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Dieser Max braucht jemanden, dessen Hund er sein kann

Das ist Max.

Max ist ein Mischling auf Rauhaardackel-Basis, dem man seine 14 Jahre nicht anmerkt, insbesondere, wenn er Schubläden, Schränke und Rucksäcke auf Lebensmittelreste oder Spielzeuge kontrolliert, einem Quietschtier hinterherjagt oder durch den Schnee tollt.

Max ist ein richtig cooler Hund, dem ich es wünsche, dass er jemanden findet, der ihn aus dem Tierheim Falkensee zu sich nach Hause holt.

Insbesondere, weil ich ihn gerade erst dorthin zurückgebracht habe, nach einer knappen Probewoche bei mir. Aber es lag nicht an ihm, es lag an mir.

Das klingt nach einem abgeschmackten Satz, der auch sonst, bei Trennungen zwischen Mensch und Mensch, vermutlich nur selten die beabsichtigte beschwichtigende Wirkung entfaltet. Aber es stimmt. Max ist ein cooler kleiner Hund, neugierig, anhänglich, zögernd kuschelig und unfassbar niedlich. Ich habe in der gemeinsamen Woche nur gemerkt: Er ist nicht mein Hund.

Ich kann das nicht gut erklären – zum einen, weil es zu privat und persönlich würde, zum anderen aber auch, weil ich es selbst nur zum Teil verstehe. Objektiv hätte wenig dagegen gesprochen, ihn dauerhaft bei mir aufzunehmen. Max ist kein ganz unproblematischer Hund, aber er ist alles andere als ein Problemhund. Ich hätte an ihm arbeiten müssen, vor allem daran, dass er andere Leute, die es wagen, in die Wohnung oder ins Büro zu kommen, empört anbellt. Von „Ressourcenverteidigung“ spricht man, wenn Hunde ihr Futter, ihr Spielzeug oder auch ihren Menschen nicht teilen wollen und in solchen Situationen mit lautem Protest oder Schnappen reagieren. Es kann sein, dass das bei Max im Tierheim schlimmer geworden ist, vielleicht war er auch vorher schon so, in jedem Fall müsste man ihm das abgewöhnen.

Aber das war nicht der Grund, weshalb ich mich gegen ihn entschieden habe, es gab keinen konkreten Grund, es gab nur die ganze Zeit ein Gefühl der Skepsis, einen Zweifel, der leider auch nicht wegging, als sich Max sehr freundlich und gar nicht aufdringlich auf dem Sofa an mich schmiegte. Und dieses Gefühl, dieser Zweifel, hat vermutlich viel mit meinem Hund Bambam zu tun, der im März gestorben ist.

Ich glaube, es war die Ähnlichkeit mit Bambam, die mich überhaupt erst auf Max aufmerksam gemacht hat. Im Tierheim hängt ein Foto von Max, das fast ein Foto von Bambam sein könnte: das graumelierte Gesicht, die großen Augenbrauen, die dunklen Augen, sogar einen Hauch von Bart hat er. Er ist allerdings viel kleiner und auf krummen Beinchen unterwegs. Und ein ganz anderer Typ Hund.

Max hat das Bambam-förmige Loch in meinem Leben nicht nur nicht gefüllt. Er hat mir dieses Loch überhaupt erst richtig bewusst gemacht. Wenn er zum Beispiel klein und gemütlich und aufmerksam hinter mir an der Leine hertrottete, erinnerte er mich daran, dass da mal ein anderer grauer Flauschzottel war, der groß und unabhängig und unangeleint vorauslief.

Nichts an dem, wie Max neben mir an der Leine lief, war falsch. Aber für mich fühlte es sich falsch an.

Ich bin trotzdem gar nicht überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war, ihn nicht zu behalten. Ich habe sehr mit mir gerungen und werde ihn nachher vermissen, wenn er nicht, zusammengerollt wie der Firefox-Fuchs, neben mir auf dem Sofa liegt, nachdem er sich sehr umständlich die Decke so zurechtgeschoben hat, dass er seine Schnauze entweder darauflegen oder reinstecken kann. Vielleicht werde ich sogar vermissen, wie er wie mit den Geräuschen eines sehr, sehr kleinen Darth Vader unter geschlossenen Türen durchatmet, um noch den letzten erreichbaren Geruchspartikel aufzusaugen, der ihm verrät, was dort passiert (oder wenigstens hörbar zu machen, dass geschlossene Türen prinzipiell echt nicht okay sind).

Ich wünsche diesem freundlichen kleinen Fell-Opi, dass er nochmal jemanden findet, dessen Hund er sein kann. Er sieht und hört anscheinend nicht mehr sehr gut, und er hat, was viele Hunde in dem Alter haben, eine Herzklappenverdickung. (Er kriegt Medikamente dagegen und ist laut Tierheim gut eingestellt.) Aber er wirkt gar nicht, als hätte er mit dem Leben schon halb abgeschlossen; er wirkt, ehrlich gesagt, überhaupt nicht wie ein 14-jähriger Hund. Er hüpft die Treppen rauf und runter, kommt allein aufs Sofa, und schafft es sogar, aufrecht auf seinen Hinterpfoten zu stehen, die Vorderpfoten in der Luft, wenn das hilft, herauszufinden, ob jemand da hinten auf dem Schrank versehentlich ein Leckerli liegen gelassen hat.

Er ist absolut innenstadttauglich und entspannt beim Spazierengehen, der Verkehr ist ihm egal, andere Menschen und Hunde, die vorbeikommen, bringen ihn auch nicht in Rage. Nur in den Situationen, in denen er glaubt, seinen Halter oder sein Futter beschützen oder für sich reklamieren zu müssen, macht er Probleme. Daran müsste man arbeiten, aber daran könnte man arbeiten.

Der Max ist ein cooler, sehr niedlicher Hund. Er könnte noch ein paar gute Jahre haben, und jemand mit ihm. Auch wenn ich das nicht bin, würde mich freuen, wenn ich dabei helfen könnte. Max hätte es verdient.

Bambam


Bei der Arbeit für „Tagesschaum“, 2013. Foto: WDR

Mein Hund ist eher der distanzierte Typ. Nicht wie diese Golden Retriever, die Aufmerksamkeit und Liebe wie Schwämme aufsaugen und abgeben, im Gegenteil.

Der erste Abend bei mir in der Wohnung, im Sommer 2010, war geprägt von größerer beidseitiger Ratlosigkeit. Ich hatte vorher noch nie einen Hund gehabt und fand das Gefühl sehr merkwürdig, plötzlich mit so einem fremden Lebewesen zusammenzuleben. Ich glaube, ihm ging es ganz ähnlich.

Er hatte in seiner Heimat in Ungarn bei einer Familie im Hof gelebt, durfte wohl nur gelegentlich ins Haus. Die Frau von dem Verein, der den Hund vermittelt hat, warnte mich, dass solche Hunde sich auf den krassen Statuswechsel gerne was einbilden, den es bedeutet, mit einem Mal drinnen wohnen zu dürfen. Bei Bambam hatte ich eher das Gefühl, dass er lieber im Hof geschlafen hätte. An einer praktischen Schlaf- und Liegekuhle unter einem Busch hat er über die Jahre regelmäßig gearbeitet.

Es fühlte sich am Anfang eher wie ein etwas unpersönliches Untermietverhältnis an, später wie eine lose WG. Ein anderer Hundebesitzer erzählte mir, es hätte ungefähr ein Jahr gedauert, bis sein Hund bei ihm zuhause wirklich angekommen sei, das sei bei Huskys völlig normal. Die seien auch so gezüchtet worden, nicht zu anhänglich zu sein, damit man im Zweifel bei schlechten Zeiten in der Wildnis keine Hemmungen hätte, sie zu essen. Ich fand das nicht ganz unplausibel, aber dann habe ich im Urlaub in Nordnorwegen sehr viele Huskys getroffen und die waren so unfassbar überschwänglich, liebeshungrig und verschmust, dass ich beschloss, dass es doch eher einfach mein Hund ist, der distanziert ist, und nicht seine Sorte Hund. (Außer Husky steckt noch Schnauzer in ihm.)

Es war erstaunlich schwer, ihm beizubringen, neben mir an der Leine zu gehen, ohne zu ziehen. Irgendwann, nach vielen Stunden, hat die Hundetrainerin gesagt, wir probieren das jetzt mal ohne Leine. Für mich klang das völlig absurd, aber komischerweise ging das fast auf Anhieb. Ohne Leine, auf Kommando, bei Fuß, gar kein Problem.

Keine Leine = nichts woran man ziehen könnte oder müsste.

Was auch erstaunlich leicht war: ihm beizubringen, an Straßenkreuzungen zu halten. Sobald das zuverlässig klappte, bestanden unsere Gassi-Runden daraus, dass der Hund vorauslief und sein Ding machte und am nächsten Bordstein auf mich wartete, um dann wieder vorzulaufen. „Zusammen spazieren gehen“ ist mit meinem Hund ein Euphemismus.

Draußen in der Natur ist das so ähnlich. Es ist nicht so, dass er weglaufen will oder bestimmen möchte, wo es langgeht. Meistens wartet er, sehr vernünftig, an Weggabelungen auf mich und weitere Ansagen. Aber wenn er sich sonst auf der Strecke mal umdreht, um zu sehen, wo ich bleibe, wartet er nicht ab, bis ich zu ihm aufgeschlossen habe; es reicht ihm zu sehen, dass ich irgendwo am Horizont bin, um sich wieder umzudrehen und weiterzutrotten.

Es ist ihm schon wichtig, dass ich nicht weg bin. Aber da sein muss ich auch nicht.

Er konnte erstaunlicherweise auf Anhieb relativ gut an der Leine am Fahrrad laufen, aber was auch hier viel besser ging: Während ich auf der Straße fuhr, parallel dazu auf dem Bürgersteig zu laufen. Er machte daraus manchmal ein angedeutetes kleines Wettrennen, jeweils mit dem Etappenstopp: an der nächsten Kreuzung. Beim Fahrradfahren in der Natur hatte er oft den größten Spaß, wenn er nicht direkt neben mir lief, sondern parallel ein paar Meter entfernt durch den Wald oder das Gebüsch.

Im Sommer im Café kann es passieren, dass er sich nicht unter dem Tisch einrollt, sondern mit ein paar Meter Abstand auf den Bürgersteig legt.


Foto: Gabriel Yoran

Abgesehen von ein paar Grundlagen habe ich nicht versucht, dem Hund viele Kommandos oder Kunststücke beizubringen. Ich weiß nicht, ob er dazu Lust gehabt hätte, ich hatte nicht das Gefühl.

Aber das eine Kommando, das wir wirklich viel geübt haben, lautet: „Schau!“ Es soll den Hund dazu bringen, einen anzugucken, Blickkontakt herzustellen. Bei Schäferhunden ist das nichts, was man überhaupt groß üben müsste, die sind von sich aus ganz scharf darauf, einen zu beobachten und eine Reaktion oder einen neuen Auftrag zu bekommen.

Mein Hund will das eher nicht so. Das Kommando „Schau!“ trainiert man zum Beispiel so, dass man dem Hund ein Stück Wurst hinhält, er es aber erst bekommt, wenn er nicht mehr das Futter anguckt, sondern den Menschen, der es hält. Das hat bei meinem Hund insofern geklappt, dass er es in genau dieser Situation tut, wenn er muss, aber auch keine Zehntelsekunde länger als nötig. Außer wenn er versucht, mich durch Anstarren zum Rausgehen zu bewegen, hat mein Hund kein Interesse, mit mir groß Blicke auszutauschen.

Wir haben in einem ähnlichen Sinne zusammen gelebt wie wir zusammen spazieren gegangen sind.

Falls sich das alles abschreckend liest, nach einer wirklich unbefriedigenden Mensch-Hunde-Beziehung, muss ich das korrigieren: Dieser Hund, der genau so ist, ist schon genau mein Hund. Ich weiß nicht, ob ich damit umgehen könnte, wenn mein Hund dauernd meine Aufmerksamkeit oder Nähe suchte.

Bambam ist nicht sehr anschmiegsam. Aber das bin ich auch nicht.

Ich hätte mir, zugegeben, manchmal gewünscht, dass es häufiger eine Mittelposition gibt, beim Spazierengehen zum Beispiel irgendwas zwischen den Extremen „Bei Fuß“ und „Lauf ruhig 100 Meter vor bis zur nächsten Kreuzung“, so ein: Ich schnupper hier frei rum, aber bleibe ganz in der Nähe. Und, ja, es ist auch schwer, es nicht gelegentlich persönlich zu nehmen, wenn der Hund deutlich macht, dass er gerne auf Abstand bleibt. Aber ich liebe es eigentlich, wie unabhängig, wie selbständig er ist. Meine Gene.

Die ewige Frage: Wie kommt es, dass Hundebesitzer und ihre Tiere einander oft so ähnlich sind oder werden? Mein Hund und ich sind beide grau mit Bart, manchmal haben Fremde auf der Straße deshalb gegrinst, wenn sie uns zusammen gesehen haben (oder genauer: mich eine halbe Minute nach meinem Hund). Aber viel faszinierender sind die inneren Parallelen.

Als ich mir den Hund ausgesucht habe, wusste ich nicht, dass der so ist. Es kann schon sein, dass er auch durch mich so wurde, weil mir das ganze Helikopterherrchenhafte fehlt. Ich zögere zu schreiben, dass ich ihn zu seiner Unabhängigkeit erzogen habe, denn wenn überhaupt, war es eher ein Lassen denn ein aktives Tun. Vermutlich hätte jemand anderes ihm andere Dinge beigebracht, hätte ihn vielleicht dazu gemacht, menschenfixierter zu sein oder anhänglicher, aber eigentlich denke ich, dass diese Unabhängigkeit schon Teil seines Wesens ist.

Keine Ahnung, ob ich das damals schon wahrgenommen habe, als ich ihn zum ersten Mal getroffen habe und sofort wusste: Wenn ich einen Hund will, dann diesen, und wenn es diesen Hund gibt, warum dann nicht einen Hund haben? Aber das wäre eine sehr unbewusste Wahrnehmung gewesen.

Es ist ja auch egal: Was für ein Glück, dass ich (über den viel zu früh verstorbenen Stefan Vogel) diesen Hund getroffen habe. Und dass er ein Teil meines Lebens geworden ist.

Diese ganzen Geschichten, von denen man hört und liest, von Hunden, die genau spüren, wenn einem was fehlt, und die dann ankommen und einen trösten, oder diese Sprüche, dass Hunde die besseren Freunde oder Partner sind, weil sie bedingungslos und vorurteilsfrei lieben – mit all dem kann ich nicht dienen. So ist er nicht.

Das bedeutet nicht, dass wir keine Bindung haben. Sarah Kuttner hat das schöne Wort von der langen „emotionalen Schleppleine“ erfunden, an der er hängt (oder ich). Ich weiß, dass ich nicht bloß jemand für ihn bin, der ihm die Futterdosen aufmacht.

Merkwürdig ist trotzdem, dass er zum Beispiel irgendwann fast nur noch mit mir Gassi gehen wollte. Mit jemand anderes aus dem Büro mal schnell um den Block – das ging nicht mehr; meistens zog er nach kürzester Zeit energisch zurück zum Ausgangspunkt. Die ausgedehnten Waldspaziergänge mit meinem Vater morgens, während ich noch im Bett lag, klappten leider auch nicht mehr, weil er vielleicht gerade noch sein Geschäft erledigte und dann zurück zu mir wollte. (Dabei hätten mein Vater und er ausgedehnteste Wanderungen miteinander machen können, was wirklich eher ein gemeinsames Hobby der beiden ist als meins.)

Es ist rätselhaft, warum er darauf besteht, mit mir zu gehen, um dann aber nicht wirklich mit mir zu gehen. Vielleicht kann irgendein Tierpsychologe das erklären. Oder, noch besser: Vielleicht ist das eine tolle komplexe Metapher für unsere ganze Beziehung, über unsere besondere Mischung aus Nähe und Distanz, Vertrautheit auf Abstand.

Emotionen zu zeigen, positive noch dazu, ist nicht sein Ding. Freudiges Schwanzwedeln ist fast ausschließlich für andere Hunde reserviert. Einmal in einem Restaurant hat ihn ein Mädchen bestimmt zehn Minuten lang gestreichelt, ohne dass er ein einziges Mal ein offensichtliches Zeichen machte, dass ihm das gefiel. (Ich glaube, es gefiel ihm.)

Abends zieht er sich gern irgendwann einfach ins Schlafzimmer zurück. Das verblüfft immer wieder Leute, wenn sie das sehen oder plötzlich merken, dass er nicht mehr da ist.

Er hat keinen größeren Drang, auch mal zu mir ins Bett zu kommen. Nur die Bequemlichkeit des Sofas, die nimmt er gerne mal in Anspruch.

Wenn er nachts aus irgendeinem Grund raus muss (das sind selten gute Gründe), dann versucht er meine Aufmerksamkeit zu erregen, in dem er ganz, ganz leise Fiepgeräusche macht. Oder, neuerdings, vorsichtige Fußtrippelgeräusche. Im Grunde versucht er, mich zu wecken, ohne mich zu wecken.

Er gibt sich auch große Mühe, wenn er sich mal übergeben muss, dass alles auf den Teppich geht und nichts auf den blanken Fußboden daneben, den man einfach abwischen könnte.

Ungefähr ein Jahr, nachdem er bei mir eingezogen war, fuhr ich für zwei, drei Wochen in den Urlaub und gab ihn in eine Hundepension auf dem Land, wo viele Hunde in zwei getrennten Bereichen tagsüber miteinander herumtobten. Das war das beste, was ihm passieren konnte. In dieser kurzen Zeit lernte er von den anderen Hunden die ganzen wichtigen Hunde-Skills. Vorher war er ein ungestümer Halbstarker gewesen, rüpelig, gelegentlich ein Mobber. Hinterher wusste er, wie man mit anderen Hunden kommuniziert, wie man Streit aus dem Weg geht, wie man Situationen deeskaliert.

Noch heute bin ich jedesmal stolz, wenn ich sehe, wie er sich einem fremden Hund vorstellt: Er bleibt mit ein bisschen Abstand stehen, wedelt sehr freundlich mit dem Schwanz und wartet, bis der andere die restliche Distanz überwindet. Vorbildlich, wie aus dem Hunde-Knigge. Oder wie er es regelmäßig schafft, doofe Situationen zu meiden: Wie er einen ängstlichen Hund oder einen Hund mit ängstlichem Besitzer komplett ignoriert. Oder um einen bedrohlichen Hund oder zwei Hunde, die irgendwie miteinander Stress haben, einfach einen Bogen macht. Zugegeben, das klappt nicht immer, es gibt Situationen, da ist auch mein Hund doof oder findet andere Hunde doof und zeigt ihnen das, aber das ist die Ausnahme.

Nur deshalb funktioniert es, dass er so oft ohne Leine unterwegs ist, und ich weiß schon, wie viele Leute trotzdem darüber empört sind, weil es nicht erlaubt ist und, wichtiger: nicht ungefährlich. Ich würde trotzdem sagen, dass mein Hund ohne Leine weniger Probleme macht als 99 Prozent aller Hunde an der Leine.

Meine Idealvorstellung von einem Leben als Hund ist die von Ice aus der Netflix-Doku-Reihe „Dogs“: Der hat einerseits den Job, einen Fischer bei der Arbeit zu begleiten, vor allem aber dreht er jeden Tag allein seine Runde durch den Ort San Giovanni am Comer See, pirscht durch die Straßen, begrüßt die anderen Einwohner, sieht nach dem Rechten. Schon klar, dass es selbst in einem abgelegenen Touristenörtchen ein kleines Wunder ist, dass das so funktioniert, und in einer Stadt wie Berlin undenkbar. Aber die Runde bei mir beim Büro um den Block, um sich jeden Tag zwei kleine Wurststicks am Quarkkeulchenstand abzuholen, die hätte er gut auch alleine drehen können, und, naja, je nachdem, wie eilig er am jeweiligen Tag gerade hatte, dort anzukommen, drehte er den letzten Teil der Runde tatsächlich alleine.

Unter den problematischen leinenlosen Situationen litt eigentlich fast immer nur ich. Wenn ich irgendwo am Waldrand stand und wartete, bis er endlich wieder da war. Oder auch in der Mitte des Waldes, bis er gemerkt hatte, dass ich gar nicht mehr die üblichen 100 Meter hinter ihm war, und er umdrehte und mit dem langsamstmöglichen Tempo zurückkam.

Der große Unterschied zwischen ihm und mir: Für ihn ist eigentlich nur die Welt draußen interessant, da wird alles beschnuppert, beobachtet, markiert, begrüßt, ausgebuddelt. Ich bin immer schon ein Drinnen-Typ gewesen. Das war auch der pädagogische Gedanke, oder jedenfalls die Rationalisierung des auf mich zutiefst irrational wirkenden Beschlusses, sich einen Hund zuzulegen: Dass es mir gut täte, mal häufiger an die sogenannte Frische Luft zu kommen.

So habe ich in den letzten 13 Jahren unendlich viele Parks, Heiden, Wälder und vor allem Seen in und um Berlin kennengelernt, die ich sonst vermutlich nie gesehen hätte. Mit dem Hund an meiner Seite (im weiteren Sinne) hatte es plötzlich einen besonderen Sinn, all diese Wege zu erkunden, Hügel zu erklimmen, Seen zu umrunden.

Einmal, da hatte ich ihn noch nicht lang, waren wir abends in der Dämmerung am Strand auf Usedom. Eine Freundin und ich saßen auf einer großen Treppe, der Hund stromerte irgendwo rum, ich hatte ihn aus den Augen verloren und war ein bisschen besorgt. Dann kam er zu meiner großen Erleichterung zu uns gelaufen und ich dachte begeistert: Na also, der Gute, er kommt schnell wieder zurück!

Dann drehte er um und begann erst richtig, allein die Gegend zu erkunden. Er hatte sich offenbar nur kurz versichert, dass wir noch da sind. Nach dem Motto: Ah, ihr bleibt hier, okay, dann hau ich nochmal ab.

Aber all das sind Geschichten aus seiner Sturm- und Drangzeit, inzwischen ist er für solche Eskapaden viel zu vernünftig (oder zu faul).

Vor ein paar Wochen ist 14 Jahre alt geworden. Er hat all das, was Hunde in dem Alter so an Leiden haben, er sieht nicht mehr ganz so gut, er hört gar nicht mehr gut (wobei ich den Verdacht habe, dass er das manchmal strategisch nutzt), er hat vermutlich Arthrose, sein Bart ist dünn geworden. Vor allem aber macht sein Herz schlapp.

Im Sommer 2021 wurde eine Herzklappenverdickung bei ihm festgestellt, was wohl eine häufige Erkrankung bei diesen Hunden ist.

Inzwischen ist daraus eine „hochgradige Mitralklappeninsuffizienz“ geworden; „es gibt Hinweise auf eine bevorstehende Dekompensation“, steht im Befund vom Januar 2023. Seitdem bekommt er vier verschiedene Medikamente; vor kurzem ist noch eins gegen eine Schilddrüsenunterfunktion dazugekommen.

Trotzdem ist er am vorletzten Wochenende noch fidel und, soweit ich es sagen kann, unbeschwert durchs geliebte Erpetal gelaufen. Dann hat sich sein Zustand plötzlich rapide verschlechtert, er ist extrem schwach, will nicht mehr laufen, muss zum Fressen überredet werden. Die Blutuntersuchung ergab: Die Zahl der roten Blutkörperchen ist viel zu niedrig, die Ursache ist unklar, viele Erklärungen kommen in Frage, fast alle sehr unschön. Selbst wenn man wüsste, woran es genau liegt, könnte man wenig tun: Eine Narkose kommt bei seinem Herzen nicht in Frage (abgesehen davon, dass grundsätzlich nicht viel dafür spricht, einen 14-jährigen Hund überhaupt operieren zu lassen).

Er bekommt jetzt ein Antibiotikum und Kortison, der Tierarzt sagte, es sei nicht auszuschließen, dass das hilft – das klingt nicht einmal so, als wäre es das wahrscheinlichste Szenario. Der Tierarzt betonte außerdem mehrmals, dass 14 Jahre wirklich sehr, sehr alt sei für so einen Hund, und er ließ keinen Zweifel, dass es Zeit sein könnte, langsam Abschied zu nehmen, mit etwas Pech sogar schnell.

Und jetzt sitze ich hier und schreibe das alles auf und ertappe mich dabei, dass ich größere Teile dieses Textes zuerst schon in der Vergangenheitsform formuliert hatte. Er scheint im Moment keine Schmerzen zu haben, aber es bricht mir das Herz, wenn ich sehe, dass es ihn die letzten Kräfte kostet, im kleinen Park direkt um die Ecke noch schwanzwedelnd und schnuppernd andere Hunde zu begrüßen.

Es ist eine sehr schlechte Kombination: Sein Herz schafft es ohnehin kaum, frisches Blut durch den ganzen Körper zu pumpen, und nun enthält dieses Blut auch noch viel weniger Sauerstoff als normal.

Das Leben im dritten Stock ist jetzt ein Fluch. Auf dem Rückweg von jeder kleinen Runde verlangsamt er schon ein gutes Stück vor der Haustür und muss überredet werden weiterzugehen. Ich bilde mir ein, dass er das macht, weil es ihn vor dem Treppensteigen graut. (Das Leben unten im Hof, neben dem Hintereingang der Pizzeria, wo es oft so gut riecht, und neben den Mülltonnen, wo es womöglich für ihn auch oft gut riecht – es muss ihm jetzt noch attraktiver erscheinen als sonst schon.)

Neulich hat er nach exakt zweieinhalb von drei Stockwerken beschlossen, dass das wirklich nicht zu erklimmen ist. Er hat daraufhin, wie in einer billigen Komödie, einfach kehrt gemacht und ist alles wieder runter gelaufen bis ins Erdgeschoss. Ich habe ihn dann hochgetragen, das mache ich inzwischen immer, er mag das eigentlich nicht, aber oben angekommen ist der Unterschied in seiner Verfassung eindeutig. Immerhin werd ich so fitter. Er wiegt knapp 25 Kilo.


Cartoon: Johannes „Beetlebum“ Kretzschmar

Seit Jahren haben Leute mich, wenn sie ihn gesehen haben, gefragt, ob der Hund schon alt ist. Ich hab dann wahrheitsgemäß immer, leicht genervt, geantwortet: Nein, der ist einfach grau. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich diese Antwort ändern musste. Und jetzt merke ich, was das wirklich bedeutet.

Auch der Satz der Tierärztin vor gut eineinhalb Jahren, dass dieses eine Herz-Medikament die Lebenszeit durchaus um ein Jahr verlängern könne, klingt plötzlich ganz anders: Damals war das so eine abstrakte und sehr hypothetisch klingende Rechnung. Jetzt erst wird mir klar, wie sehr dabei schon mitschwang, dass womöglich die letzten Monate angebrochen waren.

Und ich frage mich, was der Hund mir bedeutet, was er mit meinem Leben angestellt hat, welche Lücke er reißt, wenn er nicht mehr da ist. In diesen Tagen wünschte ich mir, er wäre ein bisschen anschmiegsamer, weil ich das Bedürfnis habe, ihn in irgendeiner Form in den Arm zu nehmen. Aber er ist so zurückhaltend wie immer und schiebt seinen Kopf nur manchmal so unter meine Hand, dass ich seine Stirn richtig gut kraulen kann oder diese eine gute Stelle hinter dem Ohr.

Bei einem Hund, der so sparsam ist damit ist, seine Zuneigung zu zeigen, ist jedes kleine Zeichen ganz besonders toll.

Sein Hundefutter will er nicht mehr, erstaunlicherweise egal in welcher Geschmacksrichtung, aber Würstchen liebt er immer noch. Am vergangenen Samstag habe ich beschlossen, nicht mehr zu versuchen, ihm irgendwie doch noch das Dosenfutter schmackhaft zu machen. Fuck it, habe ich mir gedacht, als ich zufällig vor einer Riesenfamilienpackung Würstchen im Supermarkt stand. Es gibt wirklich keinen Grund mehr dafür, darauf zu achten, dass er sich gesund ernährt: Wenn ihn Würstchen noch glücklich machen, kriegt er halt Würstchen ohne Ende.

Er ist unglaublich behutsam, wenn er einem Futter aus der Hand nimmt.

Er hat keine Lust, Stöckchen zurückzuholen, es sei denn, man wirft sie ins Wasser.

Sein allergrößtes Hobby ist das Buddeln. Er liebt den Schnee und hasst den Sommer. Er liebt es zu schwimmen und hasst es gebadet zu werden. Er liebt es, mit Vollgas über den Sandstrand zu jagen, und hasst diese offenen Metallgitter, über die man bei Brücken oder Treppen laufen muss. Er liebt das Erpetal, den Plänterwald, die Königsheide, Käse, Leberwurst, harte, kalte Fußböden, den großen Sitzsack, den meine Mutter ihm genäht hat, Ute und Martina.

Bei seinen Abneigungen scheut er kein Klischee: Er lehnt Eichhörnchen ab, Katzen und Postboten. Oder genauer: Postbotenfahrräder. Ich wüsste wirklich gerne, was er in seiner Kindheit mal Schlimmes mit einem Postbotenfahrrad erlebt hat, das dazu führt, dass er auch nach fast 13 Jahren in Deutschland und garantiert ohne ein einziges problematisches Postbotenfahrraderlebnis an diesen Dingern nicht entspannt vorbeigehen kann, sondern sie im Vorbeilaufen wütend ankläffen will. (Ja, das ist nicht gut.)

Ach, und Schweineohren. Er hat panische Angst vor Schweineohren. Und vor Schweinen, wie wir mal in der Nähe eines Bauernhofes in meiner Heimat herausfinden mussten, aber in Berlin begegnet man denen ja nicht so oft.

Er hat jeden Tag Menschen, an denen er vorbeischlurfte, zum Lächeln gebracht. Und die Verzücktheit, die er bei manchen auslöst, ist mit zunehmendem Alter eher noch gewachsen. Und fast jeder sagt etwas originelles wie: „Oh, ein Wolf!“

Er ist unabhängig und souverän, entspannt und skeptisch, eigensinnig und cool. Er ist ein richtig guter Hund, ich bin glücklich und ein bisschen stolz, dass ich ihn meinen Hund nennen durfte, und ich vermisse ihn jetzt schon.

Ümleitung

Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.

Na gut, das stimmt nicht ganz. Hier ist immer noch all das nachzulesen, was ich in den vergangenen Jahren so gebloggt habe. Und eine große Auswahl von Artikeln, die ich für Zeitungen geschrieben habe, alte und aktuelle.

Aber neue Blogeinträge werden vorläufig nicht hinzukommen. Der Grund dafür steht hier. Meine neue publizistische Heimat heißt Übermedien.de.

Hier geht’s lang!

Unabhängigkeitserklärung

Oh, hallo.

Ich muss Ihnen was sagen. Ich bin umgezogen.

Vor drei Wochen schon. Aber ich war so beschäftigt damit, mein neues Zuhause zusammenzuzimmern und einzurichten und mit Leben zu füllen, dass ich nicht dazu gekommen bin, hier einen ordentlichen Nachsendeauftrag zu hinterlassen.

Dies hier ist ein besonderer Ort für mich. Er hat diese einzigartige Mischung aus Privatheit und Öffentlichkeit, wie sie nur ein Blog schafft. Es ist mein Ort, niemand redet mir hier rein, ich kann ihn gestalten und befüllen, wie ich will – und gleichzeitig lebt er davon, dass andere Menschen ihn betreten, von der Aufmerksamkeit und der Kommunikation.

Ich hatte nie einen Plan, was aus dieser Seite werden sollte, als ich vor neuneinhalb Jahren anfing, jenseits von BILDblog Sachen ins Internet zu schreiben, wie es Felix „ix“ Schwenzel sagen würde, auf dessen Seiten ich als Urlaubsvertretung damals begann. Es gab, wie ich gerade nachgesehen habe, schon in den ersten Wochen Schafcontent, ging um Wahlduelle, Mären [Plural gerade nachgeschlagen], Drittsender und natürlich den Islamhass der Islamhasser von „Politically Incorrect“.

Lieblingsthemen und Formen fanden und ergaben sich, manche Einträge entwickelten eine erstaunliche Wirkung, und wenn ich gerade keine Zeit oder keine Lust hatte, hier etwas hineinzuschreiben, dann stand hier halt nichts.

Das hätte natürlich, einerseits, ewig so weitergehen können. Andererseits hatte ich aber zunehmend die Lust und das Bedürfnis, aus dem, was da entstanden war, etwas Neues zu entwickeln. Einen Rahmen zu finden, der mir die Möglichkeit gibt, zusammen mit anderen Medienkritik in allen Formen zu betreiben, lebendig, vielfältig, abwechslungsreich, experimentierfreudig, relevant und gelegentlich albern.

Einen Rahmen, der mir die Unabhängigkeit gibt, ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten von Auftraggebern arbeiten zu können. Es ist erstaunlich, wenn man, sagen wir, ein Konzept für eine Fernsehsendung hat, die sich auf unterhaltsame, aber schonungslose Art mit dem Fernsehen beschäftigt, wie schnell man schon in den allerersten Gesprächen mit Verantwortlichen auf Bedenken stößt. Nicht erst mittendrin, während der Arbeit, wenn man merkt, dass man Kompromisse eingehen muss, wie das immer so ist. Sondern schon ganz am Anfang, wenn Leute im ersten Gespräch mit Flatterband Bereiche absperren, die man, wenn es zu einer Zusammenarbeit kommen sollte, nicht betreten kann.

Das wäre doch ein Traum: Wenn man Medienkritik unabhängig von Medien betreiben könnte, unabhängig von Verlagen und Fernsehsendern, und trotzdem nicht nur so nebenbei, als eine Art Hobby, als Blog. Das wäre, das ist mein Traum.

Das ist die Idee, die hinter Übermedien steht, das ich mit dem hier auch schon einschlägig bekannten Boris Rosenkranz ins Leben gerufen habe. Wir haben darüber viele Monate gegrübelt, verschiedene Wege ausprobiert, Ideen entwickelt und verworfen, Preismodelle ausgedacht und verworfen, Paywall-Implementierungen eingebaut und verworfen.

Der Traum ist nämlich auch: davon leben zu können. Hauptberuflich Übermedien zu betreiben. Mit all den Möglichkeiten und Verpflichtungen, die sich daraus ergeben (zum Beispiel der, nicht tage- oder wochenlang gar nichts zu veröffentlichen, wegen keine Lust oder Zeit).

Wolfgang Michal hat sich neulich schon darüber lustig gemacht, dass Kollegen davon träumten, „irgendwann ein eigenes kleines Medien-Geschäft zu haben“, und mich als „Medienunternehmer“ bezeichnet. Das bin ich dann wohl, aber es trifft es nicht, denn die Geschäftsidee ist in Wahrheit vor allem eine publizistische Idee, und das Unternehmen heißt Unabhängigkeit.

Wir haben eine GmbH gegründet und uns unser Stammkapital vom Konto klauen lassen. Wir wären fast auf die fiesen Briefe von fiesen Firmen reingefallen, die man bekommt, wenn man ins Handelsregister eingetragen wurde, und die einem unter sehr offiziell aussehendem Briefkopf das Gefühl vermitteln, man müsste genau dafür jetzt nochmal zahlen. Wir haben den Starttermin drei Wochen vorher nochmal um zwei Monate verschoben und dann nochmal um zwei Tage. Und trotzdem war es am Ende unfassbar knapp und eng und anstrengend, aber jetzt ist es auf der Welt, also, seit fast drei Wochen schon, und muss nun nur noch wachsen und gedeihen.

Vielleicht haben Sie den Elefanten bemerkt, der sich da während der letzten Absätze in den Raum geschlichen hat. Den mit dem blinkenden „Krautreporter“-Logo auf dem Rücken. Ja, damals hatte ich auch schon von einem „Traum“ geschrieben, dem Traum, dass die Leser für die eigene Arbeit bezahlen.

Der ist für mich mit „Krautreporter“ nur zum Teil in Erfüllung gegangen. Das Crowdfunding war ein großer Erfolg, aber was wir eigentlich mit dem Geld machen wollten, wie das so finanzierte redaktionelle Produkt wirklich aussehen sollte, war unklar und am Ende für mich nicht überzeugend.

Übermedien ist auch ein Versuch, aus den Fehlern von „Krautreporter“ zu lernen (ich bin sicher, wir werden stattdessen genug eigene machen). Wir haben ein klares Thema, einen unverwechselbaren Fokus, und wir verkaufen nicht Schrödingers Katze im Sack. Sie können sich die Inhalte ansehen und entscheiden, ob sie Ihnen etwas Wert sind.

Also, konkret zum Beispiel 3,99 Euro im Monat.

Für ein Magazin, das sich professionell, kontinuierlich, vielfältig mit Medien auseinandersetzt. Dass diese Auseinandersetzung nötig ist, haben die vergangenen Wochen überdeutlich gezeigt. Die großen, furchtbar überhitzten politischen Debatten (um mal einen Euphemismus zu benutzen) sind alle durchwirkt und überlagert von Mediendebatten; von Zweifeln an der Berichterstattung, Gerüchten, Falschmeldungen, Vorwürfen von Einseitigkeit, Übertreibungen, Übertreibungen, politischer Abhängigkeit.

Es mangelt nicht an Medienkritik, aber es mangelt an guter Medienkritik. Es mangelt an Medienkritik, die nicht abhängig ist von den Medien, die sich aber auch nicht blind auf die Seite der Kritiker schlägt. Es mangelt an Medienkritik, die nicht ideologisch motiviert ist, die nicht hysterisch ist, die nicht ahnungslos ist.

Wir wollen versuchen, einen Beitrag zu leisten, diesen Mangel kleiner werden zu lassen. Gleichzeitig wollen wir nicht verbissen sein, sondern, wann immer es geht, unterhaltsam, sogar mal positiv.

Theoretisch kann man das hier genauer nachlesen, aber zum Glück kann ich ja auch schon auf ein paar Beispiele verweisen, wie das in der Praxis aussieht.

Zum Start habe ich ein langes Interview mit „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo geführt, weil der mein Tun mit großer Skepsis begleitet. Ich habe mir ein paar Gedanken gemacht über die angebliche „Schweigespirale“, die es bei der Berichterstattung über Straftaten von Ausländern gegeben haben soll, über den Eifer, immer die ethnische Herkunft von Verdächtigen anzugeben, und darüber, was sich aus der Sache mit dem erfundenen toten Flüchtling in Berlin lernen lässt.

Boris hat mit dem vermeintlich „härtesten Jugendrichter Deutschlands“ Richter darüber gesprochen, wie er den Medien nutzt und wie er die Medien benutzt. Er hat dafür gesorgt, dass wir es in die „Tagesschau“ schaffen:

Und er hat sich in die Abgründe von „Focus Online“ vorgewagt und das Erfolgsgeheimnis von deren Filmen erklärt. Videos für Menschen, die keine Texte lesen, und denen Bilder egal sind:

(Bitte beachten Sie die stylische Scheinbetonwand im Hintergrund. Das war eine unserer ersten großen, kniffligen, wirklich brisanten Geschäftsentscheidungen: Wie der Hintergrund in dem kleinem Studio aussehen soll, das wir uns hinten im Büro eingerichtet haben für solche Videos und viele andere, mit diesen teuren Platten, die einem als Hallschlucker verkauft werden, und allem Pipapo. Okay, eher nur „Pi“, für den Anfang, das ist unsere Garage, quasi.)

Endlich habe ich auch die Gelegenheit, mein Talent als Dieter Thomas Heck auszuprobieren. Wenn ich Ihre Aufmerksamkeit bitte auf diesen Versuch lenken darf, das versehentlich eingeschaltete „Apfelweinfest 2015“ im hr-Fernsehen im vergangenen Spätsommer ohne langjährige Therapie zu verarbeiten:

Wir haben noch so viele Ideen, für Wichtiges und Witziges. Wir wollen mit der Kamera rausgehen und einen anderen Blick auf das werfen, worüber alle berichten. Wir wollen uns gründliche Analysen leisten, anstatt nur gefühltes Wissen wiederzugeben. Wir wollen mit vielen unterschiedlichen Leuten zusammenarbeiten, die ihren eigenen Blick auf die Medien mitbringen.

Ich bin, zugegeben, nicht in jeder Sekunde optimistisch, ob das überhaupt gelingen kann. Ob man in all dem ohrenbetäubenden Getöse und Durcheinander, das gerade herrscht und womöglich jetzt zum Dauerzustand wird, Aufmerksamkeit gewinnen kann, wenn man nicht versucht, der Lauteste, der Voreiligste zu sein. Andererseits: Wenn ich den Glauben verloren hätte, dass Aufklärung etwas bewirkt, dass Kritik nützlich sein kann und dass eine gute Debatte Menschen klüger macht, müsste ich mir einen anderen Beruf suchen.

Wir wollen Medien besser kritisieren. Mit Ihnen und für Sie! (Und Euch.)

Bleibt die Frage, was dann aus diesem Blog wird. Ehrliche Antwort: Ich weiß es noch nicht. Vielleicht polstere ich es umfassend mit Flausch aus. Vielleicht entdecke ich noch ein anderes Thema. Vielleicht ist es auch ein Ort für eher persönliche Notizen zu dem, was in den Medien und anderswo passiert.

Ich habe dafür keinen Plan. Aber das war ja immer schon so.

Und jetzt würde ich mich sehr freuen, wenn Sie mir nach nebenan folgen würden und mir die Treue halten. Und Abonnent werden!

Bis zur WM sollen in Katar 7000 Arbeiter sterben – an was auch immer

7000 ausländische Arbeiter werden in Katar bis zum Beginn der Fußball-WM 2022 ums Leben kommen. Der frühere DFB-Präsident Theo Zwanziger hat nicht zuletzt angesichts dieser ungeheuren Zahl die Fans dazu aufgerufen, das Ereignis zu boykottieren.

Diese Meldung zieht seit Freitag Kreise, wird von den Nachrichtenagenturen verbreitet. Kein Wunder: Eine griffige Zahl von Todesopfern, eine plakative Forderung. Es ist ein großer PR-Erfolg für den internationalen Gewerkschaftsbund ITUC. Er basiert auf einer höchst zweifelhaften Berechnung.

Die Zahl 7000 hat der Gewerkschaftsbund einfach auf der Grundlage von Statistiken der staatlichen Gesundheitsbehörde errechnet. Die hat vor mehreren Monaten einen Bericht mit diversen Kennzahlen für das Jahr 2013 veröffentlicht. Unter anderem steht darin auch die Todesrate der Menschen im Land, aufgeschlüsselt nach Einheimischen und Ausländern sowie Altersgruppen.

Bei Ausländern im Alter zwischen 15 und 64 Jahren kommen danach auf 1000 Menschen 0,6 Todesfälle im Jahr. Wenn in Katar ungefähr 1,8 Millionen Gastarbeiter leben, wie der ITUC schätzt, sterben also jährlich davon rund 1000 (1.800.000 * 0,6 ‰). Bis zur Weltmeisterschaft sind es noch sieben Jahre, also werden insgesamt 7000 Gastarbeiter sterben. Bäm, Zahl, Schlagzeile.

Nun umfasst die Zahl von 0,6 Promille aber sämtliche Sterbefälle unter den fast zwei Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter aus dem Ausland in Katar, auch solche, die nichts mit den miserablen Arbeitsbedingungen zu tun haben. Ich habe keine Ahnung, wie viele das sind, aber: der ITUC auch nicht.

Interessanterweise ist die Todesrate in Katar unter Einheimischen im arbeitsfähigen Alter fast dreimal so hoch wie unter Ausländern: 1,7 Promille. Das lässt sich allerdings dadurch erklären, dass die Gastarbeiter relativ jung sind und dass sie, bevor sie einreisen dürfen, auf bestimmte Krankheiten getestet werden. Das senkt natürlich die Todesrate.

Aber Tatsache ist: Menschen sterben, auch Menschen zwischen 15 und 64 Jahren, auch unter besseren Umständen, als sie auf den Baustellen in Katar herrschen. So zu tun, als gingen die 7000 zu erwartenden Todesfälle von arbeitsfähigen Ausländern in Katar alle auf das Konto der furchtbaren Arbeitsbedingungen, ist unredlich.

In Deutschland liegt die Todesrate bei den 18- bis 64-Jährigen übrigens sogar bei rund 2,6 Promille. Auch diese Zahl ist nicht mit den 0,6 Promille unter den ausländischen Arbeitern in Katar vergleichbar, weil die, wie gesagt, nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind. Aber wenn die Zahl von 0,6 Promille skandalös hoch sein soll, ist das mindestens erklärungsbedürftig.

Im Bericht des ITUC wird die bedingte Aussagekraft dieser Zahl zumindest angedeutet. Er erwähnt zum Beispiel auch, dass Verkehrsunfälle eine größere Rolle spielen dürften. Aber der ITUC setzt trotzdem auf das Schlagzeilenpotential der zweifelhaften Zahl 7000 – und fügt sogar noch dramatisch hinzu, dass eine frühere, ebenfalls viel zitierte ITUC-Angabe von möglicherweise 4000 toten Arbeitern, eine „tragische Unterschätzung“ darstelle.

Viele Nachrichtenagenturen griffen die ITUC-Zahl auf, AFP ironischerweise mit dem wohl als Distanzierung gemeinten Zusatz, der Gewerkschaftsbund „erklärte allerdings nicht, wie er auf diese Zahl kommt“. Doch, das tut er. Nur erschüttert diese Erklärung eben die Aussagekraft der Zahl.

Ich habe keine Zweifel daran, dass die Arbeitsbedingungen in Katar furchtbar sind, und es ist gut, wenn Organisationen wie der ITUC und Journalisten sie öffentlich anprangern. Aber der Preis für die Aufmerksamkeit kann nicht darin bestehen, zweifelhafte Horrorzahlen zu verbreiten.

[mit Dank an Guido Haeger]

So lügt Udo Ulfkotte: Fordert die UNO, die deutsche Bevölkerung durch Araber zu ersetzen?

Es ist nämlich so, dass die Sache mit den ganzen Asylbewerbern, die jetzt nach Deutschland kommen, von langer Hand geplant war, seit mindestens eineinhalb Jahrzehnten schon. Die Vereinten Nationen forderten damals schon heimlich, dass die deutsche Bevölkerung einfach durch Migranten aus Nahost und Nordafrika ersetzt wird. Das wird zwar ein Vermögen kosten und Unruhen auslösen, aber Politik und Wirtschaft wollen es so.

Das klingt natürlich erst einmal etwas abwegig, aber der Bestsellerautor Udo Ulfkotte kann es beweisen. Er hat ein entsprechendes Papier der UN „aus dem Jahr 2001“ entdeckt und berichtet darüber auf der Seite des auf solche brisanten Enthüllungen spezialisierten Kopp-Verlages.

Es ist ein schönes, schlimmes, besonders anschauliches Beispiel dafür, wie einflussreiche ausländer- und islamfeindliche Hetzer wie Ulfkotte mit Lügen Propaganda machen.

Das vermeintliche Skandal-Papier gibt es tatsächlich. Ulfkotte verlinkt sogar darauf und zeigt einen Ausriss des Titelblattes:

Und schon an dem Fragezeichen, das da am Ende des Titels steht, könnte man erkennen, dass es sich nicht um ein Papier mit „Forderungen“ der UNO handelt. Der Bericht der UNO-Abteilung für Bevölkerungsfragen rechnet verschiedene Szenarien durch, wie viel Einwanderung nötig wäre, um die schrumpfenden Bevölkerungszahlen in acht Ländern mit besonders niedrigen Geburtenraten in den nächsten Jahrzehnten auszugleichen. Es geht darum, die Auswirkungen „unterschiedlich großer Migrationsströme auf den Umfang der Bevölkerung und ihren Alterungsprozess deutlich [zu] machen“.

Berechnet wird je nach Szenario, wie viel Zuwanderung nötig wäre, um bestimmte, unterschiedliche Ziele für das Jahr 2050 zu erreichen, zum Beispiel: die Größe der Bevölkerung insgesamt aufrecht zu erhalten; die Zahl der Menschen zwischen 15 und 64 beizubehalten; zu verhindern, dass weniger als drei Menschen dieses Alters auf einen Über-65-Jährigen kommen.

Ulfkotte schreibt über den Bericht, er sei „erst jetzt bekannt geworden“. Das ist ulfkottinesisch für „ich persönlich habe gerade erst von diesem Bericht erfahren“, lässt das Papier aber natürlich ungemein viel geheimnisvoller, wichtiger und brisanter erscheinen.

Obwohl es seit 21. März 2000 einfach auf der Website der Vereinten Nationen herumliegt und die Organisation als Teil ihrer Nichtbekanntmachungsstrategie sogar eine Pressemitteilung in verschiedenen Sprachen, darunter so exotischen wie Deutsch, herausgegeben hat.

Nun bleiben, zugegeben, manche Studien trotz Pressemitteilung unbeachtet. Diese nicht. Die „Frankfurter Rundschau“ zum Beispiel berichtete am 4. April 2000 ausführlich darüber. Anlass war eine Podiumsdiskussion, die die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen über das Thema in Berlin veranstaltete (vermutlich ebenfalls, um ein Bekanntwerden der brisanten Geheimpläne zu verhindern).

Die FR referierte nicht nur die Szenarien der UNO und nannte einige Zahlen, sie zitierte auch Kritik daran. Dass laut der Studie die Vergreisung der deutschen Gesellschaft nur komplett ausgeglichen werden könne, „wenn jährlich 3,4 Millionen Menschen die Grenze überquerten“, habe etwa die Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungskunde, Charlotte Höhn,
als „völlig absurd“ bezeichnet. Die Zahlenspiele der UN ließen einiges „Gefühl für die politische Brisanz“ vermissen.

Auch andere Medien griffen den UN-Bericht in Berichten und Analysen auf, so der „Focus“ am 20. März 2000 („Kontinent der Greise“), die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am 12. April 2000 („188 Millionen Einwanderer zum Ausgleich?“), die „Welt“ am 1. August 2000 („Ohne Ausländer droht Kollaps der Sozialsysteme“). Schon im Januar waren erste Ergebnisse vorab veröffentlicht geworden, über die Medien wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („UN: Industrieländer müssen ihre Tore für Zuwanderer öffnen“, 8. Januar 2000), die „Frankfurter Rundschau“ („Verordnete Einwanderung ist kein Allheilmittel“, 12. Januar 2000) und „Die Woche“ („Qualifizierte Immigration“, 21. Januar 2000) berichteten.

Im „Focus“-Artikel aus dem März 2000 findet sich folgende bemerkenswerte Passage:

„Als wir Anfang Januar erste Zahlen über die alternde Industriegesellschaft veröffentlicht haben, rannten uns die Medien regelrecht die Tür ein“, erinnert sich Thomas Büttner von der Bevölkerungsabtung beim Sekretariat der Vereinten Nationen. Das enorme Echo auf die Studie, die an diesem Dienstag in New York vorgestellt wird, überrascht nicht.

Ein „enormes Echo“ 2000 – oder wie der Experte Udo Ulfkotte vom Fachportal kopp-online.de fünfzehn Jahre später schrieb: „erst jetzt bekannt geworden“.

Laut Ulfkotte fordern die Vereinten Nationen, die „Öffnung Deutschlands für 11,4 Millionen Migranten“ auch „gegen Widerstände in der Bevölkerung beim Bevölkerungsaustausch“ durchzusetzen. Tatsächlich warnt der Bericht vor den negativen Folgen der Migration, sowohl für die Herkunftsländer, als auch für die Zielländer, wo soziale Spannungen entstehen könnten. Beides müsse die Politik bei ihren Entscheidungen berücksichtigen.

Die beste Verdrehung aber hat Ulfkotte sich für den Schluss aufgehoben. Hinter der großen Zahl von Flüchtlingen stecke, dass die Vereinten Nationen Völker einfach durch andere Völker ersetzen lassen wollten, behauptet er. Dieses „Replacement Migration“-Programm sei aber teuer. Ulfkotte:

Man hat im Umfeld der UN auch schon einen Vorschlag, wie das alles finanziert werden soll: Die Deutschen sollen das Rentenalter im ersten Schritt auf 72 und im zweiten Schritt auf 77 Jahre hochsetzen.

Tatsächlich kommen diese Zahlen im UN-Bericht vor. Sie geben allerdings das deutsche Rentenalter an, das nötig wäre, wenn es gerade keine Einwanderung gibt. Dann müsste das Rentenalter auf 72,4 hochgesetzt werden, wenn auf einen Rentner nicht weniger als drei Menschen im arbeitsfähigen Alter kommen sollen, bzw. auf 77, um auf das Verhältnis von 1:4,4 zu kommen, das in Deutschland 1995 herrschte.

Ulfkotte behauptet, die Deutschen müssten viel länger arbeiten, um sich die Einwanderer leisten zu können. Das Gegenteil ist der Fall: Die Deutschen müssen viel länger arbeiten, wenn sie es sich leisten wollen, auf Einwanderung zu verzichten.

Ulfkotte verfälscht nicht nur die UN-Studie in grotesker Weise. Er hat nicht einmal verstanden, dass die Überlegungen, die darin angestellt werden, letztlich den von besonders niedrigen Geburtenraten betroffenen Ländern dienen sollen; Ländern wie Deutschland, die ohne Einwanderung gravierende Probleme mit ihren Sozialsystemen bekommen. Nicht auszuschließen ist natürlich, dass er nicht zu dumm ist, das zu verstehen, sondern es eine bewusste Lüge als Teil seiner Propaganda ist.

Der Mann, der sich nach eigener Auskunft als Journalist von Regimen und Unternehmen kaufen und Artikel vom Bundesnachrichtendienst diktieren ließ, macht seit Jahren Stimmung gegen Ausländer, Asylbewerber und Moslems. Und er hat damit Erfolg, auch mit diesem Stück. „Kopp-Online“ ist eine Nachrichtenquelle bei Google News. Der Artikel wurde im Netz tausendfach empfohlen und geteilt. Diverse andere Blogs verbreiten die Desinformation weiter. In den Kommentarspalten der Medien tauchen Ulfkottes Lügen jetzt schon auf.

Uuuuuh, Cartoons für Erwachsene… Der (vorerst) gescheiterte Versuch, „Nichtlustig“ ins Fernsehen zu bringen

Er ist einer der erfolgreichsten Cartoonisten Deutschlands. Über eineinhalb Millionen „Nichtlustig“-Bücher, hunderttausende Kalender und andere Ableger hat Joscha Sauer in den vergangenen zehn Jahren verkauft. Fast 700.000 Menschen sind Fans von „Nichtlustig“ auf Facebook. 183.000 Euro kamen zusammen, als Sauer vor drei Jahren mit einem Crowdfunding Geld sammelte, um eine erste Folge einer Trickfilmserie mit seinen Dinosauriern, Lemmingen und Yetis, mit dem in der Wand wohnenden Herrn Riebmann und dem mit einem Pudel lebenden Tod produzieren zu können.

Aber die Fernsehserie gibt es immer noch nicht. Denn das deutsche Fernsehen hat kein Interesse daran. Sauers Geschäftspartnerin Britta Schewe hat nach eigenen Worten in den vergangenen Jahren alle abgeklappert: ZDF, ProSiebenSat.1, RTL interactive, Tele 5, RTL 2, Turner… Wenn es überhaupt eine Antwort gab, dann eine Absage.

Deshalb versucht es Joscha Sauer nun wieder mit einem Crowdfunding. Mindestens 110.000 Euro sollen zusammenkommen. Je mehr es werden, umso mehr Folgen können produziert werden.


Joscha Sauer.

War das Crowdfunding vor drei Jahren auch schon eine Notlösung, weil sich kein Fernsehsender fand, der „Nichtlustig – die Serie“ finanzieren wollte?

Joscha Sauer: Im Grunde ja. Ich kann mich an einen Kontakt bei ProSiebenSat.1 erinnern, auf den ich viel gesetzt hatte, und war verwundert, wie schleppend das voran ging. Dann kam irgendwann auch die Absage, mit dem Argument, dass wegen der Wirtschaftskrise die Werbeeinnahmen fehlten und die Sender sagten: Wir haben kein Geld mehr, um Experimente zu machen und neue Sachen zu finanzieren. Ich weiß bis heute nicht, inwieweit das stimmt oder nur ein vorgeschobenes Argument war, sich nicht weiter mit diesen seltsamen kleinen Zeichentrickfilmen zu beschäftigen.

Aber die kurzen Clips, die ich damals produziert habe, wären auch sehr verbesserungswürdig gewesen. Ich hätte eher verstanden, wenn die Absage gelautet hätte: „Daran musst du arbeiten.“ Aber das Argument kam nie.


Die im ersten Crowdfunding finanzierte Folge.

Das Crowdfunding hat dann ganz fantastisch funktioniert. Wir haben die erste Folge fertiggemacht und versucht, sie Sendern zu zeigen, um eine weitere Finanzierung zu bekommen. Natürlich hat auch das Ding Kinderkrankheiten – ich habe gemerkt, dass das Konzept eher für ein kürzeres Format passt, nicht für zwanzig Minuten. Wenn ich danach mit Sendern gesprochen habe, kam aber nie der Ansatz: Okay, lass uns daran arbeiten und das gemeinsam entwickeln, dass es passt.

Es gab grundsätzlich kein Interesse?

Joscha Sauer: Nein. Ich dachte, dass die Sender beeindruckt sind, dass ich ohne Hilfe zehntausend Leute mobilisiere, für eine erste Folge Geld auszugeben. Dass das zeigt, dass es da einen Bedarf gibt. Ich habe das Gefühl, Fernsehleute leben in so einer Blase: Alles, was nicht im Fernsehen erfolgreich ist, ist auch irgendwie egal. Dann war das Geld relativ schnell aufgebraucht, und das Team hat sich wieder zerstreut. Danach hat Britta, die ich lange kenne, sich darum gekümmert, auf Basis ihrer Kontakte zu versuchen, „Nichtlustig“ als Trickfilm an den Sender zu bringen.


Britta Schewe, Joscha Sauer im Skype-Interview.

Mit welchem Erfolg?

Britta Schewe: Ich beschäftige mich seit über zehn Jahren mit dem Vertrieb von Inhalten, im Netz und im Fernsehen. Ich habe mit jedem Sender in Deutschland wegen „Nichtlustig“ Kontakt aufgenommen. Man stößt dabei auf eine vorgefestigte Meinung: „Animation in Deutschland für Erwachsene? Uuuuuh, davon lassen wir besser die Finger.“ Einmal hat mich jemand vom ZDF mitten im Satz unterbrochen und gesagt: „Nee, wenn’s um Erwachsene geht, das machen wir gar nicht.“ Da kannst du erzählen, dass die „Nichtlustig“-Zielgruppe bei Jugendlichen losgeht und auch generationenübergreifend funktioniert – egal. Da wird nicht jedes Thema einzeln bewertet – wieviele Bücher sind verkauft worden, wie lange gibt es eine Merchandising-Linie, wieviele Fans verfolgen das Thema in Sozialen Netzwerken – alles, was man aus einer kaufmännischen Sicht beachten und bewerten würde. Soweit kommt es gar nicht. Die sagen: Erwachsene? Nee, lass mal.

Das heißt, ihr seid in den Verhandlungen gar erst nicht so weit gekommen, dass die andere Seite sagen konnte: Das ist uns zu teuer?

Britta Schewe: Es ging nie um den Preis. Das wäre auch nicht das große Problem gewesen. Natürlich hast du immer Geldverhandlungen. Aber das kommt ja erst in einem Prozess. Wir sind aber überhaupt nicht in diesen Prozess reingekommen. Wir waren froh, wenn uns überhaupt jemand geantwortet hat – und ich kenne in so ziemlich jedem Sender jemand persönlich. Das finde ich am Kritikwürdigsten an all dem: Man hat keine Chance, für den Animationsbereich kreativ an Businessmodellen zu arbeiten, weil du gar erst nicht so weit kommst.

Joscha Sauer: Ich hab das Gefühl, dass das deutsche Fernsehen generell nicht besonders innovations- und experimentierfreudig ist. Es fehlt der Mut, Dinge zu entwickeln, die noch nicht perfekt sind, in die man Zeit und Geld stecken muss, um dann aber auch etwas zu haben, was wirklich originell ist. Ich kann nicht sagen, ob das eine deutsche Mentalitätsfrage ist, ob das mit der bürokratischen öffentlich-rechtlichen Senderstruktur zu tun hat…

Und es gab auch nie Antworten wie: Okay, für ein Zehn-Minuten-Format haben wir nicht wirklich den Sendeplatz, aber lass uns doch mal gucken, ob wir das nicht als Fünf-Minuten-Clips in eine andere Sendung integrieren?

Britta Schewe: Nada, nüscht. Wir sind wirklich gegen Wände gerannt. Eine Antwort lautete: „Der Humor ist nicht schräg genug für uns.“

Joscha Sauer: Ich habe seit Jahren immer die Furcht, dass das Konzept nicht zugänglich genug ist. Weil es ja nicht als Pitch fürs Fernsehen konzipiert ist, sondern sich entwickelt hat mit diesen vielen seltsamen Figuren. Ich dachte immer, vielleicht ist es zu schräg, deshalb kann ich nicht bei den Leuten landen. Und dann kommt diese Mail…

Habt ihr mit den Leuten vom geplanten Jugendprogramm von ARD und ZDF gesprochen?

Britta Schewe: Ja, bei denen schlummern auch einige bislang unbeantwortete E-Mails von uns im Postfach.

Und Netflix?

Britta Schewe: Die tun in den USA viel, produzieren lokal aber nur sehr ausgewählt und nehmen den Produzenten dann in der Regel alle Rechte ab. Man muss man sich sehr genau überlegen, ob man das will. Aber wenn wir das wollen würden: Wir haben „Nichtlustig“ Netflix-Leuten in Amsterdam gezeigt, die wollten das ansehen und weiterreichen. Seitdem habe ich auch auf mehrere Nachfragen nichts mehr von den Kollegen gehört.

Joscha Sauer: Das Gute ist: Unternehmen wie Netflix müssen kreativ interessante Sachen machen, die sie von der Konkurrenz abheben. Also genau das Gegenteil von dem, was Fernsehen oft versucht: Möglichst nicht auffallen. Deswegen sehe ich da schon eine Chance – aber auch da ist es schwierig, an die richtigen Entscheider zu geraten.

Trotzdem habt ihr zwei weitere Folgen produziert. Wie ging das?

Joscha Sauer: Wir haben uns um Filmförderung beworben. Voraussetzung für diese spezielle Förderung war, einen Fernsehsender als Partner zu haben. Wir haben zusätzlich Universal als DVD-Vertrieb gewonnen. Die bringen vor Ostern eine DVD heraus, auf der die ersten Folgen sind plus alle existierenden Sachen aus dem Netz, inklusive Behind-the-scenes-Material, so dass wir auf circa eine Stunde Laufzeit kommen.

Britta Schewe: Und als Fernsehsender kommt joiz ins Spiel. Vor eineinhalb Jahren, als wir die Förderung beantragt haben – da war ich noch nicht Geschäftsführerin von joiz – habe ich das der damaligen Geschäftsführung vorgeschlagen. Die haben gesagt: Super Sache, aber wir haben nicht viel Geld. Wir brauchten allerdings einfach einen Fernsehsender, der mit an Bord ist – und die Zielgruppe passt auch super. Die Förderung, die wir beim Medienboard Berlin-Brandenburg beantragt und bekommen haben, ist eine TV-Pilot-Förderung. Eine andere Förderung, die serielle Formate unterstützt, gibt es aber auch nicht. Überhaupt gibt es für Animationsproduzenten bundesweit nur eine Handvoll Förderungen, die in Betracht kommen. Und die wiederum haben ganz strikte Regularien.

Wenn sich jetzt im Nachhinein ein anderer Sender fände, müsste der aber damit leben, dass joiz die Rechte hat?

Britta Schewe: Wenn ein TV-Sender sagen würde: Wir investieren eine Million, dann würde joiz sagen, wir geben ein paar Rechte zurück.

Das Crowdfunding ist also für weitere Folgen, zusätzlich zu den beiden neuen?

Joscha Sauer: Ja. Die, die wir haben, sind finanziert – mit eigenem Geld und Geld vom Medienboard Berlin-Brandenburg.

Britta Schewe: Der anarchistische Gedanke ist, dass sich nicht leugnen lässt, dass es ein Interesse an dieser Serie gibt. Die einzigen, die das nicht hören wollen, sind die Leute in der Industrie. Wenn das Crowdfunding gut funktioniert, werden eventuell andere Marktteilnehmer, die uns dazu befähigen würden, sehr viel mehr zu machen, vielleicht irgendwann auf den Trichter kommen, den ein oder anderen Euro zu investieren.

Joscha Sauer: Ich bin da inzwischen sehr viel skeptischer, muss ich sagen. Und bin gleichzeitig natürlich auch immer skeptisch, ob auch ein Crowdfunding ein zweites Mal wieder so gut funktioniert. Ein Crowdfunding ist ja auch heikel, weil man sich nackig machen muss. Man kriegt zwar viel Zuspruch von Leuten, das ist toll, aber man muss diese ganzen Prozesse, mit denen man in so einem kreativen Projekt hadert, öffentlich austragen. Man macht sich sehr angreifbar, weil ich plötzlich nicht intern mit einer Instanz darüber diskutieren muss, ob etwas nicht billiger geht, sondern mit zehntausend Leuten. Das ist schon auch sehr zermürbend.

Was kostet eine Folge „Nichtlustig“, so wie ihr sie jetzt produziert?

Joscha Sauer: Momentan liegt unser Budget bei 110.000 Euro pro Folge auf Kickstarter – abzüglich Fremdkosten landen wir bei circa 80.000 Euro Produktionskosten. Da müssen wir aber schon jeden Cent einzeln umdrehen, Kompromisse eingehen, die wir am liebsten nicht eingehen würden, und ich sitze jeden Abend bis Mitternacht an den verschiedensten Sachen herum. Es ist eigentlich zu wenig.

Britta Schewe: Wir reden von einer qualitativ sehr hochwertigen Art zu animieren. Man sieht sich immer mit dem Argument konfrontiert, dass Animation so teuer sein soll – Heidi Klum ist teurer!

Joscha Sauer: Es gibt im Animationsbereich entweder diese bombastischen Sachen, große Filme von Pixar und Disney, oder YouTube-Animationen, die extrem kostensparend sind. Da kommen einige Leute wunderbar mit klar: Mein Freund Ralph Ruthe macht auf diese Weise fantastische Videos. Aber es ist eben eine sehr eingeschränkte Art, an Animationen ranzugehen. Das gibt es: Sehr teure Projekte, vor allem aus Amerika, und Dinge, die überhaupt nichts kosten. Dazwischen gibt es leider fast nichts.

Was wäre dein „Nichtlustig“-Serientraum? Eine dreizehnteilige Serie aus Zehnminütern?

Joscha Sauer: Ich will mir nicht irgendwelche Luftschlösser bauen und dann enttäuscht werden. Ich kann mir natürlich wunderbar eine komplette Serie vorstellen, habe genug Material und ein Konzept, das das trägt. Aber ich versteife mich nicht darauf, dass es auf jeden Fall 12 oder 13 Folgen sein müssen. Das wäre auch utopisch, weil ich im Moment nur Crowdfunding als Finanzierung sehe. Auf nichts anderes kann ich zählen. Je nachdem, wie viel da zusammen kommt, weiß ich Ende des Jahres, wieviel Geld ich habe, damit das Team nicht wieder auseinandergeht, und ob es für ein oder zwei oder mehr Folgen reicht. Der Wunsch ist auf jeden Fall, eine Staffel zu machen – ein, zwei Folgen fühlen sich ja nicht nach „Serie“ an. Die Leute sollten sich für einen Zehner die Staffel kaufen können und sich dann schön ein, zwei Abende vor den Fernseher lümmeln und die komplette Serie „Nichtlustig“ angucken. Das wäre mein Wunsch: eine Serie zu schaffen.

Britta Schewe: Und dann natürlich Kino-Film und das Game, ist klar (lacht).

Joscha Sauer: Ich muss aber sagen: Früher war ich sehr viel mehr besessen von der Idee, eine Fernsehserie zu machen. Inzwischen denke ich: Nee, wir machen eine Serie, und es ist mir egal, wo sie die Leute erreicht, Hauptsache, ich kann die Mitarbeiter, die daran beteiligt sind, angemessen bezahlen.

[Offenlegung: Ich habe die beiden Crowdfundings unterstützt.]