Keine guten Nachrichten aus Baku

Es gibt ein Narrativ über Aserbaidschan, wonach sich das Land zwar langsam, aber in die richtige Richtung bewege. Es sei ja erst seit 20 Jahren unabhängig, man müsse ihm Zeit geben und es dauere halt, bis sich eine Zivilgesellschaft entwickelt habe. Daraus folgt, dass man die Regierung nicht mit Maximalforderungen und Ansprüchen überfordern dürfe, sondern Geduld haben müsse mit ihr und sie wohlwollend begleiten müsse.

Das klingt plausibel, widerspricht aber fundamental der Einschätzung der meisten Menschenrechtsgruppen und vieler Bürgerrechtler vor Ort. Sie sagen: Das Land bewegt sich nicht zu langsam in die richtige Richtung. Es bewegt sich in die falsche. Kurz gesagt: Es wird alles immer schlimmer.

Ein Bericht des Think Tanks European Stability Initiative (ESI) liefert viel Material, um diese These zu stützen. Danach hat zum Beispiel das Ausmaß der Manipulation der Wahlen und der Unterdrückung der Opposition in Aserbaidschan in den letzten Jahren zugenommen. Bei den Parlamentswahlen 2010 seien die Wahlfälschungen so eklatant gewesen wie nie zuvor — und schlimmer als in jedem anderen Mitgliedsland des Europarates.

Ein bezeichnendes Schlaglicht sind die Erfahrungen des Bloggers Emin Milli, der wegen eines satirischen Videos über korrupte Politiker diese Wahlen als politischer Gefangener erleben musste. In vielen Gefängnissen betrug die Wahlbeteiligung erstaunliche 100 Prozent. In einer Haftanstalt 120 Kilometer südlich von Baku sollen alle eintausend Häftlinge geschlossene Umschläge bekommen haben, in denen schon ausgefüllte Wahlzettel waren. Dann mussten sie sich in einer Reihe aufstellen und sie einwerfen. Ein Häftling, der versuchte, seinen Umschlag zu öffnen, soll zusammengeschlagen worden sein. Milli wurde gesagt, dass das ein Rückschritt gegenüber 2008 war: Damals durften die Gefangenen die Wahlzettel selbst ausfüllen — bekamen aber natürlich gesagt, was sie wählen mussten.

Die Wahlbeobachter der OSZE zählten, dass im staatlichen Programm AzTV während des offiziellen Wahlkampfes der Präsident viereinhalb Stunden lang vorkam, und zwar ausschließlich positiv oder neutral. Eineinhalb Stunden bekam die Regierung, eine knappe Stunde die Regierungspartei YAP. Der größte Oppositionsblock erhielt 4 Sekunden.

Seit dieser Wahl ist kein Mitglied der Opposition mehr im aserbaidschanischen Parlament vertreten.

Das eigentliche Thema des erschreckenden, faszinierenden, detaillierten Berichtes von ESI sind nicht diese negativen Entwicklungen, sondern die parallel dazu immer positivere Würdigung Aserbaidschans durch den Europarat. Die Erklärung dafür ist laut ESI einfach: Aserbaidschan hat die entscheidenden Leute im Europarat gekauft, unter anderem — mit Kaviar. Jeder der wichtigen Freunde Aserbaidschans habe regelmäßig mindestens ein halbe Kilo Kaviar bekommen, ein Wert von rund 700 Euro. Sie seien häufig nach Baku eingeladen worden, zu Konferenzen, Veranstaltungen und Sommerurlauben, wo es ebenfalls viele teure Geschenke gegeben habe: Seidenteppiche, Gold, Silber, Getränke, Kaviar, Geld.

Amnesty International veröffentlichte am 1. Mai ein Dokument, in dem es über Aserbaidschan heißt:

Die Entschlossenheit der autoritären Oligarchie, die Aserbaidschan regiert, hat zugenommen; unerschrocken ist sie gewillt, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Amnesty International zählt jetzt 18 politische Gefangene in Aserbaidschan: 14 Aktivisten, die im vergangenen Jahr für friedliche Proteste inhaftiert wurden, und jetzt zwei Journalisten und zwei Menschenrechtler, die vor kurzem zu langen Haftstrafen verurteilt wurden.

(…) Die Behörden gehen härter als je zuvor gegen abweichende Stimmen vor.

(…) Trotz allem arbeitet die Europäische Rundfunkunion im Stillen weiter mit den Behören zusammen, um den Eurovision Song Contest vorzubereiten. Dieser selbsternannte „Vorkämpfer“ für Medienfreiheit hat sich nicht für aserbaidschanische Journalisten eingesetzt und die Werte, die er zu beschützen vorgibt, nicht verteidigt.

Heute erneuerte Amnesty seine Kritik an der EBU und erklärte:

Obwohl in den vergangenen Tagen erneut zwei friedliche Demonstrationen gewaltsam aufgelöst wurden, weigern sich die Organisatoren des Eurovision Song Contest (ESC) noch immer, die Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan zu verurteilen. Amnesty kritisiert, dass die Europäische Rundfunkunion (EBU) der Regierung in Aserbaidschan damit einen Freifahrtschein gibt, hart gegen Kritiker vorzugehen.

(…) Laut den Organisatoren der Proteste haben Polizisten zahlreiche Demonstranten geschlagen, in Busse gedrängt und aus der Stadt gefahren. 38 Demonstranten wurden festgenommen. Einer der Organisatoren, Abulfaz Gurbanly, berichtete Amnesty International, dass er im Polizeigewahrsam geschlagen, getreten und mit einem Gummiknüppel misshandelt wurde. Auch andere Demonstranten seien während ihrer Haft geschlagen worden.

Die friedlichen Proteste wurden vor den Augen einer Reihe internationaler Journalisten aufgelöst, was die Versicherung der EBU, die internationale Medienaufmerksamkeit in Baku würde die Menschenrechtssituation verbessern, in Frage stellt. (…) „Die Behörden in Aserbaidschan denken anscheinend, dass sie die negative Berichterstattung unbeschadet überstehen werden und mit der Unterdrückung abweichender Meinung fortfahren können.“

Heute wurde eine Kundgebung von Menschen, die vor dem Gebäude des staatlichen Fernsehsenders Ictimai — ein EBU-Mitglied und Ausrichter des Eurovision Song Sontest in diesem Jahr — für freie Wahlen demonstrieren wollten, gewaltsam aufgelöst.

Derweil protestierte die aserbaidschanische Regierung dagegen, dass die schwedische ESC-Teilnehmerin Loreen sich mit Bürgerrechtlern getroffen hatte. Laut AFP forderte ein Vertreter des Präsidentenbüros in Baku die EBU auf, solche „politisierten Aktionen“ zu unterbinden und einzuschreiten.

Die Kampagne „Sing for Democracy“ hat die Teilnehmer des ESC dazu aufgerufen, ihre Solidarität zu zeigen:

26 Replies to “Keine guten Nachrichten aus Baku”

  1. „Milli wurde gesagt, dass das ein Rückschritt gegenüber 2008 war: Damals durften die Gefangenen die Wahlzettel selbst ausfüllen — bekamen aber natürlich gesagt, was sie wählen mussten.“

    Dieser Satz ruft viele Gedanken in mir hervor. Ich kann es sehr leicht vor Elend witzig finden, denn wenn 100% gezwungen werden, die Partei zu wählen, ist es ja keine Verschlechterung in dem Sinne, weil man schon am Maximum ist.

    Dass überhaupt die Gefangenen dazu gebraucht wurden ist ja auch interessant. Man hätte ja auch einfach behaupten können, sie hätten 100% die Partei gewählt, ohne sie aus den Zellen zu lassen.

    Und… gilt in anderen Ländern nicht oft, dass wer im Gefängnis ist ohnehin nicht mitwählen darf?

  2. Ich werde den Grand-Prix dieses Jahr boykottieren und rufe alle anderen Fernsehzuschauer auch dazu auf. Eine Veranstaltung bei der sich die EBU eins mit einer Diktatur macht ist für mich unerträglich.

  3. Am erschreckendsten finde ich, wie billig sich die käuflichen, gewissenlosen Halunken kaufen lassen. Für ein bisschen Kaviar lässt man einfach die Opposition über die Klinge springen. Ein paar Fußballpiele waren immerhin einen Plasmafernseher wert…

  4. Herr Feddersen ist ja eine unendlich ergiebige Quelle von Zitaten:

    „Aserbaidschan braucht gewiss mehr Akkuratesse in puncto Menschenrechte.“

    Menschenrechte als Rundungsfehler.

  5. Achja und zum Topic: sehr erschreckend (allein das mit den Gefängnissen…)

  6. Oh c’mon war das jetzt schon zu hart? Dann eben Anna PLANKEN, die wrsl beste Moderatorin der deutschen TV-Landschaft, von Arte bis Sixx. Trotzdem war die Recherche miserabel und der Grand Prix hieß früher NICHT immer „Grand Prix“.

  7. #2
    Lieber Herr Wolf,
    was macht ihr plötzlich so menschenrechtsbewegten Gesangsfreunde eigentlich, wenn der nächste Grand Prix
    in Israel stattfindet ?
    All die kritischen Beiträge von ai bis israelische Bürgerrechtler lassen sich in Fragen des Umgangs Israel mit den Palästinensern auch finden.

  8. ich verstehe immer weniger, warum Sie trotz allem noch werbung für dieses land und diesen grand prix machen, herr niggemeier. mir erscheint nichts sympathisch oder unterstützenswert an diesem land und dieser veranstaltung.

  9. @fred: Es gibt doch einiges, was unterstützenswert ist an diesem Land, insbesondere, wenn man es mit seinen Nachbarn vergleicht. Aber an welcher Stelle habe ich jetzt nochmal Werbung dafür gemacht?

  10. verzeihung, aber alles, was mit dem grand prix zu tun hat und der berichterstattung, ist werbung für aserbaidschan, so wie die letzte olypmiade werbung für china war und die olympiade 1936 werbung für deutschland.

  11. Seit der Dismembration der alten Sowjetunion gibt es keine anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, die mit mehr Genugtuung und Stolz auf die letzten beiden Dekaden als beispiellose Erfolgsgeschichte zurückblicken können als Kasachchstan und eben Aserbaidschain. Der überwältigende Erfolg bringt hüben wie drüben Neider und Querulanten hervor, aber Präsident Ilham Aliyev hält nichts von dem zynischen Geschwätz und schreibt nahtlos in gekonnter Manier die Erfolgsgeschichte seines Vaters Heydar (RIP) fort, mir selber sind sie noch aus Komsomoltagen in bester Erinnerung.

  12. @Fred: wieso unterstützt du mit deinen Klicks „werbung“ für Dinge die du nicht magst? Dadurch machst du doch die Werbugn erfolgreicher und es wird noch mehr „Werbung“ für dinge gemacht, die du nicht magst…
    (jedenfalls wenn man völlig undifferenziert an die Sache herangeht…)

  13. @17 Hesse: Natürlich darf alles mit allem verglichen werden, z.B. „Ironie an“ die Keulenriegen im Berliner Olympiastadion mit den Keulenriegen der uniformierten Büttel auf den Straßen von Baku „Ironie aus“. Aber jetzt mal im Ernst: Könnte es sein, daß Sie Nazi-Olympia und Alijew-ESC gerade auf eine Ebene gebracht haben? Deshalb meine Nachfrage an alle, die sich angewidert vom Spektakel abwenden: Die Fußball-EM in der Ukraine schauen Sie aber schon im Fernsehen an?! Und die Schach-WM in Moskau klicken Sie vielleicht auch im Internet an?! Nur mal kurz zur Erinnerung, wie schnell einem die Maßstäbe verrutschen können … Lese ich dann allerdings Komm. 15, dann schiebt mir ein böses Vergleichsteufelchen doch glatt das unstatthafte „Geil Gajdar“ in die Hirnwindungen …

  14. Tach, Herr Kampfstrampler. Nett, sich wieder mal hier zu begegnen. Eine kurze Anmerkung. Sie schreiben: „Könnte es sein, daß Sie Nazi-Olympia und Alijew-ESC gerade auf eine Ebene gebracht haben?“
    Nun gibt es durchaus ein tertium comparationis. Faschistische und autoritäre Regime zeigen (vorsichtig formuliert) die gemeinsame Tendenz, internationale Sport- und Massenverstaltungen in ihrem Land zu politisieren, d.h. in ihrem politischen Interesse zu instrumentalisieren. Dies darf man feststellen – ohne damit die Nazis und das Alijew-Regime qualitativ „auf eine Ebene“ zu bringen.
    Oder?

  15. Gegen diesen Ihren Vergleich würde ich auch nie polemisieren wollen, lieber Herr Kreimeier. In den großen Rundumschlag dürfen Sie dann auch gern spätstalinistische (wie Moskau 1980) oder cocacolaistische Olympiaden (wie Atlanta 1996) miteinbeziehen – von den kleptokratischen (wie Athen 2004) oder modernisierungsdiktatorischen Spielen (wie Peking 2008) reden wir jetzt mal gar nicht. Und damit ist das tertium comparationis doch schon arg verwässert. Die Nazis hatten 1936 eine beängstigende Effizienz darin, Widerspruch im Lande erst gar nicht richtig aufkommen zu lassen (die historischen „Mittel und Wege“ dafür zähle ich jetzt nicht auf) – da müssen die Alijews aber noch heftig an ihren Dissidenten arbeiten (zynisch, ich weiß). So langsam komme ich mir bei dieser Diskussion um ESC Baku vor wie der bekannte Orientexpress-Direktor bei Agatha Christie, der jedesmal, wenn ihm Hercule Poirot einen anderen Verdächtigen und einen anderen Plot vorschlägt, immer zustimmt: Ja, genauso war es. Und siehe da, es stimmte ja auch alles – das eine war richtig und das andere auch, und die Widersprüche waren eben nur scheinbar. Was für eine grandiose Synthese (und zugleich die Aufhebung von These und Antithese in einem ganz anderen Sinne).

  16. Nein, mit diesem Wischiwaschi kommen Sie mir nicht davon. Meine Formulierung „faschistische und autoritäre Regime“ ist ziemlich genau. Ein-Parteien-Diktaturen wie die ehemalige sowjetische oder die chinesische rechne ich ihnen zu, Clan-Herrschaften wie die von Alijew (mit allen notwendigen Abstufungen gegenüber den vorher genannten) auch.

    „Cocacolaistisch“ hingegen ist ein hübscher, aber politisch kaum handhabbarer Begriff. Sie sagen damit weniger über die USA als über Ihre eigene Person etwas aus: dass Sie keine Coca-Cola trinken (bravo!) und die USA nicht besonders mögen. Ich habe an den USA sehr viel zu kritisieren, glaube jedoch, dass für die kapitalistisch aufgezäumten, vom Mammon diktierten Olympiaden unserer Epoche Atlanta genau der richtige Austragungsort war. Auch unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte, der ja unser Ausgangspunkt war.

    Was Griechenland betrifft, so zögere ich nicht, die Regierungen unter Karamanlis oder Papandreou „kleptokratisch“ zu nennen – zumal im Licht neuerer und neuester Erkenntnisse. Aber hilft uns dieser Begriff weiter? Das Griechenland von 2004 war eben nicht mehr das Griechenland der Obristen; Karamanlis und Papandreou griffen den Leuten in die Tasche, erfüllten aber nicht die Kriterien eines „autoritären Regimes“. Die Griechen haben sie einfach abgewählt.

    Kritik beginnt mit der Fähigkeit, Unterschiede zu machen – das wissen Sie als sprachkundiger Mensch. Mit Ihren Beispielen werfen Sie aber alle Regierungen/Systeme in einen Topf, die defizitär bzw. irgendwie unangenehm sind oder Ihrem Geschmack nicht entsprechen. Ihre Logik: letztlich ist die ganze Welt schlecht, und wenn wir erst einmal anfangen, irgendwo wegen der Menschenrechte Sperenzchen zu machen, dann müssten wir es überall tun. Also fangen wir am besten gar nicht damit an.

  17. Nee, geschätzter Opponent – Sie haben gerade mit dem Zusammenschmeißen von „faschistischen“ und „autoritären“ Regimes Ihr Tertium comparationis entwertet. Ich bin sehr dafür, sehr genau zu differenzieren. Und dann liegen Alijew-Regime und Nazi-Deutschland eben doch nicht auf einer Ebene – das war ein rhetorischer Kunstrgiff Ihrerseits, den ich nicht mitmache.

  18. Main Fazit:
    Gemäßigte Demokratien und gemäßigter Kapitalismus erschaffen keine großen Bauwerke.

  19. @22-Kampfstrampler
    Was ist ein „tertium comparationis“? Laut Duden „das Gemeinsame zweier verschiedener Gegenstände oder Sachverhalte“. In diesem Sinne habe ich behauptet, dass zwei verschiedene Systeme – faschistische und autoritäre Regime – ein Gemeinsames haben: die „Tendenz, internationale Sport– und Massenverstaltungen in ihrem Land zu politisieren“. Gerade um zu vermeiden, die beiden Systeme qualitativ auf eine Ebene zu stellen. Das ist doch eine glasklare und äußerst einfache Denkstruktur. Oben haben Sie dieser Aussage übrigens noch zugestimmt – na ja.

    Lassen wir’s! Wir verkampfstrampeln uns wieder einmal auf einem Nebenkriegsschauplatz. Ausgangspunkt waren die Menschenrechte. Es ist notwendig, sie zu verteidigen – gegen Diktaturen jeglicher Provenienz, gegen autoritäre Regime, und auch gegen Übergriffe in unserer schönen blankgeputzten Demokratie.

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