„Meist gibt es Kaffee und Kuchen“

Heute spielen wir: „Rate das Magazin!“ Die Regeln sind einfach: Ich zeige Ihnen eine Handvoll Stellen aus Zeitschriftenartikeln, und Sie müssen sagen, ob sie aus der „Bunten“ oder aus dem „Spiegel“ sind. Heute dreht sich alles um das Familienleben von Helmut Kohl. Und los:

A.

Drinnen spielen die Musiker der rheinland-pfälzischen Staatsphilharmonie Bach. Durch die Kirchenfenster bricht goldenes Licht. Dann betritt Walter Kohl die Kanzel; er erinnert an den Tod der Mutter, ihr langes Leiden. Er lobt die Arbeit ihrer Stiftung, die Bedeutung des ehrenamtlichen Einsatzes für Hirnverletzte. Seine Stimme klingt kupfern wie die Kirchenglocken.

B.

Die Bedingungen, die ihm seine Söhne für eine Aussöhnung stellen, sind kaum zu erfüllen. Sie verlangen, dass er die neue Frau an seiner Seite in die Schranken weist, aber das ist eine Forderung, der er nur um den Preis einer Trennung nachkommen könnte. Seine Frau wiederum ist empört über die ständigen Anfeindungen durch die Söhne, die sie nie als zweite Lebensgefährtin akzeptieren konnten. Sie erwartet, dass ihr Mann im Familienstreit auch öffentlich für sie Position bezieht und den Angriffen entgegentritt. Es ist eine völlig verfahrene Situation.

C.

Vor drei Wochen sah es kurzzeitig so aus, als ob zumindest eine vorsichtige Annäherung gelingen könnte. Erst kam Sohn Peter in Oggersheim vorbei, dann meldete sich Walter am Telefon. Jahre hatten die beiden nicht mehr miteinander gesprochen.

„Hallo Papa, hier ist Walter“, waren die ersten Worte nach der Zeit der Stille. Es sei eine spontane Geste gewesen, so berichtete der Sohn später, er habe in seinem Arbeitszimmer gesessen und auf das Bild seines Vaters gesehen. Man habe länger miteinander geredet. Der Vater sei „allein zu Hause“ gewesen, er habe sich über den Anruf aufrichtig gefreut.

D.

Aus dem Umfeld des Altkanzlers hieß es später immer, [Kohl und Maike Richter] seien sich erst nach dem Selbstmord nähergekommen. Aber auch die Söhne kennen natürlich die Gerüchte, dass die Affäre vor dem Tod der Mutter begonnen habe. 1994 hatte Maike Richter im Kanzleramt als Referentin angefangen. Mitarbeiter erinnern sich, dass die junge Frau schon bald erstaunlich oft in der Reise-Entourage des Kanzlers auftauchte.

E.

Auf einem Foto, das kurz nach der offiziellen Einführung als Lebensgefährtin die Runde machte, trug sie einen Hosenanzug aus dem Kleiderschrank der verstorbenen Ehefrau Hannelore.

F.

Es gibt viele Geschichten, wie Maike Richter sich des Hofstaats entledigte. Es sind sehr hässliche dabei. In einer Geschichte ist davon die Rede, dass der verlässliche Ecki Seeber, der den Kanzler fünf Millionen Kilometer durchs Land kutschierte, eines Tages die Schlüssel zu Haus und Wagen abgeben musste, einfach so, als wäre er ein ganz normaler Bediensteter gewesen.

Es ist schwer zu sagen, was an solchen Geschichten stimmt und was nicht, aber es fällt auf, dass sie immer von Leuten erzählt werden, die bis heute nicht verwinden konnten, dass sie keinen Zugang mehr zu dem Mann haben, der so lange Zentrum ihres Lebens war.

Natürlich sei es für viele schmerzhaft, dass sie nicht mehr vorgelassen würden, sagt ein guter Bekannter der Kohls, aber irgendwann komme ein Punkt, wo eine Ehefrau ihren Platz behaupten müsse, wenn sie nicht untergehen wolle. Aus einem vertrauten Umgang erwachsen Ansprüche. Wenn Seeber den Altkanzler zu einer Ausfahrt abholte, musste Maike Richter wie selbstverständlich auf dem Rücksitz Platz nehmen. Am Ende habe sie sogar mit den dienstbaren Geistern darum ringen müssen, wer dem Kanzler den Nachtmantel herauslegen dürfe, berichtet der Bekannte.

G.

Bis heute sorgt sie rund um die Uhr für ihren Mann, unterstützt von Ordensschwestern, die diskret bei der Krankenpflege helfen. Kohl selber hat später gesagt, er verdanke seiner zweiten Frau das Leben. Aber nun führt auch kein Weg mehr an ihr vorbei. Wenn sie im Haus ist, und das ist meist der Fall, geht sie ans Telefon. Briefe und Anfragen wandern zunächst über Maike Richters Schreibtisch, im Berliner Büro sitzt jetzt eine Bekannte aus gemeinsamen Bonner Tagen.

H.

Der Altkanzler hat nach wie vor regelmäßig Besuch, so ist es nicht. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer war neulich für eine Stunde da, auch Jürgen Rüttgers und Stefan Mappus haben sich in den vergangenen Monaten beim Altkanzler eingestellt. Meist gibt es Kaffee und Kuchen, wenn es später wird auch deftige Hausmannskost, wie Kohl sie immer geliebt hat, dazu ein Glas Wein für den Hausherrn.

 
Und hier die richtige Lösung:

 
Nun wäre es falsch, den Eindruck zu erwecken, der „Spiegel“ würde sich in seiner aktuellen Titelgeschichte „Die Familie Kohl — Ein deutsches Drama“ (aus der sämtliche Zitate oben stammen) auf einer Länge von fast 34.000 Zeichen nur damit befassen, wer dem Altkanzler den Nachtmantel rauslegt und was für Leute ihn „diskret“ pflegen. Der Artikel erzählt auch nach, was schon in der ARD-Dokumentation „Liebe an der Macht“ vor eineinhalb Jahren zu sehen war, die der WDR vorvergangenen Dienstag noch einmal wiederholt hat, bringt noch einmal einen teils wortgleichen Remix von Jan Fleischauers Besprechung der neuen Hannelore-Kohl-Biographie im „Spiegel“ vor vier Wochen, rekapituliert, was überall sonst in den vergangenen Monaten über das zerrüttete Verhältnis des Altkanzlers zu seinen Söhnen zu lesen war, und versucht sich als Aphoristiker: „Die Politik ist ein gefräßiges Tier, es verschlingt die Zeit eines Menschen, der sein Glück in ihr sucht.“

Vieles davon könnte man natürlich als trivial bezeichnen, muss es aber nicht tun, weil der „Spiegel“ das selbst übernimmt, wenn er schreibt:

Die Privatfehde mit den eigenen Kindern setzt [Helmut Kohls] Lebenswerk jetzt einer Trivialisierung aus, gegen die er nicht mehr anreden oder anschreiben kann.

Ob der Wortteil „Privat-“ vor „-fehde“ an dieser Stelle ironisch oder gar selbstironisch gemeint ist, kann ich nicht sagen. Schon im Vorspann aber schreibt der „Spiegel“:

Das Bild des Staatsmanns Helmut Kohl droht vom privaten Drama überlagert zu werden.

Man muss sich das Wort „drohen“ hier in dem Sinne vorstellen, dass ein Jugendlicher auf einer morschen Brücke wild auf- und abspringt und dabei ruft: „Die droht einzustürzen!“

Das zumindest unterschwellig noch vorhandene Unwohlsein des „Spiegels“, wenn er wieder einmal zur „Bunten“ wird, kann man auch hier wieder aus den Wichtigkeitsbeteuerungsübertreibungen ablesen:

So einem Familiendrama hat die Republik noch nicht beigewohnt. Es ist ein zu Herzen gehender Stoff, der in diesen Wochen öffentlich aufgeführt wird, geeignet für einen großen Film, nur dass sich dieses Drama nicht auf der Leinwand entfaltet, sondern in einer der prominentesten Familien des Landes. Es geht um unerfüllte Liebe, das Versagen als Vater, die ganz normale Schludrigkeit und Schuftigkeit in einer Ehe, die am Ende in die Katastrophe münden. Diese Tragödie spielt im wirklichen Leben, wo normalerweise die Vorhänge fest verschlossen sind, und trotzdem können alle zusehen, als säßen sie im Kino.

Die fest verschlossenen Vorhänge müsste mir mal jemand zeigen, aber gut. Der „Spiegel“-Artikel endet so:

So lange Helmut Kohl noch am Leben ist, geht es nur um verletzte Gefühle, nach seinem Tod wird der Kampf um das Vermächtnis beginnen.

Der materielle Nachlass ist eher bescheiden. (…) Wirklich bedeutend ist das intellektuelle Erbe, die Notizen, Tagebücher, Briefe und Protokolle, die im Keller seines Hauses in Oggersheim liegen. Wer über dieses Material verfügt, der hat auch die Deutungsmacht über die Jahre im Amt und damit das Vermächtnis des Mannes, der wie nur wenige Nachkriegsdeutschland geprägt hat. Wenn es so weit ist, berührt der Streit nicht mehr nur die Geschichte der Familie Kohl, sondern auch endgültig die der Republik.

Wirklich? Wer die Notizen erbt, aus denen der Altkanzler selbst eine bislang schon zweieinhalbtausend Seiten umfassende Autobiographie gemacht hat, bekommt damit die „Deutungsmacht“ über Kohls Zeit als Bundeskanzler und kann die Gechichte [sic] der Bundesrepublik (um)schreiben? Das scheint mir eine steile These. Oder, natürlich, schon die prophylaktische Legitimation der nächsten „Spiegel“-Titelgeschichte über Nachtmäntel und Hausmannskost.

58 Replies to “„Meist gibt es Kaffee und Kuchen“”

  1. Wen ein von vielen immer noch verehrter „Staatsmann“ von einer Zeitschrift als widerwärtiger Machtmensch, als schlechter Vater, noch schlechterer Ehemann und auch ansonsten wenig vermissenswertes Ekel enttarnt wird, dann ist das doch eine journalistische Leistung. NOCH kann man derart berichten, NOCH ist der Mann nicht tot. In ein paar Wochen vielleicht verschwindet die Chance auf derartige Berichterstattung in „De mortuis“-Tabus und ähnlichem ethischen Kokolores.

  2. Ich hab‘ drei Richtige. Trotz oder wegen meiner Erinnerung an den 70-er-Jahre-Spiegel.

    Wahrscheinlich taucht der gesamte Artikel des Spiegels jetzt in der Bunten auf, in der (neuen) Rubrik „Hohlbunte“.

  3. Ich glaube, das Ende meint eher die Notizen darüber, wer damals die schwarzen Kassen gefüllt hat. Das könnte wirklich etwas bewegen.
    Aber ich nehme an, da wird der Stern schneller sein -SCNR-

  4. Nach dem dritten Zitat habe ich mir gedacht, dass muss eine Zeitschrift sein, nach dem vierten war klar, dass es nur der Spiegel sein kann. Der Tip nach dem ersten Abschnitt war aber auch Bunte. Krieg ich jetzt nen Preis?

  5. Eine Formulierung wie „das intellektuelle Erbe“ in Verbindung mit Helmut Kohl, da muss man aber auch erstmal drauf kommen.

  6. Das ist Offtopic, aber da ich es gerade sehe, vielleicht weiß es ja jemand:Wie oft war eigentlich Hitler auf dem Titelbild des Spiegels?

  7. @11
    So spontan gibt es glaube ich die Faustregel, dass pro Jahr einmal Hitler kommt. Dieses Jahr war er ja schon drauf. Auf jeden Fall öfter als Kohl.

  8. Ich kann diesen quotengeilen people-Quark nicht mehr lesen. Der ganze aufmerksamkeitsheischende, pseudo-indiskretionierende Kammerdiener-Blickwinkel, der ja nur im geflügelten Wort keine Helden kennt – der geht mir mittlerweile gehörig auf den Sack. Die Tonlage – Wehwehchen und Weltgeschichte in einem Satz – kennt man aus den Millionen Hitler-Titeln des SPIEGEL. Getretener Quark wird breit und nicht stark. Und dann erst Fleischhauer! Kurzum, das Hamburger Käsblatt taugt nur noch zum ganz flüchtigen Durchblättern vor der Supermarktkasse. Verlangen die ernsthaft 4.– für ihre Postille? Unfaßbar…

  9. Es wird, natürlich, kommen: „Kohls Tagebücher“ auf dem Titel, eine einsame Kladde als Titelmotiv, die gedruckte Auflage kurz vor dem Verbrauch sämtlicher Wälder der Taiga, und dann…

    Ich finde es nicht schlimm, wenn Politiker und ihre oft zu trivialen Motive und „Taten“ enthüllt werden. Absurd finde ich allerdings, dass wir (und der Rest der Welt) uns das zu oft nur posthum gönnen, denn: Was habe ich von Enthüllungen über Machtmissbrauch und Machtgebrauch, wenn die beschriebenen „Taten“ schon verjährt bzw. die Kosten vom Steuerzahler bezahlt wurden oder die „Täter“ nicht mehr haftbar gemacht werden können?
    („Taten“ und „Täter“ habe ich in Gänsefüßchen gefasst, damit hier niemand die juristische Axt holt. Das könnte eventuell drohen, behaupte ich.)

  10. Ich find das übrigens toll, Stefan, dass dein Blog in letzter Zeit so interaktiv ist und zum Mitraten animiert. Das gibt’s ja sonst nur bei Michae… äh euch im Fernsehblog zur Weihnachtszeit.

  11. Ich finde es irgendwie seltsam wenn der Spiegel überhaupt über Kohl berichtet. Natürlich sind es Journalisten und haben eine gewisse Informationspflicht – aber weder sind die Spiegel Artikel über Kohl informativ noch ist es sinnvoll. Man sollte sich dort einfach damit zufrieden geben, dass die ewige Fehde Kohl vs. Spiegel in ein paar Monaten sein Ende findet.

  12. ich glaube an der Deutung aus #2 von schwanensee könnte was dran sein.
    Noch lebt Helmut Kohl, noch kann man das schreiben. Wenn Helmut Kohl mal stirbt ist das mehr oder weniger erstmal 2 Jahr tabu.

  13. Also am besten gefallen hat mir das „intellektuelle Erbe“.

    Ich befürchte, so lustig wie damals mit der Brandt-Witwe wird es nicht werden. Bei Kohl gibts doch noch nicht mal eine Adenauer-Uhr oder so, über die man streiten könnte.

  14. Ich finde es ziemlich dämlich, Kohl aufgrund seines Akzents und Aussehens den Intellekt abzusprechen. Wahrscheinlich seit Ihr einfach zu jung, um Euch an den Kohl im schwarzen Anzug mit schmaler Krawatte, Ray-Ban-artiger Brille, pomadiertem Haar und Pfeife im Mundwinkel zu erinnern. So waren damals „junge intellektuelle Wilde“.

  15. @ SvenR

    Wer tut das aufgrund seines Akzents und Aussehens? Vielleicht tut man es eher wegen seines politischen Gebahrens? Weil einen das „intellektuelle Erbe“ eines notorischen Lügners und Betrügers vielleicht einfach nicht interessiert?

    Für mich ist Helmut Kohl ein ganz armes Würstchen, durch und durch moralisch verrottet. Nur leider wird sich bald, wenn er von dieser Erde geht, niemand finden, der das noch sagen mag. Niemand Wichtiges.

  16. @12: Aber nein, Spiegeltitel werden anteilig an Hitler, irgendwelches Tagesgeschehen und aseptisch beleuchtete Brüste („Sozialthemen“) vergeben.

    Sie finden das hier sehr schön visualisiert.

  17. @SvenR: Was Sie da beschreiben waren die Blues-Brothers

    @Schwanensee: Niemand ist wichtig..

  18. @25: Och, Kohls Antworten sind doch ganz interessant. Dieses „Gespräch“ zeigt viel eher, was für ein schlechter Interviewer Diekmann ist. Wer keine einzige kritische Frage stellt, kann halt auch keine Sensationen erwarten.

  19. @30

    Im Gegenteil: ein „kritisches“ Interview mit Kohl ist nicht möglich. Nur ein Schleimer wie Diekmann kann Kohl so zeigen, wie er ist, weil er sich nur so einem gegenüber öffnet. Da zeigt sich dann, dass für Kohl als Maßstab nur gilt, wie man sich ihm gegenüber verhalten hat. Wehe, die „Gechichte“ wird ihm nicht gerecht.

  20. @29 Fehldiagnosen, lieber Herr Neven DuMont, sind in solchen Fällen unvermeidlich – schließlich können Autoren wie Rezensenten nicht mehr als Deutungsangebote liefern, deren Plausibilität ständig zu überprüfen ist. Hinzu kommt, daß Historiker (und H.Kohl war auch einer – schluck!) zumeist über Dinge schreiben, bei denen sie nicht anwesend waren. Sollten sie jedoch Zeit-, sogar Augenzeuge historischer Ereignisse und Vorgänge gewesen sein, ist noch mehr Vorsicht angebracht: Dann fehlt ihnen zusätzlich die erforderliche Distanz. Ihren Artikel im „Freitag“ habe ich gelesen – ich fand ihn erfreulich abwägend und differenziert.

  21. @schwansensee #23: Ich finde es genauso dämlich, ihm aufgrund seines politischen Gebahrens, seiner Lügen, seiner Betrügereien, seiner moralischen Verrotteheit den Intellekt abzusprechen.

    @Helen M. #24: Dto. bzgl seines jämmerlicher Charakters.

    @polyphem #26: Genau, da hat er ja auch mitgespielt. Hatte ich ganz vergessen.

  22. Mir schein, der Blogautor stößt sich auch am narrativen bzw. fiktionalen Stil des Spiegel-Artikels. Den haben übrigens die Amis erfunden. Genau, Joe Klein, diese Liga. Da finden es alle geil. Aber seitdem SPIEGEL-Lesen nicht mehr cool ist, werden hier natürlich andere Maßstäbe angelegt.

  23. Von Tag zu Tag bin ich glücklicher mit der Entscheidung, endlich mein Abo gekündigt zu haben…

  24. Kupfern klingen die Kirchenglocken,
    Der Blogger bellt blechern und böse.
    Hoffnungsfroh die Holzmedien hocken,
    doch Bleibuchstaben bleiben trocken.
    Trotzig sinken die Erlöse.

  25. Naja, narrativer bzw. fiktionaler Stil in einem Bericht, der unaufgeklärte Gemüter beeindrucken soll – der ist nicht jenseits des Großen Teiches erfunden worden, sondern natürlich von den Gebrüdern Grimm, die es zum Markenzeichen ihrer Erzählungen gemacht hatten, Schauerliches möglichst trivial, d.h. für alle, die sich beim Lesen und Schreiben schwer tun, darzubieten. Ein Märchen aus uralten Zeiten .., und siehe da, es spielt sich heute ab, vor unseren Augen und Ohren, die sich langsam, aber sicher abgewöhnt hatten zu glauben, daß Gemütlichskeitsdespot („Bernhard, mach de Aff!“) Helmut die Werte der von ihm so hoch gehaltenen „Famillje“ tatsächlich verkörpert. Insofern, lieber Herr Niggemeier, haben sie mit Ihrem vergnüglichen Ratespiel literaturtheoretisch vollfett daneben getroffen. Die Trivialität des Textes ist gewolltes Dekonstruktionsmuster. Nur mit dem abgegriffenen Wort „Drama“ hat der Spiegel daneben gezielt. Besser wäre: „Ein deutsches Familienmärchen“.

  26. Die Phrase „In einer Geschichte ist davon die Rede, dass…“ ist mein persönliches Highlight dieser Ausschnitte.

  27. Hmmm…. großes HMMMM… hab in 5 von 8 Fällen auf den SPIEGEL getippt. Was sagt das wohl aus?! ;)

    Normalerweise könnte man ja entschuldigend auf die saisonal bedingte Saure-Gurken-Zeit verweisen. Aber es ist ja nicht so, dass gerade nix wichtiges in der Welt geschehen würde…

  28. @SvenR; #35

    Über Kohls „Intellekt“ mag ich keine Debatte führen, so wenig wie über die Frage, ob Frau Pooth/Feldbusch dumm ist oder nur so tut.

    Die Formulierung vom „intellektuelle Erbe“ hat mich begeistert. Worin mag das bestehen? Für Hinweise wäre ich dankbar.

  29. Auch wenn der Spiegel hier zur Bunten wird – ich denke diese Grenze ist schon seit langem fließend. Der Artikel hat doch einen gewissen Unterhaltungswert. Stellt man ihn allerdings in den Kontext von öffentlichen Äußerungen der Kohl-Söhne (Buch, Talksendungen, Interview im Deutschlandfunk usw.) komplettiert sich nicht nur das Bild einer sehr tragischen Familie, sondern auch das totale Versagen Helmut Kohls als Vater und Mensch. Das wiederum zerstört den letzten Rest von Achtung den man man dem Mann noch entgegenbringen konnte.

  30. „Und eh man`s sich versieht, ist´s eben ein Roman..“ (Goethe)
    Das ist der „aktuelle“ (sic!) Stil des Spiegel.

    @kampfstrampler
    „..Im Unterschied zur Sage und Legende sind Märchen frei erfunden und ihre Handlung ist weder zeitlich noch örtlich festgelegt…“
    steht bei wikipedia (Jaja ich weiß, Wikipedia.)

  31. @ 36: ‚Narrativer Stil‘ hin und her – man muss nicht gleich jeden Quark als solch ein revolutionäres und brandneues Stilmittel ausschreien. Nehmen wir nur das Beispiel hier: „Meist gibt es Kaffee und Kuchen, wenn es später wird auch deftige Hausmannskost, wie Kohl sie immer geliebt hat, dazu ein Glas Wein für den Hausherrn.“ Alles unanschaulich, alles Abstrakta (‚Hausmannskost‘, ‚ein Glas Wein‘), da ginge es wohl auch konkreter. Kurzum – da war also niemand ‚dabei‘, da wird bloß aus zweiter Hand referiert, das ist folglich auch keine Erzählung, sondern eine Nacherzählung dessen, was die Köchin kolportierte. Außerdem nützt der dollste Erzählstil nichts, wenn man nichts zu erzählen hat. Ein alter Mann nimmt Kaffee und Kuchen zu sich – ja, wer hätte das nun wieder gedacht? Banales wird pretiös aufgeflockt – Karl Kraus nannte das wohl mal den ‚Mausistil‘. Mich jedenfalls erinnert das mehr an die ‚Neue Freie Presse‘ als an Gay Talese oder Hunter S. Thompson …

  32. Danke, Stefan Niggemeier, für diesen Einblick in ein Magazin, das ich schon lange nicht mehr gekauft habe. Wenn man verglichen hat, kann man der Süddeutschen so manchen Unsinn verzeihen, den einige ihrer (meist neuen, preisgünstig angeheuerten) Leute Tag für Tag verzapfen: Was ich auf Seite Drei über die Kohls gelesen habe, hatte Niveau. Gute Redakteure haben keine kupfern klingenden Kirchenstimmen nötig.

  33. Lieber Zyklop, dann war das „Sommermärchen“ 2006 also auch frei erfunden?! Nein, gegen Wikipedia habe ich in solchen Punkten durchaus etwas: Grimms Märchen sind keineswegs frei erfunden, sondern spiegeln – wie die Saga – eine längst vergangene kulturhistorische Wirklichkeit, die fiktional überhöht oder auch dekonstruiert ist. Dagegen sind Legenden tatsächlich frei erfunden, was den Aussageinhalt angeht; nur die handelnden Personen stimmen ihrem Namen nach. Aber darüber könnten wir uns jetztn genauso lang streiten, wie Polyphem seine Schafe gezählt hat (ohne Harald!).

  34. @kampfstrampler:

    Das Schöne an Märchen ist ja, dass sie immer gut enden. Oder ist das ein Märchen? Aber über das Schafe zählen möchte ich jetzt nicht zum Erbsenzähler werden, denn ihre Ausführungen finde ich immer wieder märchenhaft. Im Sinne von Sommermärchen

  35. Lieber Zyklop, aus der Sicht der Hexe (einer in den Wald gejagten Witwe, Lebkuchenbäckerin und Kräuterexpertin, die mit Ach und Krach der Inquisition entronnen war und nicht einmal mehr jungen Frauen bei der Geburt von Babys helfen durfte, dafür aber fast blind im sozialen Abseits geächtet leben mußte und sich kannibalistisch mit Gelegenheitsproteinen versorgte) – aus der Sicht dieser journalistisch schon längst in der Hölle der Infamie gebratenen Outlaw ist „Hänsel und Gretel“ nicht gut ausgegangen – von den Legionen tief geängstigter Kinderseelen mal ganz zu schweigen … Alles eine Sache des Standpunkts. Aber eine tolle Maere! (mhd.: Kunde, Nachricht, Botschaft; das Mediävisten-Kauderwelsch über Maere lasse ich mal beiseite).

  36. … na ja, wie zu erwarten, „Spiegel-Bashing“ ohne Ende – weil sonst nichts los ist … oder? (-;

  37. @kampfstrampler: Ich könnte Ihnen stundenlang zuhören; möchte aber doch die Frage einwerfen (sic!) ob das Märchen im Fußball- Sommermärchen nicht eher als Metapher für eben „das Schöne“, zu verstehen ist, wie es allgemein aufgefasst wird?

    Ihre Erklärung des Wortursprungs aus der mhd. „Nachricht“, hilft zu verstehen, warum so viele Journalisten Märchenerzähler sind.

  38. Ein widerlicher Artikel. So etwas schlechtes gab es im Spiegel tatsächlich noch nie. Man möchte sich fast schämen, den Artikel gelesen zu haben.

  39. Chapeau! Großartiges Rätsel, Herr Niggemeier! Ahnte es schon, wollte es jedoch nicht wahrhaben, dass ALLES davon aus dem Spiegel stammt. Zum Glück habe ich als regelmäßiger Spiegel-Leser den Leitartikel der inzwischen vorletzten Ausgabe nicht gelesen, womöglich hätte dies meinen Kopf mit unnützen Informationen gefüllt. Jetzt weiß ich, dass Spiegels Niveau tief gesunken sein muss. Zu meiner Schande: Ich lese ihn erst seit etwa Anfang der 2000er, hätte ihn aber viel früher lesen sollen, um vergleichen zu können. Dafür ist es nun zu spät.

    Danke jedoch für das tolle Rätsel!!

    Was man nun weiß: Spiegel-Leser wissen (nicht) mehr – zumindest nur etwa so viel wie Bunte-Leser wissen würden.
    Spiegel dir deine Meinung!

    (Es ist so jammervoll – denn eigentlich les icke gerne den Spiegel. Natürlich ist mir klar, dass er in den letzten Jahren und Jahrzehnten schleichend aber zunehmend seine wahre Stärke, seine investigative, aufs Wesentliche und (subversiv oder bedingungslos schonungslos) Aufklärerische fokussierte Art und Weise, die auf blumige Umschreibungen und inhaltliche Berichts-Nebenschauplätze wie Kuchen und welche Hosenanzüge da aufgetragen wurden… so was ist ein prosaisch erzählerisches Niveau, auf dem sich der Spiegel eigentlich mal nicht nötig hatte, sich zu bewegen. Nun ja, es geht um viel Auflage und Umsatz – und offenbar machen sich diese detailreichen Klatsch- und Tratsch-Infos in ihrer Irrelevanz besser als ein kluger, sachlicher und äußerst trockener Stil, den man vielleicht noch am ehesten von einer einigermaßen seriösen Tageszeitung der jeweiligen Region erwarten kann. )

  40. @ 55
    Wie schmeckt denn Gnadenvolle Schokolade? Zartbitter?
    Vermutlich besser als der Spiegel. Der hat nach Rudolf Augsteins Tod 2002 in der Tat stark nachgelassen. Dafür sorgte schon Stefan Aust. Das einstige ‚Sturmgeschütz der Demokratie‘ ist allenfalls noch eine Luftpistole.

  41. Ich laß einen Bericht im Spiegel von Jan Fleischhauer und war tief verletzt und dachte, das ist des Spiegels nicht würdig. Durch den Bericht hier und die zugehörigen Kommentare weiß ich nun aber, dass auch andere so denken wie ich und dass ich ein Bild des Spiegels in mir hatte, das jetzt mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat. Vielleicht war der Spiegel früher einmal gut, jetzt nicht mehr. RTL, der Bachelor, der Spiegel, usw.

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