Mir liegt der 177-seitige Entwurf des Koalitionsvertrages vor. Und Ihnen auch.

… Sie wissen’s nur vielleicht noch nicht.

Dem „Stern“-Kollegen Hans-Martin Tillack lag das Papier sogar schon heute am frühen Nachmittag vor. Da twitterte er nämlich:

Das war mit der Zeilenangabe und dem Bild von der Titelseite natürlich weniger eine Information für die Öffentlichkeit, als ein öffentliches Angeben: Ich hab etwas, was Ihr (noch) noch nicht habt. Aber darum geht es ja oft im Journalismus, um solche Informationsvorsprünge.

Inzwischen scheint die deutsche Presse allerdings vollumfänglich versorgt worden zu sein mit dem PDF, was jedem einzelnen Medium trotzdem eine besondere Erwähnung wert ist:

  • „Das 177 Seiten lange Papier vom 24. November liegt unserer Redaktion vor.“ (RP Online)
  • „In dem der Süddeutschen Zeitung vorliegenden Entwurf des Koalitionsvertrages …“ (sz.de)
  • „Der erste Entwurf des Koalitionsvertrags, der der ‚Welt‘ vorliegt, … (welt.de)
  • „In dem 177-seitigen Entwurf, der SPIEGEL ONLINE vorliegt, …“ (Spiegel Online)

Die Formulierung ist natürlich nicht komplett irrelevant: Sie besagt, dass die Journalisten sich bei ihren Interpretationen nicht auf Hörensagen oder Bruchstücke verlassen mussten. Aber das geht eigentlich aus den Texten auch so hervor. Vor allem dient der Satz wohl, wie Tillacks Tweet, der Prahlerei — oder vielleicht freundlicher formuliert: dem Eigenmarketing. Unsere Journalisten haben da was bekommen, was eigentlich noch gar nicht an die Öffentlichkeit kommen sollte. Wir sind gut vernetzt und nah genug an der Macht. Sind wir nicht toll?

Nun. Vor ein paar Jahren hätte das sicher so funktioniert (und als Leser fühlt man sich ja auch gut, wenn man ein Medium liest, das solche Sachen in die Finger bekommt). Ich glaube aber, dass Leser heute und morgen sagen werden: Schön, dass Euch das vorliegt, aber warum legt ihr mir das dann nicht vor? Warum gebt ihr mir nicht die Möglichkeit, mir ein eigenes Bild vom Inhalt des Papiers zu machen, darin zu stöbern, es vielleicht auf eigene Lieblingsthemen abzuklopfen? Das entwertet ja nicht eine fundierte Analyse von Fachjournalisten oder den Service, das Papier komplett durchgearbeitet zu haben, was ich als Durchschnittsinteressierter vielleicht doch nicht tun will.

Der Halbsatz von dem Entwurf, der der Redaktion vorliegt, ohne den Versuch, ihn auch den Lesern vorzulegen, spricht nicht nur von dem Versuch, einen Vorsprung vor der Konkurrenz zu bewahren (was im konkreten Fall augenscheinlich völlig abwegig ist). Er steht auch dafür, dass Journalisten einen Informationsvorsprung vor den Lesern bewahren wollen.

Das ist vielleicht keine so erfolgsversprechende Strategie mehr. Vor einer Dreiviertelstunde hat der Grüne Politiker Malte Spitz das PDF veröffentlicht, mit dem Satz:

Eine solche Haltung ist den führenden deutschen Online-Medien auch im Spätherbst 2013 noch erstaunlich fremd. Wie toll hätte sich das gelesen: „Der Entwurf liegt unserer Redaktion vor — und wir machen ihn Ihnen hier zugänglich.“

Nachtrag, 21:40 Uhr. Über den Umweg der Veröffentlichung von Malte Spitz geht es offenbar: sueddeutsche.de und stern.de („Werfen Sie einen ersten Blick auf den Koalitionsvertrag“) verweisen in eigenen Beiträgen auf das von ihm veröffentliche PDF; „Spiegel Online“ hat die „liegt vor“-Formulierung im Text geändert und verlinkt nun auch einfach direkt dorthin.

52 Replies to “Mir liegt der 177-seitige Entwurf des Koalitionsvertrages vor. Und Ihnen auch.”

  1. Gemach. Irgendwas mal schnell ins Blog stellen kann jeder, aber ein PDF-Dokument in eine 384-teilige Klickstrecke einzupflegen, wie sich das für Qualitätsmedien gehört, das braucht eben seine Zeit.

  2. Prahlerei und Konkurrenzdenken spielen da sicherlich auch mit rein, aber ist es nur das? Mal ganz naiv gefragt: Urheberrecht?

    So ein Koalitionsvertrag ist ja kein amtliches Werk (womit es urheberrechtsfrei wäre), sondern ein privates, und als solches prinzipiell vom Urheberrecht betroffen. Zwar ist es eher unwahrscheinlich, dass die CDUSPDCSU-Schreibkommission ihr Recht auch tatsächlich einfordern würde, aber rein theoretisch hätte sie es doch. Und Verlagsvertreter, die für ihre eigenen Texte sonst nicht nur auf ihr Urheberrecht bestehen, sondern es auch noch im erweiterten Kontext ein Leistungsschutzrecht einfordern, würden sich da ein bisschen unglaubwürdig machen. Politiker und Aktivisten, die für freien Informationsfluss eintreten, tun sich diesbezüglich eben leichter.

  3. Ernst gemeinte Frage: Wenn ein Journalist den Vertrag veröffentlicht, kann er dann noch darauf zählen in Zukunft auch mit solchen Informationen versorgt zu werden?

  4. @Twipsy (#1):
    Mit handschriftlichen Notizen von Sigmar! („Die übermenschlichen Anstrengungen der letzten Wochen verursachen mir Blähungen im Darmbereich, und Angie sagt ich habe Mundgeruch.“)

  5. @Grumpfdalm (#3):
    „EXKLUSIV“ im Sinne von: Es ist der einzige, den die SZ mit Stand vom 24.11., 20:00 Uhr bekommt.
    Nie die ESC-Videoblogs gesehen? ;-)

  6. > „Geht doch“

    Offenbar werden die Texte jetzt vollständig vom Schafelmaten geschrieben:

    „Satte 8427 Zeilen à 78 Anschläge umfasst die erste Fassung des Koalitionsvertrags zwischen CDU, CSU und SPD. Ergibt insgesamt 657.306 Zeichen, mit denen die Politik der nächsten vier Jahre skizziert wird.“

    Geil ey, Praktikant hat mitm Taschenrechner 8427×78 ausgerechnet und schon hat man ne neue Dünnsch…meldung.

  7. @6 Kurt:
    Gegenfrage: Wenn ein „Journalist“ dieses Skript zugespielt bekommt und nicht veröffentlicht – wird er dann noch mit solchen Informationen versorgt?

    Seltsam wirklich, daß keiner die Traute hatte, etwas (vermeintlich) Exklusives raus zuhauen – da waren wohl die Netzwerker der Partei(-en) nicht eindeutig genug.
    Früher™ war das anders – da gab’s auch mal ausführliche Handlungsstränge :-)

    @9 jj preston: genau mein Gedanke ;-)

  8. Ein Medium bekommt so was wohl nicht zugespielt, um es in den Tresor zu legen.

    Eher nicht erneut würde ich Medien versorgen, die nichts oder kaum was damit machen.

  9. […] Mir liegt der 177-seitige Ent­wurf des Koali­ti­ons­ver­tra­ges vor. Und Ihnen auch. « Ste­f… – Es geht mir hier nicht um den Inhalt, son­dern um die Form. Die Zeit, in der Ver­lage mir Leser huld­voll vor­kauen, was in einem Papier steht, das sie nie­man­dem zei­gen wol­len, sind vor­bei. Sie soll­ten es jeden­falls sein. […]

  10. Ein Aspekt, der mir hier zu kurz kommt, ist Informantenschutz. Ein zugespieltes PDF einfach so im Volltext zu veröffentlichten, kann unter Umständen leicht Rückschlüsse auf die undichte Stelle ermöglichen – zum Beispiel, wenn der Verhandlungsführer jedem Beteiligten eine geringfügig andere Version unterjubelt. Das ist in dem Fall eher unwahrscheinlich, aber es ist ein Punkt, den man im Umgang mit Dokumenten von Whistleblowern oder anderen Quellen als Journalist nicht von Vornherein untern Tisch fallen lassen sollte.

  11. @Dörk Diggler: Mal abgesehen, dass ich solche sehr persönlichen Angriffe im Schutz der Anonymität unangebracht finde: Ein bisschen eitel, vielleicht sogar arrogant muss man glaube ich schon sein, wenn man es in diesem Bereich zu etwas bringen will.

  12. Das ist aber total unverantwortlich, den Koalitionsvertrag zu leaken, bevor die SPD-Basis darüber abgestimmt hat. Jetzt wird das Abstimmungsergebnis doch total verfälscht (oder, noch wahrscheinlicher, nicht) ;-)

  13. Ich würde mal vermuten, dass die meisten Leser der oben genannten Medien sich lieber einen vom Journalisten ausgewählten Teil als die gesamten 177 Seiten des Entwurfs zu Gemüte führen. Im Endeffekt lesen dann nämlich doch nur die Medienschaffenden das Original…

  14. @Susanne, 21: Wie SN im Beitrag schon schreibt – ist ja auch völlig okay, aber was spricht dagegen, den kompletten Text als zusätzliches Angebot zu verlinken?

  15. “ Wie toll hätte sich das gelesen: »Der Entwurf liegt unserer Redaktion vor — und wir machen ihn Ihnen hier zugänglich.« “

    Das hätte sich furchtbar untoll gelesen, denn es hat diesen ätzenden Pointen-andrehenden Sensationalisierungsbindestrich drin, über den ich mich immer wieder ärgern könnte. Diese Dinger sind ganz schlechter Stil des deutschsprachigen Journalistenwesens, besonders in Überschriften und Teasern/Snippets. Da gehört maximal ein Komma hin, sonst nix.

  16. Ja, und vielleicht sollte jede Wurstbraterei dazu einladen die Würstchen selbst zu drehen und das eigene Fett mitzubringen.

    Eine schöne Sache, aber warum muss eigentlich der Journalismus für jeden Scheiß herhalten, der zugunsten der Konsumenten das eigene Geschäftsmodell vergrätzt?

    Schön, dass der Grüne das Ding doch veröffentlicht hat, aber man muss ja nicht aus Angst vor einem Hausverlust die eigene Bude notwendigerweise abfackeln.

    Absolutes Unverständnis, Mister Niggemeier.

  17. Malte hatte das Ding nach eigenen Angaben von mehreren Quellen und vermutlich immer dieselbe Datei. Also veröffentlichen. Wenn ich das Ding nur einmal hab, würd ich das nicht machen.

  18. Will das denn im Ernst jemand lesen?
    Anders gefragt: Wer von den Vorpostern hat es seit der Veröffentlichung tatsächlich gelesen?

  19. @29 Danny:
    Ich hab’s nicht gelesen – warum auch?
    Es ging ja darum, wie Medien mit ihnen zugespielten Informationen umgehen – quasi selektives Picken/Kochen vs. Offenheit.

    Davon ab:
    Mal sehen, ob und wie jetzt Medien den SPD-Mitgliedern erklären, daß Koalitionsvertrag <= Regierungserklärung <= Koalitionsergebnis …

    Hehre Worte und Taten halt ;-)

    Ich finde, bis nach dem Mitgliederentscheid bleibt es spannend.

  20. […] informationell zu öffnen. Vorbildlich! Manch deutscher Journalist versucht hingegen immer noch, das Ego durch Zurückhalten von Informationen zu vergrößern. Eine weitere Frage der journalistischen Praxis: Muss überhaupt im Unglück […]

  21. @29 Danny: Ich habe ihn gelesen. Gestern Abend im Bett. Und bevor Ihr mich für doof haltet: Andere Leute haben auch seltsame Hobbys. Ich mache sowas nicht, um inhaltlich alles nachvollziehen und bewerten zu können. Das geht eh nicht. Aber man bekommt beim Lesen ein gutes Gefühl dafür, wie regiert wird, wie Exekutive funktioniert, wie Willen sich bildet. Aber die andere Frage, die sich mir hier stellt: Warum sollte der GroKoaVertrag eigentlich wie ein Geheimdokument behandelt werden, wie hier impliziert wird? Warum soll es sensationell sein, den vorliegen zu haben? Ist es nicht eher so, dass ziemlich viele Menschen in naher Zeit darüber abstimmen sollen und ihn folglich kennen müssten? Anders gefragt: Wo ist die postulierte Exklusivität eigentlich?

  22. @35/Edgar:
    Es geht hier nicht um den endgültigen Vertrag (den sie vermutlich gelesen haben und über den die SPD-Basis abstimmt), sondern um einen vorläufigen Entwurf.

    Wenn CDU+SPD den endgültigen Vertrag nicht auf ihren eigenen Webseiten veröffentlichen würden, wäre dies allerdings seltsam.

  23. Bezüglich der Kritik »Muss das denn sein?«: Sicher ist der Vertrag(sentwurf) nur für wenige interessant und den meisten wird wohl eine journalistisch gefilterte Kurzversion ausreichen. Aber seht das doch als Angebot, so wie öffentliche Büchereien oder Theater. Wer es möchte/braucht, soll bitte auch die Möglichkeit haben.

    Bezüglich RSS-Feed: Bitte, Stefan, entferne einfach die erste Leerzeile. Die XML-Deklaration muss ganz am Anfang der Datei stehen, d.h. beim ersten Zeichen überhaupt beginnen. Dann sollte der Feed wieder funktionieren.

  24. […] Mir liegt der 177-seitige Entwurf des Koalitionsvertrages vor. Und Ihnen auch. « Stefan Niggemeier “Der Halbsatz von dem Entwurf, der der Redaktion vorliegt, ohne den Versuch, ihn auch den Lesern vorzulegen, spricht nicht nur von dem Versuch, einen Vorsprung vor der Konkurrenz zu bewahren (was im konkreten Fall augenscheinlich völlig abwegig ist). Er steht auch dafür, dass Journalisten einen Informationsvorsprung vor den Lesern bewahren wollen.” […]

  25. @24 von nona
    „Das hätte sich furchtbar untoll gelesen, denn es hat diesen ätzenden Pointen-andrehenden Sensationalisierungsbindestrich drin, (…) Diese Dinger sind ganz schlechter Stil des deutschsprachigen Journalistenwesens, besonders in Überschriften und Teasern/Snippets. Da gehört maximal ein Komma hin, sonst nix.“

    Danke, nona, Sie machen mich glücklich.
    (Es ist ernst gemeint.)
    Bitte erweitern mit dem noch beliebteren Sensationalisierungspunkt.

  26. @freiwild

    > So ein Koalitionsvertrag ist ja kein amtliches Werk (womit es urheberrechtsfrei wäre), sondern ein privates, und als solches prinzipiell vom Urheberrecht betroffen.

    Auch Vertragstexte sind nicht urheberrechtlich schützbar. Wär ja auch noch schöner, da die Anzahl an rechtlich bindenden Formulierungen für einen Fall ja recht übersichtlich ist und man ja dann gezwungen wäre, z.B. für einen Hauskauf zu genau einem Rechtsanwalt in Deutschland zu gehen, sofern er genial genug war, sämtliche Aspekte eines Hauskaufs abgedeckt zu haben, sonst hat man leider als Käufer wie Verkäufer verloren, wenn ein Einzelaspekt dann nicht in den Vertrag aufgenommen werde „darf“.

    Zur Formulierung „dem … vorliegt“. Vielleicht ist das ja auch eine Art Absicherung, wenn man vorgeworfen bekommt, dass man falsch berichtet: „Also bei _uns_ stand das im Entwurf!“ ;-)

  27. @Lothar #44

    Ich bin zwar kein Urheberrechtsexperte, möchte Ihnen aber trotzdem widersprechen: Die Schützbarkeit von einzelnen, rechtlich festgelegten Formulierungen und der Schützbarkeit eines gesamten Werkes mit 177 Seiten sind doch zwei völlig verschiedene Dinge. Einzelne rechtlich Formulierungen erreichen weder die nötige Schöpfungshöhe (wir reden hier immer noch übers Urheberrecht, nicht den „Leistungsschutzrecht“-Quatsch), und tauchen über dies in einer Vielzahl von Werken (darunter amtliche, wie z.B. Urteile) auf, und sind damit nicht urheberrechtlich schützbar. Der Koalitionsvertrag als Werk ist etwas völlig anderes.

    Genauso sind Gesetzeskommentare urheberrechtlich schützbar, Der C.H.-Beck-Verlag zum Beispiel verdient damit sein Geld. Aber weder die Bücher von C.H. Beck noch irgendein Koalitionsvertrag dieser Welt haben je zwei Parteien daran gehindert, einen beiderseitigen Wunsch verbindlich fixieren zu können.

  28. „Das entwertet ja nicht eine fundierte Analyse von Fachjournalisten oder den Service, das Papier komplett durchgearbeitet zu haben, was ich als Durchschnittsinteressierter vielleicht doch nicht tun will.“

    Beim Lesen des ganzen Beitrags hab ich immer nur gedacht „Ich will jetzt diesen Koalitionsvertrag haben, damit ich selbst da reinschaun kann!“.
    Als ich ihn dann hatte, ist mir schon beim Inhaltsverzeichnis die Lust vergangen. Werde doch erstmal nach einer guten Zusammenfassung suchen und dann vielleicht ein paar einzelne Punkte noch einmal im Detail selbst lesen, vielleicht auch nicht einmal das.
    Aber es war mir unheimlich wichtig, Zugang zur Originalquelle zu haben, um ggf. überprüfen zu können, ob das, was die Journalisten schreiben, wirklich so stimmt!

  29. […] Kurz vor Ende der Koalitionsverhandlungen habe ich zwei Fassungen des Koalitionsvertrages zwischen CDU/CSU und SPD veröffentlicht. Die Dokumente wurden mehr als 700.000-mal heruntergeladen. Die mediale Aufmerksamkeit war enorm, mehrere Radiosender, Fernsehsender und Printmedien haben darüber berichtet. Auszugsweise ein Artikel aus der Süddeutschen Zeitung und DER SPIEGEL. Medienjournalist Stefan Niggemeier griff das Thema auch von anderer Seite auf. […]

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