt so sehr danach, die Wünsche der Hinterbliebenen in den Vordergrund zu stellen und zu respektieren, sie zu unterstützen, sie zu schützen, sie nicht zu belasten. Für Pro7 hiesse das in einer Situation wie dieser unter Anderem, nichtmal den Anschein zu erwecken, aus der Situation irgendwie Kapital zu schlagen, auch nicht über Dritte oder Nahaufnahmen von deren Tränendrüsen. Angebracht wäre eine respekt- und würdevolle Behandlung, soweit möglich entsprechend den Wünschen der Betroffenen. Inwieweit das geschehen ist, sei dahingestellt. Kann ich nicht beurteilen.

    Natürlich setzte das Voraus, dass man bei Pro7 wüsste, was Würde und Respekt und Pietät und ähnliche menschliche Umgangsformalia sind. Gehen wir mal davon aus.

    Dabei allerdings nach Justiz und Gerichten zwecks Auswertung und Sanktionierung zu schreien, das ist gelinde gesagt lachhafter Schwachsinn.

  17. @Michael W: Jedenfalls ging es mir nicht um das Siezen. Aber es gibt natürlich auch im Internet Wege, Distanz anzuzeigen. Mit dem eigenen Vornamen irgendwo zu unterschreiben, und dann die Leute zu siezen, macht für mich eben wenig Sinn.

    @all: Das ganze ist wie mit Anglizismen. Es gibt immer Leute, die sich darüber aufregen. ;) Ich halte nich viel über künstliches Sich Aufregen. So wie Literatur, Musik, Kino, etc. ist auch Fernsehen ein Spiegel der Zeit. Mag sein, dass manche Leute das pietätlos finden, aber im Prinzip ist das Ausgestrahlte nicht das eigentliche Problem. Es geht wohl eher darum, welche Gruppe (die Konservativen, die Liberalen, etc. pp.) in der Gesellschaft, oder eben in der Medienlandschaft das Sagen haben. Darum wird gekämpft, und solche Anlässe wie die Popstars-Todmitteilung sind dann nur die Eröffnungszeremonie für Kriegsschauplätze in Feuilletons und der Presse, die dann Machtkämpfe kämpfen, Spielchen spielen. Wen das stört, der darf natürlich gerne was sagen, wenn es auf fruchtbaren Boden fällt, dann wird der Eklat nicht groß, sondern die Reaktion noch entschiedener. Wenn Pro Sieben in der Folge mit Sanktionen zu rechnen hat, wissen wir, dass das Machtgefüge sich weiter Richtung Konservativer verschiebt. Ein Beispiel dafür ist die Verschärfung, bzw. streckenweise Verballhornung des Jugendschutzes bei Computer- und Videospielen.

  18. @Alexander Trust:
    Wenn Du nicht viel über (über?) „künstliches Sich Aufregen“ hältst, warum regst Du Dich dann künstlich über die Zensur Deiner Polemik auf?

    aber im Prinzip ist das Ausgestrahlte nicht das eigentliche Problem. Es geht wohl eher darum, welche Gruppe (die Konservativen, die Liberalen, etc. pp.) in der Gesellschaft, oder eben in der Medienlandschaft das Sagen haben.

    Wenn ich das richtig verstehe: also erstmal wirklich absolut alles senden, und dann mal sehen wer sich aufregt, und sich dann darüber aufregen wer sich aufregt?

    Ich stimme nicht zu. Das Ausgestrahlte kann sehr wohl schon das eigentliche Problem sein. Es gibt etablierte soziale Konventionen, Mindestanforderungen an Respekt und menschlichen Umgang miteinander, grundlegende ethische Standards. Die potentiellen Reaktionen auf das Brechen solcher Standards sind ebenso ein Indikator für den Zustand einer Gesellschaft wie der Bruch selbst. Es gibt Dinge und Bereiche, bei denen es sich von selbst verstehen sollte, dass man sie nur sehr vorsichtig und respektvoll oder auch garnicht berührt. Man darf schon diskutieren, ob z.B. Pro7 diese besagte Situation angemessen distanziert gezeigt oder ungebührlich sensationslüstern ausgeschlachtet hat.

  19. @Nona: Das sind durchaus verschiedene Dinge, jedenfalls in meinen Augen. Ich hatte auch mit meiner Polemik etwas ausgesagt, und finde es schade, dass sie gelöscht wurde. Deshalb meine Reaktion. Herrn Niggemeiers subjektives Werturteil hat das Niveau meiner Aussage gekennzeichnet. Das ist okay, er hat Hausrecht, ich habe ihn gefragt, warum. Ich bin in meinen Augen niemandem zu nahe getreten, vor allem nicht ihm. Jörg Haider einen A-F zu nennen war in meinen Augen lediglich überspitzt formuliert, aber nicht unwahr? In der Presse geistert die Bezeichnung Rechtspopulist, die meines Erachtens diese Figur des öffentlichen Lebens eher verharmlost(e). Meine Polemik ging sich darum, dass ;) dieses Mädchen bei Popstars den Weg in die Öffentlichkeit sucht, wie viele andere. Grob gesprochen, viele fliegen damit auf die F… Aber Frederics Ansicht nach dürfte man das bei der 16-Jährigen ja nicht machen. Wenn man von jungen Leuten Verantwortung erwartet, dann muss man sie notwendigerweise mit solchen Dingen konfrontieren. Der Tod der Mutter war ein Schicksalsschlag, den Pro Sieben sich bestimmt nicht ausgesucht hat. Jörg Haider und andere dienten in meinem polemischen Kommentar als Beispiele für Verstorbene, die Leute zurücklassen, die ebenfalls, wie von Frederic bemerkt, von anderen angesprochen werden, auf den Verlust. So wie ich es jetzt formuliert habe, würde offenbar Herr Niggemeier auch mit mir diskutieren. Wobei, jetzt wahrscheinlich auch nicht mehr, weil ich es mir mit ihm verscherzt habe. ;)

    Und: Nein, ich habe gar keine Aussage zum Senden oder nicht Senden gemacht. Ich habe nur gesagt, dass man an dem Gesendeten sehen kann, in was für einer Zeit man sich befindet, und den Reaktionen über Gesendetes und den Folgen gut erkennen kann, welche gesellschaftlichen Kreise gerade wo etwas zu sagen haben (wollen). Kann man meinetwegen als seichten Strukturalismus bezeichnen, in der Folge von Bourdieu. Es gibt die, die was zu sagen haben, und jene, die daran etwas ändern wollen, Orthodoxe und Heretiker. So hat es zumindest Bourdieu formuliert. Finde das Bild passend. Wir haben doch, bzw. ich habe, so weit ich mich zurückerinnern kann – schon vor 20 Jahren Kritik an Formaten und Ausstrahlungen im Fernsehen erlebt. Für mich ist das Phänomen als Solches nicht wirklich interessant. Ich lehne mich zurück und beobachte, welche Seiten dabei welche Rolle spielen (wollen). Weil mein eigenes Leben dadurch wenig beeinflusst wird. Meine Medienkompetenz ist ausreichend, um sich nicht zu sehr einlullen zu lassen und meine Skepsis ist zu groß, als dass ich irgendeiner Seite einen Persilschein ausstellen möchte. Ich bilde mir gern meine eigene Meinung. Big Brother, DSDS, Die Mini-Playback-Show… immer gab es Grenzen, und Leute, die die Grenzen übertreten haben. Die Diskussion die darauf hin folgte… na ja, viel heiße Luft. Höchstens eine Art Indikator, was ist möglich. So sagt man es auch bei Politikern: Wenn jemand eine Idee hat, macht er sie medial publik, wartet das Echo ab und weiß dann, ob er seine Idee wird umsetzen können oder nicht. Nur im TV und bei den genannten Formaten gab es zwar ein Echo und Bohei, aber, wenn ich mich recht erinnere keine folgenschweren Sanktionen, oder? Bohlen darf Sprüche klopfen, Raab Leute beleidigen, usw. usf. – Das kann doch eigentlich nur zweierlei bedeuten. Es gibt zu wenig Fürsprecher, die die Kritik an dem Ausgestrahlten teilen, damit wirklich etwas passiert. Oder aber die Machtverhältnisse bei denen, die darüber zu entscheiden haben sind ungünstig für die Contra-Partei.

  20. Ich weiß nicht, obs schon erwähnt wurde. Bereits in Staffel 5 (New Angels) ist der Vater einer Kandidatin verstorben. Das Thema wurde damals in der Show lang und breit ausgebreitet (zuerst war er auch nur krank, und sie hat natürlich für ihn gesungen, musste weinen usw.) und nach der Todesnachricht wurde die Kandidatin auch gezeigt. Im Vergleich dazu ist die aktuelle Geschichte fast schon behutsam im Umgang mit dem Thema.

  21. Übrigens fand ich die Szene in der D! dann sagt: „Jetzt machen wir die Kameras aber mal aus“ etwas bigott, als Signal an die jüngeren Zuschauer aber im Gesamtbild richtig: Man muss auch nicht alles zeigen im Fernsehen.

  22. (Entschuldigung, wenn ich hier jetzt all zu viel schreibe, was schon gesagt wurde, aber die Diskussion mit Alexander Trust wollte ich nicht zu Ende lesen. Demnaechst schreibe ich hier wieder disziplinierter.)

    Innerhalb eines Formats, das von den Emotionen der Teilnehmer lebt (und es in diesen unsaeglichen „Du bist raus…nicht! Oder doch?“-Spielchen ueber die Schmerzgrenze hinaus ausreizt, wie ich finde) diese Szene so zu zeigen, wie sie ausgestrahlt wurde, finde ich eigentlich recht gelungen. Gerade den Fans eine emotionale Bindung zu den sonst so unerreichbar scheinenden „Stars“ zu ermoeglichen, ist doch immer der Reiz dieses Formats gewesen. Und der Tod ist nunmal nicht eine Antithese oder sonst irgendwelches Geschwurbel, sondern ein Teil des taeglichen Lebens. Dem Maedchen wurde die Privatheit dieses Moments gelassen und die Zuschauer nahmen Anteil an dem Schicksal, also wo ist das Problem? Selbst D!, der ja nun wirklich nicht gerade durch soziale Kompetenz auffaellt, scheint da kurz zur Besinnung zu kommen. Ich wuesste nicht, an welchem Punkt da ein Gericht aktiv werden sollte.
    Und was waere passiert, wenn Pro Sieben gar nichts von dem Tod der Muttert erzaehlt haette? Ich spekuliere mal, dass dann die Bild am naechsten Tag vor der Tuer der Familie gestanden und gefragt haette, warum die Kandidatin denn ausgestiegen sei. Das waere nun wirklich Quark gewesen.

  23. Zum Fussnägelaufrollen ist auch das regelmäßig auftretende Phänomen, dass sich Kommentare zu Artikeln, die wiederum andere Artikel kommentieren, in Diskussionen über das Thema des kommentierten Artikels verwandeln.
    So als wollte man einem Artikel über den medialen Umgang mit „Knut“ dazu benutzen, Leben und Werk von Eisbären kontrovers zu kommentieren…

  24. @30 (johanna):
    „Und dann war es gar nicht so wild. Für Prosieben Verhältnisse doch direkt taktvoll.“

    Das klingt schon wieder nach „Besser als erwartet“. Ein Schelm, wer dabei denkt, ProSieben wolle mit dieser Masche seinen Ruf aufbessern.

  25. @36: „Besser als erwartet”

    Stimmt, so habe ich es auch empfunden. Allerdings tendiert das Format mit jeder Staffel zunehmend in Richtung Emotionspornographie mit schier endlosem Hinhalten bei den Entscheidungen, Rücknahmen von ausgesprochenen Rauswürfen…

  26. Ein Aspekt kommt mir in der Debatte zu kurz:
    Bilden Reality-Formate wie Pop-Stars tatsächlich Realität ab? Nein, wie wir doch alle wissen (sollten). Vielmehr ist es doch eine inszenierte, dramaturgisch aufbereitete „Realität“. Ein Drehbuch, mit dem Arbeitstitel: „Echte Menschen in gebauten Kulissen“
    Sämtliche Storylines, Erzählstränge, Emotionen lassen sich innerhalb solcher Formate nach Belieben drehen, wenden und zurechtformen. Und dann bricht plötzlich in Form des Todes die einzige in unserer Gesellschaft noch vorhandene Hyper-Realität in diese künstliche Welt ein, …für die es dann natürlich auch kein Regiekonzept geben kann. Zumindest keines, das wirklich angemessen wäre.
    Man könnte sich eher die Frage stellen, ob es nicht problematisch ist, sechzehnjährige, denen die Welt der „Popstars“ oft realer scheint als ihr tatsächliches Leben, zu Protagonisten eines solchen Produkts zu machen.

  27. … auch ich finde die Lösung, mit der Pro7 diesen „Schicksalsschlag“ in die Sendung einbaut, recht gelungen. Die Alternative „herauslassen“ mag sicherlich – in unseren Augen – die ethischere sein, aber im Denken der Redakteuren – der Veröffentlichung jedweder Gefühlsregung – ist das gut gelöst. Und ich glaube auch, daß man dieses Ereignis nicht ständig aus dem Verhalten und den Äußerungen der Protagonisten herausschneiden kann.

  28. Ich finds schwierig auf Anhieb zu sehen, dass die Szenen der weinenden Victoria aus altem Bildmaterial stammen. Mir stellt sich die Frage, warum ProSieben diese überhaupt reinschneidet, wenn doch „würdevoll“ mit Tod und Trauer umgegangen werden soll? Dann hätte man das ja auch gleich weglassen können, oder?

    Viel schlimmer finde ich aber die darauffolgende Szene in der die Gruppen neu eingeteilt werden. („… das du ihren Platz mit ganz viel Stolz ersetzt!“) und als Kandidatin Virginia rumheult „Aber um in heulen auszubrechen, während wir einen Tag davor noch davor so traurig waren wegen einer wirklich traurigen Sache, dann kann man das nicht nachvollziehen.“

  29. Auch meiner Meinung nach trifft Antje Hildebrandts Artikel nicht den richtigen Ton. Auch MRRs Kritik traf ihn nicht. Das ändert aber nichts an der Wahrheit, die beiden Meinungen im Kern innewohnt.

    Das Problem liegt jedoch nicht im Umgang mit dem Todesfall, sondern in dessen Umfeld begründet.

    In einem Teil des aktuellen Fernsehprogramms, insbesondere den mannigfaltigen Casting-Formaten, wird das gesamte Geschehen so stark emotionalisiert, so dick aufgetragen, dass echte Emotionen dann plötzlich wie dunkle Monolithen im Raum stehen, die zu beschreiben kein angemessenes Bildvokabular mehr gefunden werden kann.

    Das passt es nur zu gut, dass die zum Todesfall gezeigten Bilder der weinenden Victoria aus einem anderen Zusammenhang stammen – schließlich werden alltägliche Zickereien ähnlich emotional aufbereitet wie es doch eigentlich weit größeren Schicksalsschlägen vorbehalten sein sollte.

    Es ist ein ganz ähnliches Dilemma, vor dem die Bild-Zeitung steht, wenn tatsächlich Ereignisse passieren, die seitengroße, doppelt rot unterstrichene Überschriften erfordern: Wie soll man die Headline noch lauter machen, wenn alle Regler schon beim banalen Bohlen-Patzer auf Maximum stehen?

    Sicher, die Macher haben einigermaßen angemessen reagiert – aber gerade deswegen wirkt der Übergang zum Tagesprogramm so zynisch. Denn gerade diese Bruchstelle offenbart dessen ganze überdrehte Nonstop-Hysterie.

  30. @38, johanna:

    stell dir einmal vor, ein Call-in-Sender brächte ein Rätsel, bei dem man wirklich knobeln muss. Sowas wie Sudoko oder etwas ähnliches, würde aber sonst nichts am Programm ändern. Das wär auch „Besser als erwartet“ und würde den Ruf des Senders bei der Allgemeinheit verbessern.

    Man stelle sich jetzt vor, dies geschieht gezielt. ProSieben persönlich setze bewusst auf Skandale schon vor der Ausstrahlung, um dann zu zeigen, dass das Programm ja gar nicht schlecht ist, wie man es erwartet hat. Emotional nehmen wir das Programm dann als „gut“ an, obwohl es immernoch „schlecht“ ist, aber immerhin „besser als erwartet“ weil Pro7 ja mit den Negativschlacgzeilen die Erwartungen an die Sendung künstlich heruntergeschraubt hat. Mutmaßlich, versteht sich.

  31. Kann sich jemand an die deutsche Version von MTVs „The Real World“ erinnern? Keine Ahnung mehr, wann und wo das lief, aber es war lange Zeit vor dem ersten „Big Brother“, und ich weiß noch ziemlich genau, daß eine der Teilnehmerinnen während der Aufnahmen an das Krankenbett ihrer Mutter gerufen wurde, die kurz darauf verstarb. Die Kamera war am Krankenbett dabei – und auch, als die Teilnehmerin nach dem Tod in die Wohnung zurückgekehrt war und trauernd auf dem Boden saß, hielt die Kamera voll drauf. – Das scheint wohl in Vergessenheit geraten zu sein …

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