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Phänomenologie: Die Hundepension

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Beim ersten Mal haben sie ihm das Halsband angeknabbert. Beim zweiten Mal komplett durchgebissen. Nach dem dritten Mal fehlte ihm ein Stück Fell am rechten Ohr. Mein Hund muss, mit anderen Worten, eine fantastische Zeit gehabt haben.

Wenn man als Hundebesitzer im Urlaub oder auf Dienstreise ist, wird man besorgt gefragt, wohin man das arme Tier verbracht habe. Das Wort „Hundepension“ als Antwort scheint, den halb vorwurfsvollen, halb mitleidigen Blicken nach zu urteilen, nicht ganz die Assoziationen von aufgeschüttelten Kissen und selbstgebackenen Hundekuchen zu verströmen, die die Betreiber solcher Etablissements sich sicher versprechen.

Dabei ist meine Sorge nicht, dass es meinem Hund da nicht gefällt. Meine Sorge ist, dass es meinem Hund da zu gut gefällt. Er hat dort den ganzen Tag eine Meute von Artgenossen um sich, die er jagen, knuffen oder anbellen kann und die ihm, aus Dank oder als Revanche, ein Ohr abkauen. Zum Vergleich: Sein regulärer Hundealltag besteht darin, mir zuzugucken, wie ich abwechselnd vor einem Computermonitor und einem Fernsehschirm sitze.

Man weiß es natürlich nicht. Man weiß nicht, ob die freundlichen Hundepensionseltern, sobald man vom Hof gefahren ist, nicht den großen Außenbereich ab- und die Tiere in den Keller sperren und nur alle paar Tage mal neues Futter die Treppe herunterwerfen. Vor allem aber weiß man nicht, wie ein Hund auf das Konzept der Hundelandverschickung reagiert. Hunde haben, soweit man weiß, keinen guten inneren Kalender, und selbst wenn sie ein klares Konzept von „Zukunft“ hätten, das über die Erwartung, am Abend wieder gefüttert zu werden, hinausgeht, würde es uns schwer fallen, ihnen die Details zu vermitteln: Herrchen ist jetzt mal für zwei Wochen weg. Entsprechend schlecht sind Hunde im Abschiednehmen, weshalb man sich immer heimlich hinter ihrem Rücken vom Hof der Hundepension schleicht, was das eigentliche Gefühl, dass sie es hier gut haben, durch den Gedanken verdirbt, sie betrogen zu haben.

Beim Abholen dann das umgekehrte Dilemma: Je mehr er sich über das Wiedersehen freut, was ja eigentlich eine schöne Sache ist, desto größer die Sorge, dass er einen vorher schrecklich vermisst hat (oder, wie gesagt, wie im Knast bei Wasser und trocken Futter gehalten wurde). Ungefähr zwei Minuten lang ist mein Hund außer sich vor Freude, mich wieder zu sehen. Schon im Auto auf dem Rückweg, bilde ich mir ein, setzt die Enttäuschung darüber ein, dass das Vierundzwanzig-Stunden-Toben im Rudel nun auch vorbei ist. Wenn er es sich aussuchen könnte, würde ich einfach mit ihm zu den anderen Kläffern ziehen. Aber wir wissen ja: Das Leben ist keine Hundepension.

Helena Fürst

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Man kann vieles gegen Helena Fürst sagen. Aber sie schafft es, dass man sie schon nach zwei Minuten schlagen möchte. Das muss man auch erstmal schaffen.

RTL hat Helena Fürst von der Straße geholt. Sie war selbstverschuldet in Not geraten, hatte sich beruflich in eine Sackgasse manövriert. Sie hatte als Sozialfahnderin für den Kreis Offenbach gearbeitet und eine kurze, steile Medienkarriere gemacht, indem sie das Fernsehen mitnahm in die Wohnungen von Hartz-IV-Empfängern, die alle unter Schmarotzerverdacht standen. Sie überprüfte für die Sat.1-Sendung „Gnadenlos gerecht“, ob das Elend wirklich schon groß genug war, dass der Staat helfen müsste. Helena Fürst inszenierte sich als Richterin mit dem Mitgefühl eines Hochdruckreinigers.

Anderen gefiel sie in dieser Rolle offenbar nicht so gut wie sie sich selbst. Sie sagt, sie sei von Betroffenen bedroht und von Kollegen gemobbt worden. Sie ließ sich krankschreiben und flüchtete nach Berlin. RTL schenkte ihr eine neue Identität: Als „Anwältin der Armen“ half sie nun Menschen im Kampf gegen Behördenwillkür; seit vergangener Woche regelmäßig in der Primetime (mittwochs, 21.15 Uhr).

Die Firma „Solis TV“, die auch schon „Gnadenlos gerecht“ produziert hatte, sagt, Fürst habe die Seiten gewechselt. Das stimmt natürlich nicht. Ihr Job ist der alte: Menschen in Not vor der Kamera bloßstellen. Die Mutter von drei kleinen Kindern, einem davon schwerkrank, denen die Behörden alle Leistungen gestrichen haben, fragt sie beim ersten Treffen: „Machen Sie sich Vorwürfe, dass Ihre Tochter nicht zum Arzt kann? Denken Sie, Sie sind daran Schuld?“ Sie bringt die Frau gezielt zum Weinen, um sich dann als Trösterin zu geben: „Nicht weinen!“

Geifernd sagt sie über den überforderten Vater in die Kamera: „Ich werde ihn richtig hart rannehmen.“ Sie schüchtert ihn ein, dass er nur noch sagt, was sie hören will, um ihm dann zu drohen, sie werde sofort gehen, wenn er nicht aufhöre, ihr nach dem Mund zu reden. Die Hartz-IV-Domina passt gut zu RTL. Sie ein fast so großer Menschenfreund wie Dieter Bohlen.

Der Preis für die Unterstützung durch das Fernsehen ist bei allen „Coaching“-Shows die Ausstellung in der Öffentlichkeit. Das muss, je nach Verantwortungsbewusstsein der Produzenten und Helfer, kein schlechter Deal sein für die Betroffenen. „Helena Fürst“ aber ist ganz auf die maximale Demütigung der Opfer ausgerichtet. An Inhalten oder Schicksalen ist die Show nicht interessiert, wenn sie nicht der Heroisierung von Frau Fürst dienen, die wie ein Panzer durch die Leben der Leute walzt, die es mit ihr zu tun kriegen. „Was glauben Sie, was ich erreicht habe“, lässt sie die „Armen“ mehrmals raten, um möglichst wirkungsvoll mit ihren Erfolgen zu prahlen.

So viele Arbeitslose in diesem Land, aber Helena Fürst hat einen Job. Die Welt ist nicht gerecht.

Anke Engelke

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Man vergisst irgendwann, wie ungewöhnlich es ist, dass ausgerechnet
Anke Engelke auf dieser Bühne steht: eine Sat.1-Frau als Gesicht der wohl wichtigsten Show des Ersten Deutschen Fernsehens seit vielen Jahren. Man vergisst es, weil man sich beim besten Willen niemanden vorstellen kann, der hier an ihrer Stelle stehen sollte. Sie wirkt wie die geborene Moderatorin des Eurovision Song Contest, selbst wenn das eher wie ein Fluch denn wie ein Kompliment klingen mag.

Sie hatte — bei den Proben, den Halbfinalen und dem sogenannten „Jury-Finale“ am Freitagabend, auf dessen Grundlage die Juroren in den 43 Ländern ihre Punkte abgeben — neben Judith Rakers und Stefan Raab eine fast unerhört gute Laune. Sie schaffte es scheinbar mühelos, die Rolle der würdevollen Gastgeberin mit Momenten des Slapstick oder auch nur des Augenzwinkerns zu mischen. Sie erstarrte nicht auf dieser großen Bühne mit dem engen Ablauf-Korsett, sondern erspielte sich kleine Freiräume, in denen sie ihre Begeisterung für diesen Wettbewerb zeigen konnte. Sie tanzte ausgelassen albern zu den Titeln, die es ins Finale schafften, und konnte spontan den italienischen Beitrag singen, als der (zufällig bestimmt) in der Generalprobe gewann. Sie jonglierte mit Namen und Sprachen, Haltungen und Rollen. Und wenn es nötig war und zum Beispiel eine Schaltung nicht funktionierte oder einer der Menschen, die die Punkte verlasen, sich im Versuch witzig zu sein verhedderte, konnte sie auch ein geduldiges Standard-Moderatorinnen-Lächeln einrasten lassen. Wer weiß, vielleicht hat sich da die Erfahrung als Volksmusikmoderatorinnenparodie Anneliese Funzfichler sogar ausgezahlt. Es ist jedenfalls ein großer Schatz an Charakteren, aus dem sie da auf der Bühne schöpfen kann. Dazu kommt offensichtlich noch das ganz eigene, private Fantum.

Sie scheint sich so zuhause zu fühlen auf dieser Bühne, dass man sich fast mit Gewalt daran erinnern muss, dass sie — anders als eben ihre Anneliese Funzfichler — gar nicht schon seit Jahrzehnten dauernd als Gastgeberin großer Fernsehshows auftritt. Warum ist das eigentlich so? Wieso hat diese Frau keine eigene Samstagabendshow, in der sie prominente und nicht-prominente Gäste empfängt und mit ihnen singt und herumalbert, mit Glamour und großer Pose, aber auch den komödiantischen Brüchen, die eine solche Rolle heute bräuchte?

Sie müsste sofort für Gottschalks Nachfolge bei „Wetten dass“ verpflichtet werden — außer, dass das natürlich ein Job ist, den man womöglich gar nicht haben möchte. Vielleicht könnten wir uns für den Anfang und darauf einigen, dass sie jetzt jedes Jahr den Eurovision Song Contest moderiert. So als Mindestforderung.

Keine große Leuchte

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Wie die LED das Fernsehen verändert hat und es aufregender und einfallsloser machte.

Manchmal ist Größe doch alles. Wenn in Düsseldorf in der kommenden Woche ein pausbäckiger Finne mit seiner Gitarre auf einer Bühne steht und sein Lied von dem kleinen Paul singt, der hinausging, die Welt zu retten, funkelt hinter ihm ein gewaltiger Sternhimmel. Und dann: geht die Erde auf.

Das ist die mit Abstand naheliegendste Idee, einen solchen Schlager zu illustrieren, doch so hat man das noch nie gesehen. Die Dimensionen dieses blauen Planeten, der sich da langsam von unten ins Bild schiebt, sind ungeheuerlich. Die Leinwand, auf der er erscheint, ist zehnmal so hoch wie der Mann, der vor ihr steht, und breit wie ein Fußballfeld. Fast provozierend detailgetreu drehen sich Wolken, Meere und Kontinente. Es wirkt so erhaben und monumental, als hätte jemand einen Weltraumspaziergang bei perfekten Bedingungen in hochauflösender Qualität gedreht.

Eine Unzahl kleiner Leuchtdioden, die aneinandergesteckt in einem Gerüst von der Decke des Studios hängen, das eigentlich ein Fußballstadion ist, bilden diesen über tausend Quadratmeter großen temporären Bildschirm. Wenn in der kommenden Woche der Eurovision Song Contest ausgetragen wird, werden darauf mit den Moldauern bunte irre Zeichentrickmännchen tanzen, zum griechischen Beitrag surreal große Vorhänge ionische Säulen umwehen und hinter den Sängern aus Mazedonien scheinbar ganze Räume rotieren.

Florian Wieder ist ungefähr der Einzige, der sich nicht überwältigt zeigt von den Dimensionen dieser Spielfläche. „Die Arena ist groß, deshalb musste die LED-Wand auch so groß werden“, sagt er achselzuckend. Er hat es leicht, sich unbeeindruckt zu geben, denn er ist als Designer nicht nur für die Bühne beim Grand Prix verantwortlich, sondern hat schon ungezählte Materialschlachten geschlagen, um Fernsehshows imposant aussehen zu lassen. Dass er heute mit seiner Firma weltweit gefragt ist, hängt nicht zuletzt mit dieser Technik zusammen, die in den vergangenen zehn Jahren das Fernsehen erobert und verändert hat: der LED.

Ihren Siegeszug begann die Light Emitting Diode unauffällig: als Beleuchtung von Kanten und Bühnenrändern. Wer früher eine Lichtleiste setzen wollte, musste Glühlampen nehmen, die groß waren, heiß wurden und nur jeweils eine Farbe haben konnten. Leuchtdioden waren viel handlicher und flexibler. Die Revolution begann damit, die Lichtpunkte zu ganzen Bildern zusammenzusetzen. Über Computer, sogenannte Mediaserver, erfahren die Dioden, wann sie wie zu leuchten haben. Jede LED wird zu einem Pixel, und im richtigen Abstand wird aus den Pixeln ein Bild. Am Anfang, als er die Technik im Bühnenbild der RTL-2-Show einsetzte, erzählt Rainer Otto von der Firma OM Design, sei dieses Bild so grobkörnig gewesen, dass es nur ganz hinten oben im Publikum gut aussah. Inzwischen ist die Auflösung so hoch, dass die Bilder erstaunlich realistisch wirken. Wenn da schwarze Riesendiamanten durch den Raum fliegen, fliegen da schwarze Riesendiamanten durch den Raum.

Die LED-Technik, aber auch moderne Projektionen mit Beamern, sind die Erfüllung des Traums, ohne große Umbauarbeiten beliebige Kulissen herbeizaubern zu können – ein Traum, der in psychedelisch bunten Farben schon in den frühen siebziger Jahren geträumt wurde. Damals war die Technik der Blue-Box neu, bei der die Akteure vor einem einfarbigen Hintergrund stehen, der herausgestanzt und durch andere Aufnahmen ersetzt wird. Die Begeisterung darüber war so groß, dass einige Jahre lang alles getan wurde, was möglich war, egal, ob es sinnvoll war.

Manchmal scheint es, als befinde sich das Fernsehen gerade in Bezug auf LED-Wände in einer ähnlichen Phase. Einerseits sind die kreativen Möglichkeiten, die sie bieten, schier grenzenlos. Andererseits verführen sie dazu, schon das Aufstellen einer technisch eindrucksvollen Wand mit einer kreativen Idee zu verwechseln. Berüchtigt sind Standard-Animationen von Wolken, die sich günstig einkaufen lassen und immer passen, also nie. „Es gibt schon einen Hang dazu, viel Geld für die Technik auszugeben und dann am Grafiker zu sparen, der gute, maßgeschneiderte Inhalte erstellt“, kritisiert Rainer Otto.

Die RTL-Castingsoap „Deutschland sucht den Superstar“ zeigt gut Chancen und Fluch des LED-Einsatzes. Das Studio ist voll von LED-Wänden, -Tonnen,

-Bändern, -Stegen und -Bühnen. Florian Wieder, der es gestaltet hat, machte sich damit international einen Namen – unter anderem mit der Idee, LEDs auch im Boden auszulegen und es aussehen zu lassen, als träten die Kandidaten auf ihren eigenen, animierten Konterfeis auf. Nichts an dieser Präsentation ist Understatement, „alles ist 150 Prozent, fast schon eine Parodie auf die Inszenierung von Weltstars“, räumt Wieder ein. Es ist eine faszinierende Flimmerwelt, die in Sekundenschnelle auf eine andere Stimmung umschalten kann, in der ununterbrochen Namen durchs Bild flackern und meterhohe Zeitlupenaufnahmen der Auftritte zu sehen sind; ein gewollter Overkill, eine Reizüberflutung für ein Publikum, dem man sicherheitshalber keine Sekunde zumuten möchte, nur einem vermeintlichen Nachwuchssänger zusehen zu müssen.

„Ich nutze dieses Zeug jetzt seit zehn Jahren“, sagt Florian Wieder, „und je länger ich das mache, umso weniger tue ich es eigentlich. LEDs sind ja nur ein Mittel zum Zweck. Die Idee besteht eher darin, über Video Inszenierungen zu kreieren. Wenn man das clever einsetzt, kann es sehr cool sein.“ Er gerät ins Schwärmen, vom aufregenden Spiel mit der Perspektive oder dem Auftritt von Taylor Swift bei den Video Music Awards von MTV im vergangenen Jahr, die sehr klein und sehr groß in einem riesigen schwarzen Raum stand, in dem Wörter auftauchten und wieder zerbröselten. Die Flächen sind faszinierende Leinwände für Videokünstler wie Falk Rosenthal, der für den Inhalt der LED-Wand beim Eurovision Song Contest verantwortlich ist.

Aber die Gefahr ist, dass die Technik mit all der Opulenz, die sie ermöglicht, nicht mehr der Inszenierung des Künstlers dient, sondern der Künstler nur noch Bestandteil einer Bühnen-Inszenierung ist. (Angesichts einiger Kandidaten beim Grand-Prix ist das natürlich nicht immer das Schlimmste, das passieren kann.)

Angesichts der Allgegenwart der mit „Content“ bespielten Flächen fällt es schwer, sich zu vergegenwärtigen, wie jung diese Technik ist. Beim Eurovision Song Contest 1983 in München steckte der künstlerische Ehrgeiz in Blumengestecken, die die Nationalflaggen nachbildeten; das Bühnenbild war ein Geflecht aus einer Art Heizdraht, das im Rhythmus der Musik aufglimmte. Erst seit 2000 erobert die LED-Wand den Bildschirm, dann aber mit Macht. Die Serben bauten aus Leuchtdioden die Mündung der Save in die Donau als Bühnenbild nach, die Russen verbauten vor zwei Jahren den größten Teil aller damals überhaupt verfügbaren LED-Flächen und ließen sie teilweise über der Bühne rotieren.

Mehr geht kaum, besser vermutlich schon. Auf der Düsseldorfer Eurovisions-Bühne kontrastieren Florian Wieder und der Licht-Designer Jerry Appelt die Videos auf der LED-Wand auffallend oft mit wärmer und greifbarer wirkenden Scheinwerferstrahlen, die durch feinen Dauernebel in der Halle sichtbar gemacht werden. Wenn es nach den Veranstaltern gegangen wäre, hätten auch mehr Länder mit realen Gegenständen auf der Bühne gestanden, um einen Kontrast zur Virtualität hinter ihnen zu bilden. Aber die meisten Delegationen wollten das nicht. Einige müssen ohnehin mit der Enttäuschung fertig werden, dass die Riesenleinwand, von der sie so viel gehört hatten, bei ihnen gar nicht genutzt wird – um eine Abwechslung in der Dramaturgie zu erzeugen.

Florian Wieder steht oben in den Rängen, schaut hinunter in die Arena, die vollgepackt ist mit Tausenden beweglichen Scheinwerfern aller Art, in der sich bespielbare LED-Flächen unter der Decke ausbreiten und am Boden von der Bühne bis weit in den Zuschauerraum, und erzählt, dass man eigentlich noch sehr viel mehr „Spielzeuge“ hätte gebrauchen können, um die 43 Titel abwechslungsreich in Szene zu setzen.

Und dann gab es noch die Idee, die Zuschauer in der Halle alle mit einem LED-Element auszustatten, jeder Mensch ein Pixel, und daraus lebende Bilder zu malen. Das war aber zu aufwendig. Für dieses Mal.

Abschied von 9live

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Vielleicht wäre eine humane Lösung, die Moderatoren glauben zu machen, dass 9live den Betrieb seiner Anrufspiele gar nicht einstellt. Man könnte den Studiotrakt, in dem sie arbeiten, abriegeln und sie einfach weiter arbeiten lassen. Gelegentlich müsste mal jemand anrufen und durchgestellt werden und eine falsche Lösung sagen, aber das wäre kein großer Aufwand, auch finanziell nicht.

Sie scheinen dort schließlich, wenn schon nicht glücklich zu sein, so doch wenigstens ein Zuhause gefunden zu haben. Am Freitagabend konnte man Tina Kaiser zusehen, die sich die endlose Zeit, bis der „Hot Button“ zuschlug, damit vertrieb, ihren Lieblingssong „Spending My Time“ (!) von Roxette leise vor sich hin zu summen. Ihr Kollege Dirk Löbling, der die nächste Schicht übernahm, beschimpfte leidenschaftlich die Kollegen in der Regie, wobei unklar blieb, ob die Stimmen, mit denen er sich unterhält, tatsächlich in seinem Ohr oder nur in seinem Kopf sind. Später kam Max Schradin und begann seine Sendung damit, minutenlang zu tanzen, wie ein Achtjähriger im Kinderzimmer vor dem Spiegel.

9Live hat längst mehr mit betreutem Wohnen zu tun gehabt als mit Fernsehen. Warum soll man diesen Menschen das nehmen? Nur weil sich der Countdown bis zum Zuschlag des Hot Button ab Ende Mai von ewig auf unendlich verlängert?

Ein angenehmer Nebeneffekt dieser Lösung wäre natürlich, dass Menschen, die rund um die Uhr bei einer Fernsehsender-Attrappe moderieren, nicht woanders moderieren können. Denn obwohl die Call-TV-Animateure sich, seit das Aus des Programms bekannt ist, in bitteren schwarzen Humor flüchten, muss man fürchten, dass sie mit ihrem Talent zum Füllen von Zeit durch Nichts auch in anderen Sendern eine öffentliche Aufgabe finden werden. Vermutlich reicht es schon, sie auf eine schlammfarbene Couch zu setzen, und sie könnten als Moderatoren der Nachmittagsfüllungen in den Dritten Programmen durchgehen.

Die am Dienstag gesuchten männlichen Vornamen mit einem L waren übrigens Kalani, Naphtali, Neacel, Sheldon, Sobieslaw, Udalfried, Walo, Zabdiel und Zsolt.

Serdar Somuncu

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Donnerstagabend bei n-tv. Das Publikum lacht aus vollem Hals, und er lacht mit offenem Mund zurück und saugt den Beifall gierig auf. Jemand hatte gesagt, der deutsche Außenminister hätte sich „dilettantisch“ verhalten, und er hat widersprochen: „nicht dilettantisch, sondern dilettuntisch“. Weil Guido Westerwelle schwul ist und „Tunte“ ein Schimpfwort für Schwule, lachen alle über das Wortspiel und den Schwulen.

Serdar Somuncu hat ein Problem mit Homosexuellen. Er macht daraus auch keinen Hehl. Aber weil er als Kabarettist auftritt, denken die, die nicht mitlachen, er meint das ironisch.

In der von Friedrich Küppersbusch produzierten n-tv-Talkshow „4 gewinnt“ (einer Art „7 Tage 7 Köpfe“ mit weniger Kopf) redet er sich in Rage: „Ich finde Westerwelle ekelhaft – der ist schwul und hat Narben im Gesicht.“ In seinem Internetprogramm „Hate Night“ erzählt er, wie sehr es ihn vor Hella von Sinnen und Anne Will ekelt. Er hetzt darin so überzeugend gegen Lesben, dass es egal ist, ob er da womöglich eine Rolle spielt und das demaskierend meint: Die Show ist geilster Porno für Lesbenhasser.

Somuncu wurde dadurch bekannt, dass er mit „Mein Kampf“ auf Lesereise ging und Hitlers Werk demystifizierte. Heute jammert er, dass große Fernsehsender ihn nicht zeigen wollen, vergleicht das mit Faschismus und sagt: „Der neue Hitler heißt TV“. Es ist alles eine große Provokation. Manchmal glaubt man noch Anführungszeichen mitzuhören, wenn er, vielleicht aus reiner Langeweile, sich als Hardcore-Atomkraft-Fan ausgibt. Manchmal zweifelt man an den Anführungszeichen, wenn er überzeugend hasserfüllt gegen rauchende Hartz-IV-Empfänger wettert. Und manchmal betont er, dass da keine Anführungszeichen sind. Dass „hässliche Frauen“ wie Angela Merkel eine Burka tragen müssen sollten, das meine er als Witz, sagt er, aber dass man die Verschleierung verbieten müsste, das sei sein Ernst. „Wer in Europa lebt“, sagt Somuncu, „muss sich den Gepflogenheiten der Europäer anpassen. Und wenn er das nicht will, soll er dorthin gehen, wo er herkommt.“ Auf die Frage, ob er zwischen Burka und Tschador unterscheide, spuckt er: „Ich lerne nicht die Terminologie von Leuten, die ich für minderbemittelt halte.“

Es ist fast tragisch, dass die Partei, deren Parolen Somuncu so überzeugend verbreitet, ihn wegen seines Migrationshintergrundes wohl nicht aufnehmen würde.

Hans-Ulrich Jörges

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Vermutlich arbeitet die ARD schon daran, die Kritik an der Flut der Talkshows dort zu behandeln, wo sie hingehört: in den Talkshows. Das Erste könnte zum Start von „Günther Jauch“ im Herbst eine ganze Themenwoche mit täglichen Gegen-den-Talk-Talks veranstalten und dem prominenten Talkshow-Kritiker Hans-Ulrich Jörges darin einen festen Platz geben.

Jörges hatte Ende vergangenen Jahres in seiner Kolumne im „Stern“ bemängelt, dass „die Talks wie ihre Diskutanten durch kollektiven Verschleiß und Übersättigung des Publikums gefährdet sind“. Eingeladen würden, formulierte er salopp, nur noch Gäste, die salopp formulieren und „auf den Pudding hauen“. Die überdrehte Zuspitzung, der Zwang zu „noch griffigeren, populäreren, quotenbaggernden Fragestellungen“, sei dabei eine Gefahr für die Politik, weil sie dem „Gelingen keine Chance mehr gibt“, schrieb Jörges — vermutlich aus dem Taxi auf dem Weg vom „Presseclub“ zu „Anne Will“ — unter der Überschrift „Oraler Overkill“.

In dieser Woche war er wieder einmal zu Gast bei „Hart aber fair“ und sagte, dass der noch nicht einmal gewählte FDP-Vorsitzende Philipp Rösler wohl keine Chance hat. Er fragte puddingverachtend, ob „die FDP nur auf Standby ist oder sich ausgeschaltet hat“. In seinen jüngsten Kolumnen hatte er schon nüchtern resümiert: „Alles scheint sich aufzulösen.“ Dies könnte „das Ende des Parteiensystems sein, das wir kennen“. Die Stimmenthaltung Deutschlands im Weltsicherheitsrat zur Libyen-Resolution sei der „erste Schritt in den Neutralismus“ und „politische Selbstzerstörung“. Über seinem jüngsten „Stern“-Text steht: „In ihren Armen das Kind war tot“, wobei die Arme Angela Merkel gehören und das Kind die FDP ist.

Man ahnt, warum Menschen, die glauben, dass „Guido über Bord, Boygroup an Deck“ ein guter Titel für eine politische Gesprächssendung ist, auch glauben, dass Hans-Ulrich Jörges ein guter Gesprächspartner ist. Am Mittwoch erklärte er — mit dieser Aura von jemandem, der ganz genau weiß, wie der Betrieb in Berlin funktioniert — dass die Vorgänge in der FDP zeigten, wie brutal es in der Politik zugeht. Das verwunderte den ebenfalls anwesenden Generalsekretär Christian Lindner, der sich keine Minute zuvor für das vermeintlich „Kuschelige“ an dem „Putsch“ in seiner Partei rechtfertigen musste und nicht ganz zu unrecht fragte, ob man sich nicht vielleicht für einen der beiden Vorwürfe entscheiden müsse.

Die Frage brachte Jörges nicht einmal für eine Nanosekunde aus dem Konzept. Aber wer weiß, vielleicht schreibt er schon an seiner nächsten Kolumne, in der er die Betriebsblindheit deutscher Kolumnisten anprangert.

Oliver Bierhoff

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Eine Möglichkeit ist, dass Oliver Bierhoff den „Tatort“ nicht gesehen hat, über den er sich in der „Bild“-Zeitung beschwert. Eine andere, dass er ihn nicht verstanden hat.

In diesem „Tatort“ am letzten Sonntag ging es um einen fiktiven schwulen Bundesliga-Spieler. Tatsächlich sagt der an einer Stelle: „Wissen Sie, die halbe Nationalmannschaft ist angeblich schwul, einschließlich Trainerstab. Das ist doch schon so eine Art Volkssport, das zu verbreiten.“ Bierhoff sieht in diesen Sätzen einen Beweis für sinkende moralische Werte; einen Angriff auf sich und seine Familie, „die Familie der Nationalelf“; einen Missbrauch der Prominenz der Mannschaft.

Dabei sind die Sätze erstens unbestreitbar wahr und zweitens ganz anders gemeint. Gibt man „Jogi Löw“ oder „Hansi Flick“ ein, schlägt Google jeweils als ersten passenden Suchbegriff „schwul“ vor. Das funktioniert auch bei „Oliver Bierhoff“ und vielen Spielern. Google tut das, weil die Menschen massenhaft nach diesen Wortkombinationen suchen. Das heißt nicht, dass die halbe Nationalmannschaft schwul ist. Es heißt, dass es ein Volkssport ist, dieses Gerücht zu verbreiten und zu diskutieren.

Im „Tatort“ aber sagt der fiktive Spieler die Sätze nicht, um ein Gerücht zu verbreiten, sondern um seine Haltlosigkeit zu betonen. Er selbst wurde gerade von der Kommissarin mit dem Verdacht konfrontiert, schwul zu sein, und sagt abwinkend: Uns Profi-Fußballern wird doch allen vorgeworfen, heimlich homosexuell zu sein, das hat doch nichts zu sagen. Ist der Gedanke aussichtslos, einem Oliver Bierhoff diesen Kontext in einer Nachhilfestunde „Filme richtig verstehen“ zu erklären?

Bierhoff hat nur gehört, dass da jemand gesagt habe, die seien alle schwul. Dass er darauf so heftig reagiert und das Wort „Familie“ als Kontrast und vermeintlichen Gegensatz zur Homosexualität benutzt, ist entlarvend.

Man kann lange darüber diskutieren, wie groß die positive Wirkung ist, die ein gut gemeinter „Tatort“ haben kann. Eine Antwort aber ist leicht: Sicher nicht so groß wie die negative, die ein „Bild“-Interview von Bierhoff hat. Immerhin ist deutlich geworden, dass das Problem nicht nur irgendwelche Schwulenhasser in den Fankurven sind, sondern auch die sich für aufgeklärt haltenden Verantwortlichen ganz oben im Verband. Oliver Bierhoff hat der Homophobie im Fußball ein Gesicht gegeben.

Jörg Pilawa

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

So weit ist es gekommen: Ich habe Mitleid mit Jörg Pilawa.

Das ist etwas unangenehm, sehr ungewöhnlich und vermutlich völlig unnötig. Man kann schließlich davon ausgehen, dass der Mann sich, als er im vergangenen Jahr zum ZDF wechselte, zusichern ließ, dort alles wegmoderieren zu dürfen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Neben dem Ratespiel „Rette die Million“, das er schon hat, der „Terra X Show“ und der „Logo-Show“, die schon bekannt sind, also mutmaßlich auch eine „Landarzt-Show“, eine „Auslandsjournal-Show“ und eine „Aktenzeichen-XY-Show“, den bunten „heute journal“-Abend, das Wissensformat „Frag doch mal das Mainzelmännchen“, ein Promi-Kartenspiel „Frontal 17 + 4“, das „heute-Quiz“, das „Mona-Lisa-Quiz“, das „Aspekte-Quiz“, „Pilawas Quiz-Quiz“, „Pilawas Pilawa-Quiz“ und eine Ratesendung mit Fragen.

Und eben, anscheinend, womöglich, „Wetten dass“. In der öffentlichen Diskussion, wer am besten als Nachfolger von Gottschalk geeignet wäre, fallen viele Namen, aber darauf, dass der wahrscheinlichste, Pilawa, es nicht werden sollte, können sich ungefähr alle verständigen. Er würde es vermutlich nicht einmal schaffen, so bemerkenswert schrecklich zu sein wie Wolfgang Lippert damals. Er wäre einfach nur Pilawa. Der Name ist zum Synonym für den farblosen, austauschbaren, allgegenwärtigen Fernsehmoderator geworden, und ich mag mir nicht ausmalen, wie das ist, wenn der mutmaßliche Karrieretraum zum Greifen nah ist und man dutzendfach nachlesen muss, wie wenig Euphorie das auslöst. (Auch wenn Pilawa sich damit trösten mag, dass es womöglich eine schweigende, einschaltende Mehrheit gibt, die es zumindest nicht aktiv stört, wenn er moderiert, oder das nach Jahren der Konditionierung als ARD-Zuschauer einfach für eine Art Naturgesetz hält.)

Da rackert sich einer ab, und je mehr er schafft, umso weniger Begeisterung löst er aus. Dabei ist Pilawa doch nur so, wie er sein soll; wie es sich die Fernsehmacher wünschen. In dieser Woche musste er in seinem großen ZDF-Quiz der Spannung wegen bei der Finalfrage endlos vorgeben, dass das, was bei einem Bruch unter dem Strich steht, womöglich gar nicht der Nenner ist. Das brauchte Gottschalk, der Glückliche, nie zu tun.

Aber letztens hatte Pilawa mal kurz die Haare ein bisschen anders.

Dieter Nuhr

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Vielleicht funktioniert Dieter Nuhr auf RTL so gut, weil die Zuschauer ihn für ein neues Modell von Oliver Geißen halten, in dem der Kumpel-Simulator gegen einen dezenten Intelligenz-Ausstrahler ausgetauscht wurde. Er hat eine ähnliche Art, unterwältigt zu wirken von dem, was er da macht. Das wäre ein angenehmer Kontrast zu den Schreylhälsen, die das Medium sonst dominieren, würde nicht dieser leere Blick, diese monotone Stimme, dieses ganze körperliche Beiläufigkeit regelmäßig einen Ausschaltreflex bei mir auslösen, in der Fernbedienung, manchmal im Gehirn.

Dieter Nuhr hat es geschafft, die Welten des Kabaretts und des Klamauks miteinander zu versöhnen: Er wirkt — wenn man es schafft, die Augen offen zu halten — wie ein Komiker, nur klüger, oder ein Kabarettist, nur lustiger. In dieser Woche hatte er passenderweise zwei Premieren: Auf RTL moderiert er die Show „Typisch Frau – typisch Mann“, die tatsächlich noch egaler ist als ihm. (Eigentlich müsste man klagen, wie schlimm sie zusammengeschnitten war, andererseits möchte man sich die nicht-zusammengeschnittene Version nicht vorstellen.)

Und im Ersten ist er der neue Gastgeber im doppelt irreführend benannten „Satire Gipfel“, einer Sendung, in der Matze Knop auftritt und grundlos erzählt, dass bei der Nationalmannschaft Kondome fehlen, weil Philip Lahm sie als Schlafsack benutzt. Nuhr versuchte immerhin, zwischen viel routinierter Langeweile, einen interessanten Spagat: Er machte sich über die Reflexe des klassischen Kabaretts und seines Publikums lustig. „Kunstjammern“ nannte er das und sagte, nicht offenkundig ironisch: „Wir haben die positive Weltsicht den Geisteskranken und volkstümlichen Musikanten überlassen.“

Nuhr hatte eine Botschaft, aber eine andere, als das Studiopublikum hören wollte. „Natürlich gibt es immer Alternativen“, sagte er. „Rette ich die Banken? Oder sollte man von dem Geld nicht lieber Kindergärten bauen?“ Demonstrativer Endlich-sagt’s-mal-einer-Applaus. Nuhrs Argumentation ging aber weiter: „Das Problem ist: Ohne Euro gäb’s auch keine Kindergärten mehr.“ Die Bankenrettung sei tatsächlich „alternativlos“ gewesen. „Aber man kann doch trotzdem darüber empört sein!“ Beim rituellen Beschimpfen der Politiker gehe es nur darum, sich gut zu fühlen.

Das wäre fast entlarvend gewesen. Wenn es jemand bemerkt hätte.