Corinna Schumachers Bitte um Ruhe und die grenzenlose Ungemeintheit der Medien

Der „Spiegeltest“ ist bekanntlich ein psychologisches Experiment, mit dem die Selbstwahrnehmung von Menschen oder Tieren untersucht wird. Man konfrontiert ein Lebewesen mit seinem Spiegelbild und sucht nach Anzeichen, dass es sich selbst erkennt. Orang-Utans, Schimpansen und zweijährige Kleinkinder bestehen den Test in der Regel; Katzen, Hunde und Journalisten scheitern an ihm.

Am Dienstagvormittag hat die Frau des schwer verunglückten Michael Schumacher die Journalisten in einer Erklärung aufgefordert, die Klinik zu verlassen, damit die Ärzte dort in Ruhe arbeiten können. Corinna Schumacher appellierte an die Medien: „Bitte lassen Sie auch unsere Familie in Ruhe.“

(Die Nachrichtenagentur AFP hielt das für so brisant und dringlich, dass sie gleich eine Eilmeldung daraus machte: „Corinna Schumacher fordert Journalisten zum Verlassen der Klinik auf.“ Es ist die neunte Eilmeldung von AFP über Schumacher seit dessen Sturz vor zehn Tagen:

  • Schumacher erlitt schweres Schädel-Hirn-Trauma (Ski-Station)
  • Krankenhaus: Schumacher bei Einlieferung in Grenoble im Koma
  • Schumacher schwebt weiter in Lebensgefahr
  • Ärzte: Michael Schumacher nochmals operiert
  • Managerin: Schumachers Zustand über Nacht „stabil“ geblieben
  • Ermittlerkreise: Polizei beschlagnahmt Schumachers Helm-Kamera
  • SID: Schumacher zeigt leichte Zeichen der Besserung
  • Corinna Schumacher fordert Journalisten zum Verlassen der Klinik auf
  • Schumachers Helmkamera lief zum Unglückszeitpunkt

Vermutlich läuft AFP in diesen Tagen ein bizarres Agenturen-Wettrennen um die größte Zahl an Schumacher-„Eilmeldungen“.)

Jedenfalls beklagt sich Corinna Schumacher also öffentlich darüber, dass Journalisten das Krankenhaus belagern und ihre Familie belästigen. Wäre das nicht ein Moment für Medien, die diese Nachricht erhalten, sich kurz verwirrt umzuschauen und dann zu fragen: „Hö? Meint die uns?“

Aber nein. Weiß der Himmel, was das für Medien sind, die Frau Schumacher meint, schlimme, böse Medien, die ihre Familie nicht in Ruhe lassen, komm, wir machen schnell einen Artikel daraus und bebildern ihn mit einer Auswahl der vielen, vielen Fotos, die die Familie Schumacher beim Betreten des Krankenhauses heute, gestern, vorgestern zeigen und auf irgendeine Weise in unser Redaktionssystem gekommen sind. Ach guck mal, die Fotogalerie war schon vorbereitet? Und: veröffentlichen!

Nun verstehe ich grundsätzlich nicht, warum vermeintlich seriöse Agenturen Fotos davon machen, die die Angehörigen von Michael Schumacher beim Betreten oder Verlassen des Krankenhauses zeigen. Und ich verstehe nicht, warum vermeintlich seriöse Medien diese Fotos veröffentlichen.

Dass die Hyänen von „Bild“ das machen, klar. Aber haben wir als Öffentlichkeit wirklich einen Anspruch darauf, den Familienmitgliedern ins Gesicht zu sehen, wenn sie sich auf den Weg machen, ihren im Koma liegenden Angehörigen zu besuchen? Die Frage ist gar nicht so sehr, ob wir das dürfen. Wollen wir das? Wollen wir, dass die Frau und der Bruder und der Vater von Michael Schumacher jeden Tag durch einen dichten Pulk von Fotografen müssen, die sie bei diesem Gang ablichten?

Es scheint einen breiten Konsens in den Medien zu geben, dass wir das wollen und dürfen und dass Familie Schumacher das eben gefälligst aushalten muss.

Und nun kommt die Meldung, dass Frau Schumacher darum bittet, ihre Familie in Ruhe zu lassen. Wäre das nicht ein guter Moment zu sagen: Lass uns das nicht auch mit einer Klickstrecke mit Fotos von der nichtinruhegelassenen Familie bestücken, wenigstens diesen einen Artikel nicht?

Aber nein.

„Andere nahe Verwandte neben Schumachers Frau sind nach Grenoble gereist“, steht unter einem entsprechenden, nun ja: Schnappschuss in der entsprechenden eingebauten Bildergalerie bei „Spiegel Online“: „Sein Vater Rolf vor der Klinik, in der sein Sohn um sein Leben ringt.“ Davor in der Klickstrecke: Der Bruder, die Ehefrau. Darüber die Überschrift: „Michael Schumacher: Ehefrau bittet um Ruhe.“

Kein Objekt in dem Satz. „Uns“ hätte gepasst.

Natürlich kann man die Berichterstattung und ihre Grenzen nicht komplett von den Befindlichkeiten der Betroffenen abhängig machen. Womöglich kann man diskutieren, ob es ein berechtigtes öffentliches Interesse daran gibt, die Gesichter der im Krankenhaus ankommenden Familienangehörigen zu dokumentieren. Aber müsste man als Medium, bei dem jeder außer einem selbst merkt, dass man kein Unbeteiligter ist, diese Diskussion dann nicht auch führen? Und mindestens erklären, warum man der Meinung ist, dass Frau Schumachers Bitte leider nicht erfüllt werden kann? Oder warum man selbst und die eigene Berichterstattung mit der Bitte nicht gemeint sein kann, weil man sich keiner unzulässigen Belästigung bewusst ist?

Ja gut, dazu müsste man kommunizieren, das ist natürlich schwierig, so als Medium und als Journalist. Und vor allem müsste man sich angesprochen fühlen: Aber, Gott, was wissen wir denn schon, wer das da ist im Spiegel?

Kein Kindergeld für Bulgaren und Rumänen? Agenturen fallen auf „Bild“ rein

Sie haben nichts gelernt. Sie werden es nicht mehr lernen. Die vermeintlich seriösen deutschen Nachrichtenagenturen verbreiten ohne jede Prüfung angebliche Exklusivmeldungen der „Bild“-Zeitung.

Deshalb steht heute überall, dass die Bundesregierung prüfe, das Kindergeld für Rumänen und Bulgaren einzuschränken.

AFP war besonders schnell und meldete schon um zwei Minuten nach Mitternacht:

„Bild“: Bund und Länder lassen Kindergeld für Zuwanderer prüfen – Leistung soll an Deutschlandaufenthalt gekoppelt werden

dpa schlappte acht Minuten später hinterher:

„Bild“: Einschränkung des Kindergelds für Bulgaren/Rumänen erwogen

Um 4:14 war Reuters so weit:

Wie „Bild“ (Dienstagausgabe) vorab unter Berufung auf einen Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft Armutswanderung aus Osteuropa meldete, prüfen Bund und Länder, ob sie Zuwanderern aus Bulgarien und Rumänien in bestimmten Fällen das Kindergeld streichen können. Dabei könnte die Zahlung des Kindergeldes an den Schulbesuch oder den Aufenthalt des Kindes in Deutschland gekoppelt werden. Als problematisch werde gesehen, dass den Zuwanderern das Geld auch für Kinder zusteht, die noch im Heimatland leben, schrieb die Zeitung.

Zu diesem Zeitpunkt hatte dpa die „Bild“-Exklusivmeldung bereits ein zweites Mal verbreitet, nun als Teil einer Zusammenfassung „Das geschah seit gestern Abend“.

Es hätte genügt, zwei Stichwörter aus der „Bild“-Geschichte bei Google einzugeben, um festzustellen, dass die vermeintliche „Vorab“-Meldung alt und überholt ist. (Eigentlich sollte man denken, dass der Absender „Bild“-Zeitung und der Autorenname Dirk Hoeren Anlass Anlass zu einer sehr viel weitgehenderen Überprüfung als bloß einer schnöden Internetsuche gäben, aber wer so denkt, hat mit deutschen Nachrichtenagenturen noch nichts zu tun gehabt.)

Jedenfalls hätte die Nachtschicht von dpa, Reuters und AFP mit einer, ich will es nicht Recherche nennen, also jedenfalls in ungefähr drei Sekunden einen gut zwei Wochen alten Artikel von „Zeit Online“ gefunden. Es hätte gereicht, den Vorspann zu lesen, um zu merken, dass die von „Bild“ gemeldete Nachricht zumindest keine Neuigkeit ist:

Das Familienministerium prüft, ob das Kindergeld an Auflagen geknüpft werden kann. Damit soll vor allem die Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien gebremst werden.

„Zeit Online“ nimmt in dem Artikel Bezug auf genau den Bericht der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister (ASMK), auf den sich die „Bild“-Zeitung beruft. Die Konferenz fand am 28./29. November in Magdeburg statt. Der Bericht trägt das Datum vom 12. Dezember.

Er ist übrigens kein Geheimnis. Er steht online.

Tatsächlich heißt es darin:

Die Zuwanderung von Osteuropäern, insbesondere aus Bulgarien und Rumänien, nach Deutschland hat in den letzten Jahren stetig zugenommen (…).

Hierzu gehören vielfach Menschen, die aufgrund ihrer Ausbildung in der komplexen Arbeitswelt
Deutschlands gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben und aufgrund des demografischen
Wandels als Arbeitskräfte nachgefragt werden.

(Diesen Teil erwähnt „Bild“, Überraschung, nicht, nutzt den gewonnenen Platz aber für wichtige Fotodokumente.)

In einer erheblichen Zahl kommen aber auch Menschen nach Deutschland, die weder eine Berufsausbildung bzw. zum Teil keine Schule besucht oder abgeschlossen haben, und die aufgrund dieses niedrigen Bildungsniveaus auch langfristig eine schlechtere oder keine Perspektive haben, in Deutschland nachhaltig in den Arbeitsmarkt integriert zu werden.

Dieser Personenkreis erhält in der Regel keine Sozialleistungen und ist auch nicht krankenversichert. Familien leben vielfach vorrangig von Kindergeld.

Ein Teil der Kinder, für die Bulgaren und Rumänen in Deutschland Kindergeld beziehen, lebt laut Bericht nicht in Deutschland (4,6 bzw. 11,6 Prozent). Bei Polen betrage dieser Anteil sogar 30,7 Prozent.

Die Konferenz fordert die Bundesregierung auf zu prüfen, ob man das Kindergeldes nicht davon abhängig machen kann, dass die Kinder die Schule besuchen oder in Deutschland leben.

So stand es auch am 12. Dezember auf „Zeit Online“. Die „Bild“-Zeitung macht daraus:

Bund und Länder prüfen: Weniger Kindergeld für Bulgaren und Rumänen.

(Den falschen Eindruck, es gehe um Sonderregeln für vermeintlich besonders problematische Nationalitäten, der geschickt an die aktuelle Diskussion und vorhandene Ressentiments anknüpft, hat dpa in ihrem Meldungstitel treuherzig gleich übernommen.)

Und hier kommt die Pointe. Unter dem „Zeit Online“-Artikel steht ein entscheidender Nachtrag, durch den die „Bild“-Meldung nicht nur alt ist, sondern überholt:

Das Bundesfamilienministerium reagierte nach Veröffentlichung des Artikels doch noch auf die Anfrage von ZEIT ONLINE. „Die Länder haben das Bundesfamilienministerium aufgefordert, diese Frage zu prüfen. Das Ergebnis: Solche Auflagen sind sowohl rechtlich als auch sachlich nicht möglich“, teilte das Ministerium mit. Man habe, so ein Sprecher, bereits auf der ASMK-Sitzung Ende November erklärt, dass die Auflagen kaum vereinbar seien, habe aber freundlicherweise zugesagt, die Prüfung durchzuführen. Diese Prüfung ist nach Angaben des Sprechers abgeschlossen.

Flausch am Sonntag (60)

Herdy Shepherd auf theatlantic.com:

Tweeting doesn’t affect the basic economics of what we do (it’s a lousy way to make money), or how cold the rain or snow is, so some folk will never be interested. That’s fine. But tweeting surprised me, because it does sometimes give you heart to know so many other people respect and appreciate what we do. Sometimes it just makes you feel a little less lonely. It gives you a kind of courage to carry on.

Tweeting is kind of an act of resistance and defiance, a way of shouting to the sometimes disinterested world that you’re stubborn, proud, and not giving in as everywhere else is turned into a clone of everywhere else.

„Pofalla ist auf jeden Fall dabei“ und weitere Informationen aus gut informierten Kreisen

„Spiegel“-Leser waren natürlich nicht die einzigen, für die die Besetzung des neuen Kabinetts besondere Überraschungen enthielt:

„Huffington Post Deutschland“, 6. November 2013:

SPD-Parteichef Sigmar Gabriel wird nicht als Minister in eine schwarz-rote Bundesregierung eintreten. Das erfuhr die Huffington Post Deutschland am Rande der Koalitionsverhandlungen aus gut informierten Kreisen in Berlin. Gabriel soll künftig als „Supermann“ der SPD nicht nur die Partei, sondern auch die Bundestagsfraktion führen.

„Berliner Zeitung“, 28. November 2013:

Ronald Pofalla, 55, wird im Kabinett bleiben – hätte aber gern einen anderen Posten als Chef des Kanzleramtes. Er könnte Wirtschaftsminister werden.

„Welt“, 29. November 2013:

Die CSU wird auch künftig Peter Ramsauer als Bundesverkehrsminister in das neue Bundeskabinett schicken. Auch Hans-Peter Friedrich (CSU) behält sein Amt als Innenminister.

Wie die „Welt“ aus CSU-Kreisen erfuhr, ist die Entscheidung darüber gefallen.

„Focus“, 2. Dezember 2013:

Das Innenministerium soll weiterhin CSU-Mann Hans-Peter Friedrich leiten, das Ressort Justiz ginge dann an Thomas Oppermann von der SPD. Thomas de Maiziere (CDU) bleibt Verteidigungsminister. Ursula von der Leyen müsste für die CDU das ungeliebte Gesundheitsministerium übernehmen, während Manuela Schwesig von der SPD das Familienressort erhielte. Gute Chancen, Verkehrsminister zu bleiben, hat auch CSU-Mann Peter Ramsauer. Aufsteigen wird CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt; er wird als neuer Landwirtschafts- oder Forschungsminister gehandelt — wenn Amtsinhaberin Johanna Wanka einen Wechsel als Staatsministerin für Kultur akzeptiert. (…) Der jetzige Kanzleramtschef Ronald Pofalla ist auf jeden Fall dabei — ob in alter Funktion oder auf neuem Posten, etwa im Verbraucherschutzministerium.

Nachtrag, 16:50 Uhr. „Cicero Online“, undatiert:

Cicero Online enthüllt: Offiziell ist sie noch ein Geheimnis, doch tatsächlich steht die Kabinettsliste der Großen Koalition längst. Nur eine Personalentscheidung ist dem Vernehmen nach noch offen. Die nächste Bundesregierung, exklusiv für alle SPD-Mitglieder, die noch eine Entscheidungshilfe brauchen.

Frauenquote ist bei der SPD ein Gesetz. Deshalb wird Barbara Hendricks Entwicklungshilfeministerin.

Bildung und Forschung bekommen ein neues Gesicht: Julia Klöckner.

Die CSU schickt als Innenminister einen alten Bekannten ins Rennen: Hans-Peter Friedrich bleibt — mangels personeller Alternative!

Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Für Alexander Dobrindt der Lohn für treue Dienste als CSU-Generalsekretär.

Minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Peter Ramsauer bleibt, muss die PKW-Maut ausbaden.

Thomas Oppermann gilt als neuer starker Mann in der SPD und große Nachwuchshoffnung. Er wird Justizminister. Sollte er sich allerdings doch noch entschließen, Fraktionsvorsitzender zu werden, dann steht für das Kabinett schon eine alte Bekannte bereit….

….Brigitte Zypries.

Den Rest des Kabinetts kennen Sie schon: Muttis Bester Peter Atmaier bleibt Umweltminister, nur für die Energiewende wird er nicht mehr zuständig sein.

Verteidigungsminister bleibt Thomas de Maizière (CDU), trotz Drohnen-Affäre.

Der ewig junge Ronald Pofalla wäre gerne ins Arbeitsministerium gewechselt, aber da ist für ihn kein Platz. Also bleibt er Chef des Bundeskanzleramtes und Ausputzer der Kanzlerin.

Gesundheitsministerin: Ein anderer Job blieb für die Christdemokratin Ursula von der Leyen nicht übrig.

(via Henning Kornfeld, Matthias Daniel)

„Spiegel“-Leser wissen mehr — es tritt bloß vieles davon nicht ein

Wenn ich mich recht erinnere, steht unten im neuen „Spiegel“-Haus an einer Wand das alte Motto von Rudolf Augstein: „Sagen, was ist.“ Kann mal jemand nachsehen, ob die Buchstaben inzwischen abgeknibbelt wurden und dort als Leitmotiv des Nachrichtenmagazins stattdessen zu lesen ist: „Sagen, was eventuell sein könnte, falls nichts anderes dazwischenkommt“?

Gestern wurden endlich die Namen der Mitglieder des neuen Bundeskabinetts bekannt gegeben. Das ist vor allem insofern erfreulich, als damit Monate der Spekulation in den Medien enden, wer welchen Posten kriegen wird. Wobei es das Wort „Spekulation“ im Fall des „Spiegel“ nicht trifft. Er hat seine Mutmaßungen gerne als Tatsachen formuliert. Erst vor zwei Wochen zum Beispiel schrieb er kurz, unmissverständlich und, wie wir heute wissen, falsch:

Wolfgang Schäuble bleibt Finanzminister, Thomas de Maizière Verteidigungsminister.

Solche Sätze werden später nicht ausdrücklich im Heft korrigiert. Vermutlich, um nicht unnötig Zweifel an der Prognosefähigkeit der Redaktion zu säen und im Publikum nicht die Frage zu wecken, ob im Haus qualifizierende Worte wie „vielleicht“, „womöglich“ und „nach heutigem Stand“, Modalverben oder gar der Konjunktiv unbekannt sind. Und vermutlich auch, weil man neben all den als Tatsachen verkauften Prognosen, die man nachträglich zurücknehmen müsste, kaum noch Platz für neue Fehlprognosen Nachrichten hätte.

Der Text vor zwei Wochen ging weiter:

Peter Altmaier würde das Umweltressort zähneknirschend auch dann behalten, wenn die Zuständigkeit für die Energiewende komplett an einen Superminister Gabriel geht.

Weil Kristina Schröder und Ilse Aigner ausscheiden, darf Johanna Wanka (Bildung) als gesetzt gelten. Das gilt natürlich auch für Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, wenngleich die sich noch sträubt, das Gesundheitsressort zu übernehmen.

Interessantes „noch“ — als wisse der „Spiegel“-Redakteur im Gegensatz zu der Ministerin schon, dass das Sträuben natürlich am Ende fruchtlos bleiben werde.

Vergleichsweise übersichtlich ist die Lage in der CSU. Seehofer hat drei Ministerien verlangt und bekommen. Die Ressorts Innen, Verkehr und Landwirtschaft werden auf Hans-Peter Friedrich, Peter Ramsauer und Aufsteiger Alexander Dobrindt verteilt.

Tjaha, vergleichsweise übersichtlich und trotz des unmissverständlichen Indikativs „werden“ dann gleich mehrfach falsch, wie wir heute wissen.

Am 14. Oktober hatte der „Spiegel“ als ebenso unumstößliche Tatsache formuliert:

Innenminister Hans-Peter Friedrich zum Beispiel ist gesetzt, das gilt auch für Verteidigungsminister Thomas de Maizière.

Da das schon nicht stimmte, zweifle ich nun auch an einer weiteren Tatsache, die der „Spiegel“ im selben Text behauptete:

Erst die Inhalte, dann das Personal? Dieser Satz wird zwar in diesen Tagen oft gesagt, er ist aber — wie bei jeder Koalitionsverhandlung — falsch.

Ja, komisch. Dabei ist die aktuelle Erklärungsstrategie der Medien für die diversen (für sie) überraschenden Personalien, dass da in letzter Minute noch Entscheidungen getroffen wurden.

Über Ursula von der Leyen, die jetzt, nach der Bekanntgabe, dass sie Verteidigungsministerin wird, von „Spiegel Online“ als ewige Gewinnerin gewürdigt wird, erschien am 11. November ein Stück im „Spiegel“ mit der Überschrift: „Frau ohne Trümpfe“. Das ist angeblich eine Formulierung, die die „Feinde“ von der Leyens, wer auch immer das sein mag, „gar nicht so leise zischeln“, wie auch immer sich das anhören mag. Der Artikel behandelte scheinbar besorgt die Frage: „(…) was, wenn Merkel ihr einfach keinen Posten anbieten kann, der den unaufhaltsamen Aufstieg der ehrgeizigen Politikertochter fortsetzen würde?“

Das Außenamt könne sie nicht kriegen, weil es an die SPD gehe; das Gesundheitsressort wolle sie nicht: „So macht in der Berliner Regierung die Idee die Runde, von der Leyen könnte notfalls als EU-Kommissarin nach Brüssel wechseln.“ Eine andere Möglichkeit fiel den „Spiegel“-Experten nicht ein.

Aber warum konnte von der Leyen nicht Außenministerin werden? Weil die SPD unbedingt dieses Amt haben wollte. Was für Menschen, die schon zwei Wochen zuvor den „Spiegel“ gelesen hatten, ein bisschen überraschend kam. Damals beschrieb das Blatt das scheinbare Problem, dass aus dem angeblich früher prestigeträchtigsten Ministerposten ein Job geworden sei, vor dem sich alle drücken: „Das Auswärtige Amt liegt auf dem Grabbeltisch der Koalitionsverhandlungen. Es ist zur Ramschware verkommen.“

Die beiden Politiker, die „am besten für das Amt des Außenministers gerüstet wären“, erklärte der „Spiegel“, „wollen es nicht haben“: Wolfgang Schäuble und Frank-Walter Steinmeier. Ach. Nicht?

Der „Spiegel“ damals weiter:

Rettung verheißt allein eine Frau: Ursula von der Leyen ist das einzige prominente Kabinettsmitglied, dem Ambitionen auf das Außenministerium nachgesagt werden. Auch für sie wäre das Ministerium nur eine Zwischenstation. Die CDU-Politikerin will sich international profilieren, um ihre Chancen zu erhöhen, dereinst die Kanzlerin zu beerben.

Ah. Nun. Dann muss jetzt wohl das Verteidigungsministerium für die Ministerin nur eine Zwischenstation sein, um sich international zu profilieren, um „dereinst“ die Kanzlerin zu beerben. Irgendwas an der Geschichte wird schon stimmen, und überhaupt kann man es ja nicht dem „Spiegel“ vorwerfen, wenn die Politiker sich nicht an das halten, was er ihnen vor-geschrieben hat.

Wiederholungstäterinnen: „Woman“ und die falsche Facebook-Frau

Können wir einmal kurz über die „Woman“ reden, obwohl es sich um eine österreichische Frauenzeitschrift handelt?

In der österreichischen „Woman“ steht ein Artikel über eine Frau, die sich auf Facebook als erfolgreiche Model-Managerin und früheres Model ausgegeben und so einen Mann kennengelernt hat. Sie schickten einander Mails und telefonierten. Er verliebte sich in sie und dachte, sie wären ein Paar — obwohl sie sich auch Monate später noch nie getroffen hatten: Immer kam etwas dazwischen, immer hatte sie eine Ausrede. Es dauerte lange, bis er sie zur Rede stellte und sie zugab, die Identität nur erfunden zu haben, mit Fotos aus dem Netz.

Die Frau nannte sich Louisa Catharina Jacardi, und ihre Geschichte steht nicht nur in der aktuellen Ausgabe der „Woman“. Sie stand auch vor Anfang November im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“, aufgeschrieben von Malte Welding.

Der war verblüfft darüber, wie die „Woman“ seinen Text nachempfunden hatte. Doch Euke Frank, die Chefredakteurin der „Woman“, die er auf Twitter damit konfrontierte, hatte eine plausible Erklärung dafür: Es handelt sich einfach um dieselbe Täterin, die bei verschiedenen Opfern immer mit derselben Masche vorging. Sie „kenne die Machenschaften der Dame praktisch aus erster Hand“, habe „privat recherchiert“.

Maltes Reaktion: „Ihre Position ist also, dass diese Frau 2 verschiedenen Männern exakt 5300 Mails innerhalb der ersten 2 W. geschrieben hat?“ Euke Frank verstand die Frage nicht.

Doch wenn die „Woman“ einfach zufällig über dieselbe Täterin geschrieben hätte, über die auch das „SZ-Magazin“ geschrieben hat, bloß anhand eines anderen Opfes, dann muss die Frau tatsächlich sogar ihre Mailverkehrsaufkommen exakt reproduzieren. In der „Woman“-Geschichte heißt es nämlich, Louisa und der Michael hätten einander in den ersten zwei Wochen über 5.300 Mails geschrieben. Und in der „SZ-Magazin“-Geschichte steht, Louisa und Jakob hätten einander in den ersten zwei Wochen über 5.300 Mails geschrieben.

Es ist nicht die einzige Auffälligkeit.

SZ-Magazin Woman
Louisa Catharina Jacardi, 28, (…) Managerin bei Next Models, einer der drei größten Modelagenturen der Welt (…).

Louisa Catharina Jacardi: 28, Managerin bei „Next Models“, einer der größten Modelagenturen der Welt.
Sie stammt aus einer wohlhabenden Familie, ist mehrsprachig aufgewachsen, pendelt zwischen New York und London, hat eine Yacht im Hafen von Palma liegen, macht in ihrer Freizeit Charity. Sie stammt aus reicher Familie, wuchs mehrsprachig auf, pendelt zwischen New York und London und macht in ihrer Freizeit Charity.
Sie ist genau das, wonach Jakob immer gesucht hatte. Und auch er scheint ihr zu gefallen: Allein in den ersten zwei Wochen, bevor die beiden das erste Mal telefonieren, schreiben sie einander mehr als 5300 Nachrichten. Sie war genau der Typ Frau, nach der er sich so lange gesehnt hatte. Und schien über beide Ohren verliebt zu sein. Allein in den ersten zwei Wochen, bevor die beiden das erste Mal telefonierten, schrieben sie einander über 5.300 Mails.
Am 27. November ändert Jakob auf Facebook seinen Beziehungsstatus von „Single“ auf „in einer Beziehung mit Louisa Catharina Jacardi“. Zwei Monate später änderte Michael seinen Facebook-Status von „Single“ auf „in einer Beziehung“ (…).
Als er Louisa damit konfrontiert, gesteht sie, ihn getäuscht zu haben. Schließlich konfrontierte Michael Louisa damit. Ohne Umschweife gestand sie, ihn getäuscht zu haben.

Nun könnte man sagen: Die haben halt abgeschrieben (und ein paar Details verändert). Das Merkwürdige ist nur, dass die „Woman“ offenbar tatsächlich selbst recherchiert hat. Jedenfalls kennt Euke Frank den richtigen Namen der Facebook-Frau, der weder im „SZ-Magazin“ noch in „Woman“ steht.

Die Gruner+Jahr-Zeitschrift hat also offenbar eine eigene Geschichte herausgekriegt — sich dann aber dafür entschieden, der Einfachheit halber trotzdem eine gekürzte Variante der „SZ Magazin“-Geschichte aufzuschreiben. Diese Facebook-Welt ist nicht die einzige, die voller Rätsel ist.

Nachtrag, 16:40 Uhr. Frau Frank äußert sich in den Kommentaren.

Das „Stern“-Interview als wohldefinierte Methode zur genussreichen Onanie

Dass Leute etwas schaffen, das finden Sie toll, oder?

Ja. Das finde ich toll. Leistung finde ich toll.

Sie sind Kapitalismus pur.

Es ist mir nicht ganz leicht gefallen, mich zu entscheiden, aber ich glaube, das ist dann doch meine Lieblingsstelle. Die Moderatorin Sylvie Meis, bekannt geworden als Sylvie van der Vaart, erzählt dem „Stern“, was sie an ihrer RTL-Show „Let’s Dance“ mag. Dass das „richtiges Entertainment“ sei, „kein Trash“, sondern „tolle Shows, bei denen sich die Leute fragen: ‚Wow, wie schaffen die das?'“ Und die „Stern“-Interviewer halten ihr dann vor: „Sie sind Kapitalismus pur.“

Darauf muss man erst einmal kommen. Aber die „Stern“-Leute sind noch auf ganz viel anderes gekommen. Man erfährt in diesem Interview nicht so wahnsinnig viel über Sylvie Meis. Aber darüber, wie toll die „Stern“-Interviewer Nora Gantenbrink und Stephan Maus sich und ihre Einfälle finden. Sie sind offenkundig ganz besoffen davon.

Frau Meis, Ihre letzte Chance: Steigen Sie aus. Nie wieder Werbung für Zahnzwischenraumreiniger, nie wieder Tanzshows, nie wieder Paparazzi. Züchten Sie Schafe in Neuseeland.

Nein.

Bienen in Südfrankreich.

Nein.

Ein norwegischer Bauer. Echte Liebe. Ein Fjord. Natur gucken, knarrende Holzkojen.

Nein.

Das wahre Leben, das echte.

Nein.

Oder weiter vorne die Frage:

Es gibt drei ungelöste Rätsel in der Bundesrepublik Deutschland: Wer hat Kohl die Spenden überreicht? Wer saß neben Margot Käßmann, als sie angetrunken Auto fuhr? Und was geschah Silvester 2012 bei den van der Vaarts?

Nun könnte man da natürlich mit viel Wohlwollen annehmen, dass es sich um einen Witz oder gar etwas Ironieähnliches handeln könnte. Dagegen spricht allerdings, dass die „Stern“-Leute die Frage, was Silvester 2012 bei den van der Vaarts passierte, ja damit Sylvie van der Vaart tatsächlich stellen. Deren Antwort lautet übrigens:

Das ist etwas, das wir niemals sagen werden. Das braucht kein Mensch zu fragen. Das ist privat.

Diese Antwort könnte nun Leute überraschen, die die Titelseite des „Stern“ gesehen haben und das dortige Versprechen: „SYLVIE VAN DER VAART – So offen hat sie noch nie gesprochen“. Tatsächlich sollte man als Leser immer stutzig werden, wenn Journalisten nicht mit etwas werben, was jemand gesagt hat, sondern bloß damit, dass jemand etwas gesagt hat. (Andererseits ist es natürlich passend, weil die ganze Berichterstattung über die Van-der-Vaart-Sache im Wesentlichen aus „Bild“-Schlagzeilen wie „Jetzt spricht die Mutter!“ zu bestehen schien.)

Jedenfalls hört sich das Offen-Sprechen von Sylvie Meis im „Stern“ konkret so an:

Ich habe nichts Schlechtes über Rafael und Sabia zu sagen. (…)

Bestimmte private Sachen sollen auch privat bleiben. (…)

Ich habe alles dazu gesagt und werde mich nicht mehr wiederholen.

Und so:

Wie viele Berater schrauben am Image von Sylvie Meis?

Ich habe keinen PR-Berater und auch keine PR-Strategie.

In Ihrem Kopf auch nicht? Da ist doch ein PR-Berater? Zwei?

Jetzt schon zwei?

Mindestens. Sie haben eine ganze PR-Firma im Kopf.

Nein.

Sie sind wirklich so?

Ich habe keine PR-Firma im Kopf.

Und so:

Mattel hat eine Barbie nach Ihnen gestaltet. (…) Ist es nicht peinlich, wenn man Barbie-Vorbild ist?

Selbst Angela Merkel hat eine eigene Barbie. Liz Mohn hat eine eigene Barbie. Ganz viele Powerfrauen haben eine Barbie.

Manche Eltern verbieten ihren Töchtern, mit Barbies zu spielen.

Muss jeder selbst wissen.

Verstehen Sie, warum?

Ich werde nicht eingehen auf Barbie-Diskussionen.

(…) Was ist so schlimm an einer Barbie-Diskussion?

Ich stehe nicht für Barbie.

Sind Sie verletzt, wenn man Sie eine Barbie nennt?

Ob Barbie oder eine andere Marke: Ich bin keine Puppe. Ich bin ein Mensch.

Diese beiden letzten Sätze, ihres Kontextes entkleidet, fand der „Stern“ dann spektakulär genug, um damit die ganze Geschichte zu überschreiben.

Nein, Sylvie Meis sagt nicht viel. Muss sie aber auch nicht. Tun ja ihre Interviewer.

Kann es sein, dass sich die Welt in Ihnen täuscht: Man hält Sie für eine nette, hübsche, etwas einfältige Blondine. Dabei sind Sie eine gerissene Spielerin, die im Krieg um Aufmerksamkeit jede Woche eine Schlacht gewinnt und auf diese Weise Millionen verdient.

Und was muss ich darauf antworten?

Ob das zutrifft?

Nein.

Schön, dass wir drüber geredet haben, wobei mich schon interessieren würde, was die Interviewer dachten, was Frau Meis darauf antworten könnte.

Würden Sie manchmal lieber für Frieden und Freiheit kämpfen, statt zu moderieren?

Nein. Möchten Sie lieber für Frieden und Freiheit kämpfen, statt Artikel zu schreiben?

Würden Sie lieber für Arte arbeiten als für RTL?

Nein.

Hier war ich ein bisschen enttäuscht, dass Frau Meis nicht zurückgefragt hat: „Würden Sie lieber für eine richtige Trash-Zeitschrift arbeiten statt bloß für den ‚Stern'“, obwohl die Interviewer darauf vermutlich, wenn sie offen gesprochen hätten wie noch nie, geantwortet hätten: „Nein, wir können uns keinen anderen Arbeitsplatz vorstellen, wo man sich auf seine eigenen Interviews so gut einen runterholen kann.“

In diesem Sinne konfrontieren sie die RTL-Moderatorin dann noch mit einem 25 Jahre alten Enzensberger-Zitat:

Der Dichter Hans Magnus Enzensberger schreibt: „Das Fernsehen wird primär als eine wohldefinierte Methode zur genussreichen Gehirnwäsche eingesetzt; es dient der individuellen Hygiene, der Selbstmeditation. Das Nullmedium ist die einzige universelle und massenhaft verbreitete Form der Psychotherapie.“ Hat er recht?

Und fragen schließlich bündig:

Ist Fernsehen böse?

Sie hat darauf leider nicht geantwortet: „Nicht im Vergleich zum ‚Stern'“, aber immerhin gesagt:

(…) Ich finde es schade, dass man andere Menschen so fertigmacht, nur weil man sich selbst so intelligent findet.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Interviewer gemerkt haben, dass das gegen sie ging.