Schafe Kurven

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Das ganze Glück der Erde auf dem Rücken einer Enduro: Neuseeland mit dem Motorrad.

Der zweitgrößte Feind des Motorradfahrers in Neuseeland ist der Kea. Im Motorradverleih haben sie gleich neben der Kasse einen Steckbrief mit seinem Bild und seinen bevorzugten Aufenthaltsorten aufgehängt und warnen dringend davor, das Fahrzeug in diesen Gegenden unbeaufsichtigt zu lassen. Der Kea ist ein großer, braungrüner Bergpapagei und entweder ein hochbegabtes Tier mit zuviel Tagesfreizeit und krimineller Energie oder einfach ein Fetischist, jedenfalls liebt er nichts so sehr wie Gummi und scheut keine Mühen, es sich zu besorgen.

Wie eine Bande Dorf-Hooligans lungern die Vögel in kleinen Gruppen auf den Parkplätzen bei den Sehenswürdigkeiten in den Südlichen Alpen herum und warten auf eine Gelegenheit, ein parkendes Auto sauber von seinen Scheibenwischer-Blättern zu befreien. An Motorrädern sollen sie ganze Sitzbänke zerschreddert haben. Ein Einheimischer erzählte uns, daß er einmal beobachtet hat, wie vier Keas vor einem Auto herumgetänzelt sind und den Fahrer mit Kunststücken unterhielten, während der fünfte sich von hinten anschlich und unbeobachtet am Wagen zu schaffen machte.

Danach gingen wir einzeln den Franz-Josef-Gletscher besichtigen, einer bewachte immer die Maschinen vor den Keas.

Und damit zum größten Feind des Motorradfahrers in Neuseeland. Wir fuhren also mit 110 Stundenkilometern auf einer dieser schönen zweispurigen neuseeländischen Straßen, als uns ein Auto überholte. Mit geschätzt 111 Stundenkilometern. Zentimeter für Zentimeter schob es sich an unseren Motorrädern vorbei. Der Fahrer hatte es wohl nicht so eilig. Auch dann nicht, als ihm ein Wagen entgegenkam. Er trat nicht aufs Gas, er bremste nicht, er riß das Steuer nicht herum, er zog einfach ganz sachte und entspannt auf die linke Spur zurück. Dort fuhr ja nur ein Motorrad.

Natürlich sind nicht alle neuseeländischen Autofahrer so. Manche rasen auch wie bekloppt und versuchen einen beim Überholen vor unübersichtlichen Kurven unauffällig von der Straße zu schubsen.

Vielleicht fahren deshalb die Einheimischen nicht Motorrad. Vielleicht fehlt den neuseeländischen Autofahrern einfach die Erfahrung mit motorisierten Zweirädern auf ihren Straßen. Vielleicht wissen sie auch nur, daß auf dem Motorrad vor oder neben ihnen ohnehin nur irgend so ein Tourist sitzt, und geben sich deshalb besonders wenig Mühe. (Uns wurde ja auch dringend eingeschärft, bloß nicht die Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h zu überschreiten, was uns zu einem echten Hindernis im Verkehrsstrom machte. Das einzige Auto, das lange mit der gleichen Geschwindigkeit hinter uns herfuhr, überholte dann mit 110 in der Baustelle, wo Tempo 30 galt.)

Ja, Horror. Und doch vollständig egal, weil Neuseeland bekanntermaßen zu weiten Teilen nicht von Neuseeländern bewohnt ist, sondern von Schafen, die nicht nur vom Autofahren Abstand nehmen, sondern auch vor Motorrädern einen Heidenrespekt haben. Wenn man als Motorradfahrer in eine Gruppe Schafe auf der Straße gerät, entsteht eine lustige Verwirrung, weil die erste Reihe stehenbleibt und so tut, als wollte sie gar nicht weiterlaufen, sondern das Gras am Wegesrand mal genauer in Augenschein nehmen, während die hinteren, die nicht wissen, was los ist, weiterschieben, bis schließlich alle hektisch im größtmöglichen Abstand vorbeigaloppieren.

Auf der Südinsel Neuseelands, die doppelt so groß ist wie Bayern, leben weniger als eine Million Menschen, aber mehrere Millionen Schafe, die sich dekorativ über die Hügel verteilen, bis sie aus der Ferne aussehen wie Sesamkörner auf Brötchen. Außer ihnen schauen einem beim Motorradfahren vor allem noch Rehe zu, die in erstaunlich kleinen Gattern an erstaunlich befahrenen Straßen untergebracht sind und sich von so einem direkt vor ihrer Haustür vorbeifahrenden Motorrad überhaupt nicht aus der Ruhe bringen lassen. Nervös werden die Tiere erst, wenn man anhält.

Die Frau von der Fluggesellschaft hatte vorher gesagt, wir sollten nicht allzu lange über den entsetzlich langen Flug klagen, diese mindestens 24 Stunden, je nach Anreiseweg. Erstens sei das nicht originell und zweitens: Läge Neuseeland gleich um die Ecke, sagen wir, im Mittelmeer, wäre es ja nicht Neuseeland. Da ist was dran, und doch ist das Argument beunruhigend: Heißt das, das Land ist möglicherweise nur ganz nett und alle finden es allein deshalb so großartig, weil sie vor sich und der Welt die gewaltige Anreise rechtfertigen müssen?

Wir brauchten nicht lange, die Antwort herauszufinden. Am Tag, nachdem wir in Christchurch angekommen sind, der größten Stadt der Südinsel, haben wir unsere Motorräder vom Verleih abgeholt und erst einmal einen kleinen Ausflug gemacht auf die Banks-Halbinsel, die vor den Toren der Stadt liegt. Sie ist durch einen Vulkanausbruch entstanden, eine Ansammlung zahlloser knubbeliger Hügel, von allen Seiten durch Dutzende Buchten angefressen, mal nur mit einem verfallenen Holzschuppen am Ufer, mal mit zwei, drei Booten im Wasser, mal mit einem traumhaften kleinen Hafen, von wo aus die Touristen zum Schwimmen mit den örtlichen Delphinen gebracht werden. Die Landschaft ist wild und einsam und blaß, als hätte jemand die Farbe aus dem Bild herausgedreht, was sie irreal aussehen läßt. Ein Netz von Straßen schlängelt sich in wilden Kurven und Serpentinen durch die Berge, und was wir lernen nach diesem ersten Tag ist: Ja, Neuseeland ist ganz etwas Besonderes, und: Wir brauchen bessere Karten. Es wäre schön gewesen, wenn wir vorher gewußt hätten, daß die Küstenstraße, die uns immer am Hang entlang an so einsamen Buchten wie Pigeon Bay vorbeiführte, über viele Kilometer nur eine steile, unbefestigte Schotterpiste ist.

Andererseits hatten wir ja extra Reise-Enduros ausgesucht, um auch solche Strecken zu überleben. Inzwischen sind allerdings fast alle Durchgangsstraßen in bestem Zustand, selbst die berüchtigte Crown Range Road über den 1100 Meter hohen Paß zwischen Queenstown und Wanaka, den man lange nicht mit Mietwagen befahren durfte, weil man sonst den Versicherungsschutz verlor, ist inzwischen geteert. Nur auf der „Southern Scenic Route“ gibt es noch ein längeres Stück Schotter, und auch das ist gerade in Arbeit. Es ist verblüffend, wieviel Geld und Mühe die Neuseeländer investiert haben, ein Netz von kleinen, feinen Straßen anzulegen, wo es vor allem auf der vor touristischen Highlights nur so strotzenden Südinsel offensichtlich kaum jemanden gibt, der darauf fährt.

Außer uns natürlich.

Man ist fast allein mit immer neuen Varianten atemberaubender Landschaft und hat viel Gelegenheit zu grübeln, welches nun wohl die schönste Motorradstrecke der Welt ist: Das Stück hinter Geraldine, wenn aus der Ebene sanfte grünbraune Hügel werden und dahinter die schneebedeckten Gipfel der Alpen glänzen? Die Anfahrt auf den Lake Tekapo, dessen Gletscherwasser ihn so gleißend türkis macht, als hätte ihn jemand mit einem Glitzer-Textmarker für Mädchen nachgemalt? Die schroffe Steinküste im Nordwesten hinter Greymouth, ein bizarres Panorama von immer blasser werdenden Grautönen? Oder die sanften Obstbaumtäler ganz im Norden der Südinsel, bevor man den Abel Tasman Nationalpark erreicht mit seinen dichten grünen Wäldern, die goldene Strände und klares Wasser einrahmen, als wäre es eine Südseeinselwerbung?

Selbst die größeren Orte, in denen sich die Touristenbusse vor den Hotelburgen und den Fast-Food-Ketten stauen, wie Queenstown, das sich ganz dem organisierten Abenteuerurlaub verschrieben hat, sind halbwegs erträglich, weil sie es nicht schaffen, die Magie der sie umgebenden Landschaft zu zerstören. Natürlich kann man diese Wunderwelt auch mit kleinen Blechkästen erfahren. Oder mit großen Blechkästen, in denen man gleich übernachtet. Aber das Motorrad ist das natürliche Fahrzeug, die Natur zu erleben, die Kurven und den Wind, der immer wieder versucht, einen mit unerwarteter Kraft von der Maschine zu pusten, und daran erinnert, daß dies ein wildes Land ist. Natürlich hätte es seinen Reiz gehabt, den berühmten Fjord Milford Sound in der Sonne zu erleben. Andererseits war das Unwetter, das über ihn und uns herniederging, irgendwie angemessen, der Niederschlag, der Tausende Wasserfälle entstehen ließ, und der Sturm, der sie sofort wieder nach oben blies, bis Wolken, Meer, Nebel, Wasserfälle nicht mehr zu unterscheiden waren.

Es regnete auch hinterher, als wir wieder auf den Motorrädern saßen, noch Stunden weiter, bis das Wasser sämtliche Kleidungsschichten durchdrungen und sich schließlich in den Stiefeln gesammelt hatte. Aber dann kam die Sonne und beschien eine neue majestätische Landschaft, und die netten Menschen in einem der Bed-&-Breakfast-Häuser hängten unsere Sachen auf und teilten frisch gebackene Bananenmuffins mit uns und alles war gut. Eigentlich, versicherte man uns, regnet es auch gar nicht so viel im Februar und März in Neuseeland, der vergangene Sommer war der schlechteste seit Menschengedenken. Auf der Nordinsel hatten Jahrhundertstürme schlimme Verwüstungen angerichtet. Als wir in einem kleinen Zoo in der Nähe von Mount Bruce, nördlich von Wellington, einen Kiwi sehen wollten, das Maskottchen des Landes, dessen Population mühsam in verschiedenen Programmen erhöht wird, empfing uns die Kassiererin mit einer schlechten Nachricht. Einer der beiden Kiwis sei bei den schlimmen Regenfällen in der vorigen Woche leider ertrunken.

Also regnet es sonst wirklich nicht so viel in Neuseeland. Andererseits: Ein Vogel, der nicht nur nicht fliegen, sondern auch nicht schwimmen kann? Womöglich trifft so ein Tier das Aussterben nicht ganz unverdient.

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