Schreib das ab, Kisch!

Man merkt dem „Focus Online“-Artikel über Natascha Kampusch ein gewisses Unbehagen an, einfach so eine „Bild“-Meldung zu übernehmen. Die Autorenzeile lautet verblüffender-, aber irgendwie ehrlicherweise:

it/“Bild“

und Herr oder Frau „it“ haben sich nicht davor gescheut, extensiven Gebrauch vom Konjunktiv zu machen:

Die 19-Jährige sei kürzlich mit dem 21-jährigen Sohn ihres Anwalts im Wiener In-Club „Babenberger Passage“ gesehen worden, vermeldete die „Bild“-Zeitung am Dienstag unter Berufung auf das österreichische Boulevardblatt „Krone“. Der Jüngling mit Drei-Tage-Bart habe Kampusch vertraut seine Hand an den Kopf gelegt und sie gedrückt. Kampusch habe im silberfarbenen Paillettenkleid ausgelassen getanzt und die Arme hochgeworfen.

Er wirkt fast rührend, dieser Versuch journalistischer Distanz, dabei hätte der „Focus Online“-Autor nur in eine „Bild“-Zeitung schauen müssen, um sich selbst ein Bild von dem „silberfarbenen Paillettenkleid“ machen zu können. Auch die hochgeworfenen Arme hätte er mit Augen gesehen und selbst beschreiben können. Notfalls hätte es schon ein Besuch bei bild.de getan.

Immer, wenn ich auf irgendwelchen Podien oder vor Journalistenschülern sitze, schwärme ich davon, dass man sich im Internet-Zeitalter nicht mehr auf die Kolportagen und Zusammenfassungen von Journalisten verlassen muss, sondern sich eine erstaunliche Zahl von Quellen selbst im Original ansehen kann. Online-Journalisten bei vermeintlichen Qualitätsmedien ist dieser Gedanke vollständig fremd.

Der „Focus Online“-Mensch kam, wie viele seiner Kollegen, auch nicht auf die Idee, wenigstens schnell nachzusehen, ob er die Ursprungsmeldung in der Online-Ausgabe der „Kronen“-Zeitung findet. Dort hätte er die verblüffende Entdeckung machen können, dass die „Krone“, die der „Bild“ vermeintlich als Quelle dient, an der Enthüllung überhaupt keinen Anteil hat. Sie schreibt:

Ist Natascha Kampusch nach ihrem Martyrium zum ersten Mal richtig verliebt? Das zumindest behauptet die Gratiszeitung „heute“ und zeigt Bilder der 19-Jährigen (…) beim Tanzen mit einem „supernetten Burschen mit Hugh-Grant-Mähne“.

Mit ein bisschen tricksen hätte der „Focus Online“-Autor sogar die Ursprungsmeldung in „heute“ noch online gefunden — die Zeitung hat ihren Tabubruch, unautorisierte Fotos von Kampusch zu veröffentlichen, wirklich außerordentlich eklig verpackt:

Blitz! Blitz! Und noch ein Blitz! Was ein Paparazzo beim In-Clubbing in der Wiener Babenberger-Passage auf seinem Foto-Chip festhält, ist zu schön, um nicht erzählt zu werden: Der Welt traurigstes Mädchen, einst blass-kränklich, fast nicht mehr an eine Flucht aus seinem Kellerverlies glauben wollend, es ist glücklich – und sooooo fantastisch-glücklich verliebt.

Natascha Kampusch (19), die zarte Starke, die 3096 Tage einem Kidnapper ausgeliefert war, fühlt ihre erste große Liebe: Der supernette Bursch mit der Hugh-Grant-Mähne, den sie auf der knallvollen Tanzfläche herzt, umarmt sie, drückt sie, küsst sie. (…)

Noch ein Schnappschuss, der die volle Lebensfreude dieser zwei süßen Teenager einfängt, noch ein Digi-Shot, der Nataschas neues, gutes Leben ein Jahr nach ihrer gelungenen Flucht zeigt. Mädchen, wir freuen uns mit Dir!

Die „heute“-Zeitung war übrigens stolz darauf, die Privatsphäre des angeblichen Liebhabers zu schützen („Bewusst wählten wir ein Bild, das seine Identität keinesfalls preisgibt“). Das Outing übernahmen dann die Boulevardkollegen von „Österreich“, die von der „Kronen“-Zeitung zitiert wurden, die sinnentstellend von der „Bild“-Zeitung zitiert wurde, die von „Focus Online“ zitiert wurde.

(Die „Augsburger Allgemeine“ entschied sich für einen anderen, etwas kürzeren Weg: Sie beruft sich bizarrerweise auf „Welt Online“, deren Meldung keinen Hinweis auf Autor oder Nachrichtenagentur hat, über weite Strecken aber mit einer vorher veröffentlichten Meldung der Schweizer Boulevardzeitung „20 Minuten“ identisch ist und sich wie sie auf „heute“ beruft.)

Mit fünf, sechs Klicks und zehn Minuten Recherche hätte jeder Online-Redakteur, der wollte, eine Natascha-Kampusch-Geschichte haben können, die nicht nur richtiger gewesen wäre als die „Bild“-Variante, sondern auch weniger voyeuristisch, origineller und spannender: Die Geschichte eines doppelten Tabubruchs.

Aber aus irgendeinem Grund, den ich nicht verstehe, glauben die kommerziellen Online-Medien in Deutschland, es sei wichtig für ihren Erfolg, dass bei ihnen dasselbe steht wie überall sonst.

(via BILDblog, natürlich)

19 Replies to “Schreib das ab, Kisch!”

  1. verstehe ich nicht, das mit dem tabubruch. was hat götz george damit zu tun? und auf welche der 100 genannten zeitungen müsste ich jetzt am sauersten sein?

  2. Stefan, einige der Links funktionieren nicht wirklich. Die höchstmögliche Punktzahl gibt es für den Titel! Und sonst: Arbeiten die Redakteure nach Quote oder Rendite?

  3. @ajo:

    1.) Klicken Sie oben auf „Tabubruch“ oder lesen Sie den Halbsatz, nachdem das Wort zum ersten Mal auftaucht.
    2.) Nix.
    3.) Wie Sie mögen.

  4. Tja, mich regt ja schon lange nicht mehr auf, dass sie so etwas bringen, da hab ich resigniert; mich regt die Chuzpe auf, mit der diese Menschen dann noch Pabst- oder sonstwas für Bibeln verhökern wollen.
    Diese Bigotterie halt.
    Der Blitz möge sie treffen, allesamt.
    Auch AS, denn:
    Wer sich mit Hunden ins Bett legt, muss sich nicht wundern, dass er mit Flöhen aufwacht.

    Pax

  5. Um 0:11 heute wäre meine Orthographie nicht mehr existent gewesen, deshalb soll das jetzt nicht hämisch klingen, aber die „Boulevardkollen von ‚Österreich'“ sind eigentlich „-kollegen“, oder?

    (Ich habe eben sicherheitshalber nach „kollen“ gegoogelt, quasi als Mini-Recherche. Nur damit Du weißt, dass Deine Ermahnungen nicht komplett ins Leere greifen; auch wenn ich kein Journalist bin.)

  6. @Chat Atkins: Stefan zeigt hier leider aber auch immer wieder, dass das auch ein gutes Synonym für einen nicht allzu kleinen Teil des restlichen Journalismus wäre…

  7. #Aber aus irgendeinem Grund, den ich nicht verstehe, glauben die kommerziellen Online-Medien in Deutschland, es sei wichtig für ihren Erfolg, dass bei ihnen dasselbe steht wie überall sonst.#

    Das liegt an Google. Die ranken nicht nur nach Linkhäufigkeit, sondern auch nach Textähnlichkeit. Und deshalb sind Agenturnachrichten immer ganz weit vorn. Und die Redaktionen wissen das.

  8. affirmatives kommentieren lehne ich bekanntlich ab, aber mir bleibt nichts anderes übrig, deshalb stimme ich ein schokoriegellied an: merci, dass es dich gibt.

  9. Mal im Ernst – warum interessiert einen Journalisten dieses dämliche Rattenrennen des Google-Ranking? Mir scheint, hier steuert die Methode das Medium und generiert so Langeweile und Uniformität, daraus folgend wiederum den Leser- resp. Zuschauerschwund …

  10. toll recherchiert!
    Schön zu sehen, wie bei Meldungen, die einen so garnicht interessieren, doch noch was bei rumkommt.

  11. Im Internet nachschauen? Ich hörte jüngst aus einer Zeitungs-Redaktion, dass man an den Flughafen gefahren ist, um die Ausgabe einer ausländischen Zeitung zu bekommen, obwohl gesuchter Artikel auch in der Onlineausgabe zu lesen war. Nee, das dauert noch was bei den Printlern.

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