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Wer wegen Blome den „Spiegel“ abbestellt, bekommt ihn umsonst

Gut einhundert Leser haben ihr „Spiegel“-Abo ausdrücklich wegen des Transfers von „Bild“-Mann Nikolaus Blome zum Nachrichtenmagazin gekündigt, die meisten davon langjährige Abonnenten. Der „Spiegel“ hat den meisten von ihnen angeboten, das Heft drei Monate lang kostenlos weiter zu beziehen, damit sie sich überzeugen können, dass sich mit Blome als neuem Mitglied der Chefredaktion und Leiter des Hauptstadtbüros nichts an der journalistischen Haltung des Blattes ändern werde.

Einhundert Abbestellungen sind nach Angaben des „Spiegel“ keine große Zahl: Kontroverse Titelgeschichten würden des öfteren größere Wellen auslösen, und im Vergleich mit den Kündigungen nach der Umstellung auf die neue deutsche Rechtschreibung sei die Zahl „verschwindend gering“.

Andererseits sind das natürlich Faktoren, die für die Leser des „Spiegel“ unmittelbar erkennbar oder sogar unübersehbar sind, während sie die Kontroverse um die Personalie des „Bild“-Mannes nicht unbedingt wahrgenommen haben müssen. Das macht die Zahl von einhundert Kündigungen, bei denen Blome explizit als Grund genannt wurde, dann doch relativ eindrucksvoll.

Dass Verlage versuchen, kündigungswillige Abonnenten mit sogenannten „Halterangeboten“ zu überreden, dem Medium doch noch länger treu zu bleiben, ist nicht ungewöhnlich und offenbar in allen Verlagen übliche Praxis. Sofern die Kunden Gründe mitteilen, versucht der Kundenservice, auf diese Gründe individuell einzugehen und ein passendes Angebot zu machen. Neue Abonnenten zu gewinnen, wäre im Zweifel deutlich teurer.

Diejenigen „Spiegel“-Leser, die sich auf das Angebot einlassen, dreizehn Ausgaben kostenlos geliefert zu bekommen, müssen dann allerdings ausdrücklich erneut kündigen. Sonst werden sie automatisch wieder zahlende Abonnenten — dann eines Nachrichtenmagazins, das maßgeblich von einem herausragenden Vertreter des „Bild“-Verständnisses von Journalismus verantwortet wird.

Die Rache des Rhododendron: NDR vertut sich mit Ranking-Show-Manipulations-Erklärung


Screenshots: NDR

Wir müssen noch einmal über die Rhododendron-Gärten im Ammerland sprechen. Die sind ja vom NDR um den ihnen eigentlich zustehenden Ruhm als zehntschönster Park des Nordens gebracht worden. Fernseh-Programmdirektor Frank Beckmann hatte am Freitag als Ergebnis angeblich akribischer Recherchearbeiten im Haus eine Stellungnahme veröffentlicht, in der es heißt:

Bei der Sendung „Die schönsten Gärten und Parks des Nordens“ wurde der Elftplatzierte „Planten un Blomen“ aufgrund besseren Bildmaterials bei sieben Stimmen Abstand zum Nächstplatzierten (Rhododendronpark Ammerland) auf Platz zehn vorgezogen. Der Rhododendronpark Ammerland war damit nicht mehr Teil der Sendung.

Das stimmt nicht.

Der Rhododendronpark Ammerland war auch auf Platz 11 Teil der Sendung.

Die Sendung „Die schönsten Gärten und Parks des Nordens“ (ausgestrahlt am 20. Dezember 2013, 1. Januar 2014, 21. April 2014 und 29. Mai 2014) ist nämlich 90 Minuten lang und besteht aus den Top-20, nicht nur den zehn Bestplatzierten.

Das lässt aber nun den Eingriff in die von den Zuschauern im Internet bestimmte Reihenfolge völlig rätselhaft erscheinen. Warum die Rhododendren der Familie Hobbie wegen des angeblich nicht so attraktiven Bildmaterials um einen Platz nach hinten verschieben, wenn es dann trotzdem in der Sendung ist?

Der NDR räumt auf Nachfrage ein, dass die Darstellung in der Stellungnahme der Programmdirektion falsch ist, hat aber eine Art Erklärung. In der Regel gebe es von den Hitlisten-Formaten jeweils zwei Versionen: eine in Spielfilmlänge und eine von 45 Minuten Länge. Die würden in einem Aufwasch produziert oder jedenfalls so geplant, dass im Grunde nur ein einziger Schnitt vor Platz zehn nötig ist, um aus dem 90-Minüter einen 45-Minüter zu machen. Auch von der Garten-und-Parks-Hitparade war eine solche kürzere Version geplant. Die hätte dann mit den Rhododendron-Gärten begonnen; die Redaktion fand dafür aber die Bilder von Planten un Blomen attraktiver.

Tatsächlich gibt es in der Sendung von dem Hamburger Park faszinierende historische Bilder der Gartenbau-Ausstellung 1963, die vielleicht einen reizvolleren Einstieg in die Sendung dargestellt hätten als die schnöden Rhododendren.

Es scheint also, als hätte die Redaktion am Ergebnis der Abstimmung herumgedoktert, um eine spätere Neukonfektionierung der Sendung ein bisschen attraktiver wirken zu lassen. Diese Kurzfassung wird aber nach den Worten eines NDR-Sprechers nun gar nicht mehr das Licht der Öffentlichkeit erblicken.

Und der Versuch des Senders, sich als Kämpfer für Transparenz und vorbildlicher Aufklärer in eigener Sache zu präsentieren, wirkt angesichts der falschen Darstellung in der Stellungnahme der Fernseh-Programmdirektion ein bisschen weniger überzeugend.

Die Letzten werden die Ersten sein. Oder irgendwas dazwischen.

Das klingt eigentlich nach einer tollen pädagogischen Maßnahme: die Verantwortlichen eines Fernsehsenders zu zwingen, sich noch einmal gründlich mit dem, was sie in den vergangenen Jahren produziert haben, auseinanderzusetzen.

Es hilft nur nichts. Sie merken nichts.

Sie lachen mit, wenn man sich über einen Sendungstitel wie „Die spannendsten Seen Norddeutschlands“ lustig macht. Doch im Zweifel haben sie die Quote der Sendung im Kopf (beinahe eine Million Zuschauer bei der Viertausstrahlung in der Primetime am Sonntagabend im vergangenen Januar), und die ist, was zählt.

Der NDR hat sich zwar, angeblich systematisch und akribisch, mit all den Listen-Formaten auseinandergesetzt, die er in den vergangenen dreieinhalb Jahren hergestellt hat. Er hat dabei entdeckt, dass die verschiedenen Redaktionen im Zweifel nicht zögerten, die Ergebnisse der Zuschauer-Abstimmungen ihren Erfordernissen anzupassen. Aber die Liebe zu dem Format an sich hat darunter nicht gelitten.

Programmdirektor Frank Beckmann will in Zukunft restriktiver mit Online-Votings umgehen. Aber er will die Diskussion um die Sendungen nicht zum Anlass nehmen, die Runterzählformate an sich in Frage zu stellen. Die Leute gucken das ja immer noch.

Damit wir wissen, wovon wir reden, wenn wir von „Ranking-Shows“ im NDR-Fernsehen reden — das hier sind, abgesehen von denen, die ich vergessen oder übersehen habe, die Listensendungen mit den Jahren, in denen sie ausgestrahlt wurden:

  • Die Kultautos der Deutschen (2005, 2005, 2005, 2005, 2005, 2006, 2006, 2007, 2008, 2009, 2009, 2010, 2011, 2011)
  • Die besten deutschen Filme (2005, 2008, 2009)
  • Die größten Sommerhits des Nordens (2005, 2006, 2008)
  • Unvergessene Tore (2005, 2005, 2005, 2007, 2009, 2011)
  • Die besten Comedy-Songs des Nordens (2005, 2006)
  • Die besten Comedy-Songs im Norden (2006, 2008, 2008, 2009, 2010, 2010, 2010, 2011, 2012, 2012, 2013, 2013)
  • Die schönsten Backrezepte des Nordens (2005, 2005)
  • Die schönsten Weihnachts-Momente im TV (2005, 2005, 2006, 2007, 2008, 2009, 2010)
  • Die größten Skandale der Republik (2006, 2006, 2006, 2006)
  • Die schönsten Fußball-Songs (2006, 2006, 2008, 2008, 2009, 2010, 2014)
  • Die schönsten Operetten (2006, 2006, 2006, 2007, 2009, 2009)
  • Die beliebtesten Bücher des Nordens (2006, 2006)
  • Die beliebtesten Trecker Norddeutschlands (2008, 2009, 2010, 2011, 2011, 2012, 2012, 2013, 2013, 2014)
  • Die 100 schönsten Bauwerke Norddeutschlands (2006, 2006, 2006, 2008, 2009)
  • Die schönsten Shantys und Seemannslieder (2008, 2009, 2009, 2010, 2012, 2013)
  • Die schönsten Urlaubsziele Norddeutschlands (2008, 2008, 2008, 2009, 2010, 2011)
  • Die größten Kabarettisten (2007, 2008, 2010)
  • Die bewegendsten Sportmomente (2005, 2005, 2006, 2006)
  • Kuriose Sportmomente (2007, 2007, 2007, 2007, 2007, 2007, 2008, 2008, 2009, 2009, 2009, 2010)
  • Die schönsten Love-Songs (2007)
  • Die größten Modesünden (2007, 2007, 2008, 2008, 2009, 2009, 2009, 2010, 2011, 2012, 2012, 2013, 2013, 2013)
  • Die schönsten Musicals (2007, 2007, 2010)
  • Die schönsten Brücken Norddeutschlands (2007, 2008, 2010)
  • Die beliebtesten Tänze (2007, 2010, 2012)
  • Die schönsten Leuchttürme Norddeutschlands (2008, 2010, 2010, 2011)
  • Die besten Party-Hits (2007, 2007, 2008, 2008, 2009, 2009, 2010, 2011, 2011)
  • Die beliebtesten Eisenbahnen (2007, 2007, 2008, 2008, 2012, 2012)
  • Die größten Fußballer aller Zeiten (2008, 2008, 2008, 2008, 2009, 2009, 2011)
  • Die berühmtesten Zitate (2008, 2009, 2010, 2011, 2011, 2012)
  • Die schönsten Schiffe Norddeutschlands (2008, 2009, 2010, 2011, 2012)
  • Die größten Fußballpannen (2008, 2008, 2008, 2008, 2009, 2011)
  • Die verrücktesten Spektakel Norddeutschlands (2008)
  • Die schönsten Schmuse-Songs (2008, 2009, 2009, 2010, 2010, 2011)
  • Die schönsten Tierparks Norddeutschlands (2009, 2009, 2009, 2009)
  • Die beliebtesten norddeutschen Schauspieler (2008, 2009, 2009)
  • Die größten Schlagzeilen der Politik (2009, 2010, 2011)
  • Die beliebtesten Kult-Schlager (2009, 2009, 2010, 2011, 2012, 2012, 2013, 2013, 2013, 2014)
  • Die schönsten Fußballgeschichten (2009, 2009, 2011)
  • Die beliebtesten Sehenswürdigkeiten Norddeutschlands (2009, 2010, 2010)
  • Die besten Witze aus der DDR (2009, 2009, 2011)
  • Die schönsten Märchen (2009, 2010)
  • Die besten Sportler des Nordens (2009, 2010)
  • Die beliebtesten Sketch-Klassiker (2009, 2009, 2010, 2010, 2011, 2011, 2012, 2012)
  • Die schönsten Weihnachtslieder des Nordens (2008, 2009, 2010, 2010, 2010, 2011, 2011, 2012, 2013, 2013, 2013)
  • Die bedeutendsten Norddeutschen (2010, 2011, 2011, 2013, 2014)
  • Die besten Witze des Nordens (2010, 2011, 2011, 2012, 2013)
  • Die schönsten Bauernhöfe des Nordens (2010, 2010, 2011, 2011, 2011, 2011, 2011, 2012, 2013, 2013, 2014)
  • Meisterwerke im Norden (2010)
  • Die schönsten Evergreens des Nordens (2011, 2011, 2012, 2012, 2013, 2013, 2014)
  • Die beliebtesten Gerichte des Nordens (2010, 2010, 2010, 2011, 2012, 2013)
  • Die schönsten Inseln Norddeutschlands (2010, 2011, 2011, 2011, 2011, 2012, 2013, 2013, 2014)
  • So plietsch ist der Norden – Die größten Erfindungen (2010, 2010, 2011)
  • Die schönsten Ohnsorg-Momente (2010, 2010, 2011, 2012, 2013)
  • Die beliebtesten Fernsehpaare (2010, 2010, 2011, 2011, 2012, 2013, 2013, 2014)
  • Die beliebtesten Tiere Norddeutschlands (2010, 2010, 2011, 2011, 2011, 2012, 2013)
  • Legendäre Talkshow- und Interviewmomente (2011, 2011, 2011, 2011, 2014)
  • Die schönsten Schlösser Norddeutschlands (2012, 2012, 2012, 2013, 2014)
  • Die beliebtesten Party-Hits (2012, 2012, 2013, 2013, 2014)
  • Die beliebtesten norddeutschen Pop-Musiker (2013, 2013, 2014)
  • Die schönsten Flüsse Norddeutschlands (2013, 2013, 2013, 2013, 2013, 2014)
  • Die erstaunlichsten Dörfer Norddeutschlands (2012, 2012, 2012, 2012, 2012, 2013, 2013, 2013, 2014)
  • Die spannendsten Seen Norddeutschlands (2012, 2012, 2013, 2014)
  • Die beliebtesten Motorräder Norddeutschlands (2008, 2008, 2011, 2011)
  • Die schönsten Naturparadiese des Nordens (2011, 2012, 2012, 2013, 2013, 2013, 2013, 2014, 2014, 2014)
  • Die schönsten Gärten und Parks des Nordens (2013, 2014, 2014, 2014)
  • Die schönsten Werbeklassiker (2013, 2013)
  • 50 Jahre Bundesliga im Norden (2013, 2013, 2014)
  • Die schönsten Wälder des Nordens (2013, 2013, 2014)
  • Die beliebtesten Oldtimer (2014)
  • Die größten Designsünden (2012, 2013, 2013, 2013, 2014)
  • 50 Dinge, die ein Norddeutscher getan haben muss (2011, 2012, 2013, 2013, 2013)
  • Die 30 legendärsten Fernsehshows (2013)
  • Die legendärsten Sex-Affären (2013, 2013)
  • Die legendärsten Rücktritte (2011)
  • Die schönsten Mühlen des Nordens (2013, 2013)

Man könnte angesichts dessen schon zu dem Schluss kommen, dass da im Dritten Programm des NDR noch etwas ganz anderes schief gelaufen ist, als dass der Rhododendronpark Ammerland um seinen Platz als zehntschönster Garten oder Park Norddeutschlands gebracht wurde, weil es angeblich von ihm nicht so gutes Bildmaterial gab wie von Planten un Blomen. Könnte man. Ist der NDR aber nicht.

Er hat nun „vorläufige Regeln für den redaktionellen Umgang mit Listing-Formaten“ veröffentlicht, in denen es unter anderem heißt:

Auswahllisten der Redaktionen müssen bereits mit Blick auf Lizenzfragen und Materiallage vor Veröffentlichung geprüft sein, um nachträgliche Änderungsnotwendigkeiten zu minimieren. Wiederholungsrechte werden bei der Prüfung berücksichtigt.

Im Zweifel werden die Rhododendrongärten Ammerlands also gar nicht mehr zur Auswahl stehen, um von ein paar Dutzend Teilnehmern in die Top Ten gewählt werden zu können.

Im Internet ist jeder Freiwild für „Bild“

Die Kollegen von Radio Eins hatten heute morgen Nikolaus Blome im Gespräch, den stellvertretenden „Bild“-Chefredakteur. Sie sprachen ihn auf die Berichterstattung über den gewaltsamen Tod einer jungen Frau in Berlin an. „Bild“ hatte den Fall versehentlich mit dem Foto einer ganz anderen jungen Frau illustriert. Dieses Foto hatte „Bild“ einfach aus deren Blog genommen.

Blome sagte, dass sei ein „Missgriff“ gewesen, aber er halte das nicht für das grundsätzliche „Funktionsprinzip“ von „Bild“. Das Gespräch ging so weiter:

Moderator: Unabhängig davon, dass es die falsche Person war: Ist es denn gut, dann einfach Fotos von irgendwelchen Internetseiten runterzuziehen? Statt zu versuchen, sich die von Angehörigen zu besorgen?

Blome: Na gut, dann hätten Sie uns vorgeworfen, wir würden irgendwelche Witwen schütteln, wie es früher hieß. Da sind wir in einer sehr grundsätzlichen Frage. Wenn Leute, Menschen — viele, viele Menschen offenkundig — ihr ganzes Privatleben im Internet ausbreiten, und das ist nun mal frei zugänglich, dann sind solche Folgen leider mit einzupreisen. Das heißt, dann müssen sich Menschen auch bewusst sein, dass sie sich öffentlich gemacht haben. Und das kann dann auch dazu führen, dass Zeitungen von diesen öffentlich zugänglichen Recherchefeldern, also zum Beispiel Facebook, also zum Beispiel Internet insgesamt, Gebrauch machen.

So ist das bei der Axel-Springer-AG. Der Konzern möchte kleinste Schnipsel, die er produzieren lässt, im Internet durch ein eigenes Recht schützen lassen, während sein wichtigstes Blatt Persönlichkeits- und Urheberrechte im selben Medium konsequent ignoriert.

(Man kann sich allerdings, wenn „Bild“ vom Internet entsprechend „Gebrauch gemacht“ hat, persönlich bei Dietrich von Klaeden von der Axel-Springer-AG beschweren, der sich dann nicht darum kümmert.)

Medienlexikon: Kentern

Der Spiegel

Kentern, das: Untergang in der Flut nautischer Sprachbilder über die Piratenpartei.

Es hätte, wie immer, schlimmer kommen können. Wenn etwa eine Partei in unser Bewusstsein und die Parlamente drängte, die sich „Die Schlümpfe“ nennen würde. Dann würden wir jetzt auf Jahre hinaus jeden Morgen mit Schlagzeilen aufwachen, in denen jemand ein beliebiges unschuldiges Verb durch das Wort „schlumpfen“ ersetzt hätte.

Die Realität ist kaum besser. Man würde so gerne formulieren, dass der Aufstieg der Piratenpartei auch die Fantasie der Journalisten angeregt hat. Tatsächlich scheinen sie sich eher zu einem Marathon herausgefordert zu fühlen, in dem derjenige gewinnt, der am längsten braucht, um von einer totgerittenen Metapher abzusteigen.

Kaum ein Tag vergeht, ohne dass die Piraten jemandem in einer Meldung „davonsegeln“, auf einer „Erfolgswelle“ oder „mit Rückenwind“, manchmal „trotz Sturmböen“. Gute Umfragewerte führen zur Überschrift: „Mehr als eine Handbreit Wasser unter dem Kiel“, und wenn einer über eine unbedachte Bemerkung stolpert, lassen die Piraten ihn „über die Planke gehen“.

Man möchte die Piraten schon dafür verfluchen, dass sie durch ihren Namen, ihre Symbolik und einen Slogan wie „Klarmachen zum Ändern“ den politischen Journalisten einen Zugang zu dieser aufregenden Welt voller bunter Sprachbilder geschenkt haben. Nun glauben die, sie könnten mit einem schnellen Griff in diese Wörterkiste aus jeder tristen Politikmeldung einen Mini-Abenteuer-Roman machen.

Kommt es zur „Meuterei“ gegen den Piraten-Chef, lautet die Schlagzeile: „Segel gesetzt: Kapitänswechsel auf der Piratenbrücke“ oder auch: „Bundes-Bernd auf Kaperfahrt“. Je nachdem, wie die Partei mit Extremisten umgeht, heißt es: „Piraten zeigen Flagge gegen rechts“ oder: „Augenklappe rechts“. Eine Nachrichtenagentur meldet: „Auf dem Piratenschiff knarzt es ordentlich im Gebälk. … Der Kahn der Freibeuter hat eine derart rasante Fahrt aufgenommen, dass manche Spitzenkräfte völlig überlastet die Segel streichen.“

Vermutlich ist es nur gescheiterten Honorarverhandlungen zu verdanken, dass bei Anne Will zum Thema „Piraten entern Berlin – Meuterei auf der ‚Deutschland'“ nicht auch Johnny Depp als Experte mitdiskutierte. Aber für den Sieg in der inoffiziellen Metaphernmischmeisterschaft hätte es eh nicht gereicht. Vorne müsste „Bild“-Mann Nikolaus Blome liegen, Erfinder des Wortes von den „Freibier-Freibeutern“.

Vom Glück, „Bild“ zu sein

Ich frage mich, ob man als „Bild“-Zeitung-Macher manchmal darunter leidet, dass man es zu leicht hat. Man kann heute alle Register eines unseriösen Schmuddelblattes ziehen, und sich morgen wieder als seriöse Zeitung geben. Man hat die Wahl, Dinge zu veröffentlichen, Dinge nicht zu veröffentlichen und Dinge zu veröffentlichen, ohne sie zu veröffentlichen. Man kann es mit der Wahrheit ganz genau nehmen oder schon das Konzept „Wahrheit“ an sich als eine Erfindung von Korinthenkackern abtun. Man muss niemandem Rechenschaft ablegen oder tut es einfach nicht. Und keine Sekunde muss man sich um sein dummes Geschwätz von gestern kümmern.

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Fangen wir der Einfachheit halber ganz hinten an: Beim Auftritt von Nikolaus Blome bei Günther Jauch gestern abend. Blome ist der stellvertretende Chefredakteur der „Bild“-Zeitung. Sein Dackelblick ist in den vergangenen Monaten so etwas wie das menschliche Antlitz von „Bild“ in der Öffentlichkeit geworden.

Auch bei Jauch hatte er es leicht. Niemand wollte so recht die Rolle der „Bild“-Zeitung in dem Spektakel der letzten Wochen thematisieren; es ging um Wulff.

Immerhin stellte jemand eine berechtigte Frage: Warum es zwei Wochen gedauert hat, bis Wulffs angebliche Droh-Nachricht auf der Mailbox von „Bild“-Chef Kai Diekmann an die Öffentlichkeit kam.

Blome hatte einen originellen Erklärungsversuch: Er vermutet, dass der Auslöser die Kritik von Bundestagspräsident Norbert Lammert gewesen sei, der es an Silvester gewagt hatte zu sagen: „Auch die Medien haben Anlass zu selbstkritischer Betrachtung ihrer offensichtlich nicht nur an Aufklärung interessierten Berichterstattung.“ Daraufhin, so Blomes These, hätten die sich zu Unrecht angegriffen fühlenden Journalisten die Mailbox-Sache in die Öffentlichkeit gebracht.

Außerdem, fügte er hinzu, sei die Geschichte mit der Nachricht auf der Mailbox ja erst richtig groß geworden, nachdem Wulff selbst in seinem Interview in ARD und ZDF darüber geredet und ihren Inhalt — Blomes Ansicht nach — falsch dargestellt habe, nämlich als bloßen Versuch, einen Tag Aufschub herauszuhandeln.

Ich glaube, dass es einen Menschen auf Dauer deformiert, wenn er so etwas sagen kann, ohne dass er schallendes Gelächter erntet oder ihm jemand sachte die Hand auf den Arm legt und sagt: „Herr Blome? Der Bundespräsident musste das Interview überhaupt nur geben, weil der öffentliche Druck so groß geworden war, nachdem die Sache mit der Mailbox an die Öffentlichkeit gekommen war.“

· · ·

Was für eine bizarre Situation: In der ARD-Talkshow zitiert Jauch, was der „Spiegel“ unter Berufung auf Springer über Wulffs Anrufe bei Diekmann und Vorstandschef Mathias Döpfner schreibt, und fragt Blome, ob das richtig sei. Was der „Spiegel“ schreibt. Was er von Springer weiß. Und Blome bestätigt es.

Die „Bild“-Zeitung fragt öffentlich beim Bundespräsidenten an, ob sie den Wortlaut seiner Mailbox-Nachricht veröffentlichen darf. Als er Nein sagt, verzichtet sie, ganz das hyperseriöse Blatt, auf eine Veröffentlichung.

Zu diesem Zeitpunkt haben Springer-Leute anderen Journalisten ausführlich aus der Abschrift der Nachricht am Telefon vorgelesen — unter der Maßgabe, nicht vollständig mitzuschreiben und das Gespräch nicht aufzuzeichnen.

Die „Bild“-Zeitung feuert die Munition, die ihr der Bundespräsident in seiner Dummheit geliefert hat, nicht selbst ab. Sie reicht sie an andere weiter. Sie kann nach dem großen Knall ihre Hände vorzeigen: keine Schmauchspuren.

Sie muss sich keinen Fragen stellen, ob es womöglich ein Vertrauensbruch war, Details aus der Nachricht zu veröffentlichen, wenn Diekmann doch gegenüber Wulff die Sache nach einer Entschuldigung als erledigt bezeichnet hatte. Sie hat sie ja nicht veröffentlicht. Außer doch.

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Letztens hat mich ein Kollege gefragt, wer eigentlich der Böse in der Geschichte sei, „Bild“ oder Wulff. Das ist die falsche Frage und in Wahrheit gar keine Alternative. Klar ist, wer der Depp ist und wer der klug Handelnde.

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Ich verstehe den Frust darüber, in welchem Maße sich die Berichterstattung auf den Bundespräsidenten konzentriert und wie wenig sie sich um die Rolle von „Bild“ kümmert. Es gibt dafür aber immerhin einen guten Grund: Es geht auf der einen Seite um die Ansprüche an das deutsche Staatsoberhaupt und auf der anderen Seite nur um die an eine Boulevardzeitung.

Anders gesagt: Wir haben in den vergangenen Wochen einiges Neues über den Charakter von Christian Wulff gelernt. Und nichts Neues über den Charakter der „Bild“-Zeitung.

Natürlich kann man sich, wenn man will, darüber empören, dass das, was man Kai Diekmann auf die Mailbox spricht, nicht vertraulich bleibt. Oder, alternativ, dass Diekmann nicht die Eier hat, die Grenzüberschreitung selbst öffentlich zu machen und mit offenem Visier zu kämpfen. Aber hat irgendjemand etwas anderes von Kai Diekmann erwartet?

Es mag allerdings sein, dass Wulff Grund zur Annahme hatte, er könne sich diese Art der Einflussnahme erlauben. Vielleicht hat das früher geklappt, Freundschaftsdienste auf diese Weise einzufordern. Auch das dürfte — angesichts der Art, wie „Bild“ für Wulff PR gemacht hat und wie sehr Wulff der „Bild“ Exklusiv-Geschichten geschenkt hat — niemanden wundern.

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Erinnert sich noch jemand an das Jahr 2004, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Pressefreiheit in Deutschland abschaffte? Durch das sogenannte „Caroline-Urteil“ wurde das Recht eingeschränkt, über Privates aus dem Leben von Prominenten zu berichten, wenn es keinem anderen Interesse dient als der Sensation oder Unterhaltung. Siebzig Chefredakteure riefen damals in einem offenen Brief „Zensur!“, weil die „wichtigste Aufgabe der freien Presse, den Mächtigen auf die Finger zu schauen, massiv behindert“ werde. Es unterschrieben in einem der traurigsten Akte fehlgeleiteter journalistischer Solidariät unter anderem die Chefredakteure von „Spiegel“, „Stern“, „Playboy“, „Das neue Blatt“, „Neue Post“, „Das Haus“ und natürlich „Bild“ und „Bild am Sonntag“.

„Bild“ beließ es nicht dabei. Öffentlichkeitswirksam kündigte Kai Diekmann damals an, Konsequenzen aus dem Urteil zu ziehen und bis auf weiteres auf Homestories über Politiker zu verzichten. Nach dem „Maulkorburteil“ sei unklar, was an kritischer Berichterstattung noch erlaubt sei. „Deshalb müssen wir umgekehrt beim Leser jetzt von vornherein jeden Anschein vermeiden, wir würden mit eingebauter Schere im Kopf nur noch Hofberichterstattung betreiben.“

Das war damals schon lächerlich. Und keine zwei Jahre später begann in „Bild“ der große (inzwischen abgeschlossene) Liebesroman „Christian Wulff und sein perfektes Privatleben“, mit Berichten über neue Wohnungen, neue Frisuren, neue Kinder, neues Glück.

Natürlich hatte „Bild“ dabei die Schere im Kopf. Es war die ganz eigene Schere der kalkulierten Hofberichterstattung über Menschen, die sich auf das Spiel von „Bild“ einlassen und ihr den Stoff geben, den sie begehrt.

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Als Nikolaus Blome von Günther Jauch gefragt wurde, ob man an der Berichterstattung über Wulff — erst rosarot verklärt, dann gnadenlos vernichtend — das berüchtigte Aufzugs-Prinzip von „Bild“ erkennen könnte, antwortete der „Bild“-Mann erst mit einer witzig gemeinten Bemerkung darüber, dass es in der Axel-Springer-Zentrale in Berlin einen Paternoster gebe. Dann fand er es abwegig, und meinte das offenbar leider nicht mehr als Witz, dass man „Bild“ vorwerfe, aus der „eher glimpflichen Scheidung“ der Wulffs „keine Schlammschlacht“ gemacht zu haben. Und schließlich sagte er noch, dass einige der PR-Schlagzeilen, die „Bild“ Wulff in den Zeiten bester Zusammenarbeit schenkte und die Jauch gezeigt hatte, bloß aus den Regionalausgaben von „Bild“ stammten. Blome sagte die Unwahrheit. Jede der gezeigten Geschichten war in der Bundesausgabe.

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Es ist schon richtig, dass an einen Bundespräsidenten andere Ansprüche an Ehrlichkeit zu stellen sind als an den stellvertretenden Chefredakteur einer Boulevardzeitung. Das bedeutet aber nicht, dass man ihm und seinem Blatt jede Lüge, jeden schmierigen Trick, jede irrwitzige Pose einfach durchgehen lassen muss.

Ein chronischer Lügner und Trickser beschuldigt jemanden, zu lügen und zu tricksen. Das ist selbst dann ekelhaft, wenn der Vorwurf — wie offenbar in diesem Fall — stimmt. Deshalb hat die langjährige Freundin von Wulff Recht, wenn sie bei Jauch rührend hilflos fomuliert, sie möchte in keinem Land leben, in dem die „Bild“-Zeitung bestimmt, was Moral und was richtig ist.

Und deshalb ist der Eindruck so verheerend, dass andere Medien sich von „Bild“ haben einspannen lassen, der „Bild“-Geschichte an den entscheidenden Stellen die eigene Seriösität leihen und Seite an Seite mit „Bild“ kämpfen.

„Es gab keinen Bruch“ in der Beziehung zwischen „Bild“ und Wulff, heuchelte Blome. Das ist sowohl angesichts der real existierenden Berichterstattung von „Bild“ als auch angesichts von Wulffs Nachricht auf der Mailbox offenkundig unwahr. Blome meint natürlich, dass es nie eine innige Beziehung zu Wulff zum beiderseitigem Vorteil gegeben habe.

Das Problem ist, dass bis heute unklar ist, was den Bruch ausgelöst hat. Es könnte einen konkreten Anlass gegeben haben; vielleicht war es auch bloß die Abwägung von „Bild“, dass sich inzwischen ein exklusiver Zugang zu Wulff samt schöner Geschichten weniger lohnt als die Möglichkeit, sich an die Spitze seiner Kritiker zu setzen.

Das ist eine größere Leerstelle in der Geschichte und sie korrespondiert mit vielen kleinen Leerstellen, die der Springer-Verlag gelassen hat. Eine Woche lang musste sich die Nation ein Urteil über eine Nachricht von Christian Wulff erlauben, das allein auf einzelnen kurzen Satzfetzen beruhte, die der Springer-Verlag lanciert oder freigegeben hat. Offenbar hat bis jetzt noch niemand außerhalb des Springer-Verlages die Nachricht selbst gehört. Quelle ist allein eine Abschrift des Telefonates.

Dadurch, dass „Bild“ das Gespräch nicht vollständig veröffentlicht hat, schützte das Blatt nicht Wulff, sondern maximierte den Schaden, weil es die Veröffentlichung weitgehend steuern und die Interpretation beeinflussen konnte. (Dass der Bundespräsident dann die geschickt später nachgeschobene Bitte von „Bild“, die Nachricht nun auch offiziell veröffentlichen zu dürfen, ablehnte, spricht natürlich wieder für seine umfassende Ungeschicklichkeit und Dummheit in dieser Sache.)

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Ein Schlüsselmoment in der Affäre ist, als der später entlassene Wulff-Sprecher Olaf Glaeseker den „Bild“-Reporter Martin Heidemanns am 6. Dezember ins Schloss Bellevue bittet. Er will die Gerüchte ausräumen, dass der zwielichtige Unternehmer Carsten Maschmeyer hinter dem Kredit für sein Haus steckt, und deshalb „Bild“ verraten, von wem das Geld wirklich stammt.

Das Dokument, mit dem „Bild“ von der Verbindung zu den Geerkens erfuhr und die Frage aufwerfen konnte, ob Wulff das niedersächsische Parlament 2010 belogen hat, bekam das Blatt also vom Präsidentensprecher selbst. Strittig ist, unter welchen Voraussetzungen: Wulff sagt, Heidemanns habe versprochen, den Namen des Kreditgebers nicht zu nennen. Das erklärt vermutlich auch seinen Zorn und seine Drohung mit strafrechtlichen Schritten. Heidemanns sagt, er habe vor Ort diese Forderung ausdrücklich abgelehnt, und Glaesekers habe ihm das Dokument dann trotzdem gezeigt.

Ich weiß natürlich nicht, wer die Wahrheit sagt. Aber ich weiß, wer Martin Heidemanns ist. Er ist bei Menschen, die mit ihm zu tun haben mussten, ein besonders verhasster „Bild“-Mann. Seine Drohungen und auf die Betroffenen erpresserisch wirkenden Methoden sind berüchtigt.

Und auf diesen Mann glaubt der Bundespräsident seine Entlastungsstrategie aufbauen zu können? Ihm lässt er die entscheidenden Dokumente zeigen? Ich weiß nicht, ob Heidemanns Stillschweigen versprochen hat oder nicht. Es ist aber auch vollständig egal, da man schon außerordentlich blauäugig sein muss, um ihm zu trauen.

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Christian Wulff ist, das zeigt auch dieses Detail, nicht darüber gestolpert, dass er sich mit „Bild“ angelegt hat, sondern darüber, dass er immer noch glaubte, mit ihr gemeinsame Sache machen zu können.

Das ist eine wichtige Erkenntnis, denn das wäre eine verheerende Lehre, die Prominente und Politiker aus der ganzen Geschichte ziehen könnten: Dass es so tödlich ist, wie man immer schon angenommen hat, sich mit „Bild“ anzulegen. Nein, tödlich ist es, zu glauben, einen Pakt mit der „Bild“-Zeitung schließen zu können und davon am Ende profitieren zu können. Im Zweifel wird nur einer von beiden von einem solchen Pakt profitieren, und das ist derjenige, der es sich erlauben kann zu tricksen und zu lügen, heute mit Schlamm zu werfen und morgen seriös zu tun, keine Rechenschaft ablegen zu müssen und sich keine Sekunde um sein Geschwätz von gestern kümmern zu müssen.

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Leseempfehlungen:

Blomige Worte über Volksverhetzung

Deutschland will Pleite-Griechen mit bis zu 5 Milliarden helfen! / Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen! / Statt zu sparen, streiken die Pleite-Griechen lieber ihr Land kaputt! / Deutsches Steuergeld für die Pleite-Griechen? / Gestern haben die Pleite-Griechen offiziell Finanzhilfen von EU und Internationalem Währungsfonds (IWF) beantragt. / DIESE PLEITE-GRIECHEN! / BILD gibt den Pleite-Griechen die Drachmen zurück. / Reißen die Pleite-Griechen ganz Europa runter? / Pleite-Griechen: Heute General-Streik. / Ackermann ehrt Pleite-Griechen. / Pleite-Griechen, also doch! / Pleite-Griechen wollen ihre Politiker „fressen“. / Noch mehr Milliarden für die Pleite-Griechen. / Keine neuen Milliarden für Pleite-Griechen? / Schafft die Privilegien ab und hört auf zu randalieren, ihr Pleite-Griechen! / Warum war Rösler so nett zu den Pleite-Griechen? / Die Euro-Staaten wollen den Pleite-Griechen einen Teil ihrer Schulden erlassen. / Zahlreiche Politiker fordern nun den Euro-Austritt der Pleite-Griechen. / Wir bürgen für Hunderte Milliarden Euro, um die Pleite-Griechen zu retten. / Am Mittwochabend hatten Merkel und Sarkozy mit den Pleite-Griechen endlich Klartext geredet! / Heftige Schelte für die Pleite-Griechen! / So denken die Pleite-Griechen über BILD.

Das hier oben ist nur eine kleine Auswahl. 48 Artikel hat die „Bild“-Zeitung (Bundesausgabe) in den vergangenen knapp zwei Jahren veröffentlicht, in denen von „Pleite-Griechen“ die Rede war; 30 waren es allein in den vergangenen sechs Monaten.

Nun gibt es bei den Komposita, die „Bild“ so gerne schöpft und benutzt, häufiger semantische Trennunschärfen, und nicht alle sind beabsichtigt. (Anfangs hatte „Bild“ die rechtsradikalen Mörder aus Zwickau „Nazi-Killer“ genannt, bis jemandem offenbar die Doppeldeutigkeit auffiel und „Killer-Nazis“ das Standard-Synonym wurde.)

Theoretisch wäre es denkbar, dass „Bild“ mit den „Pleite-Griechen“ nur diejenigen Griechen meint, die für die gegenwärtige Krise des Landes verantwortlich sind (dass das Land genaugenommen nicht pleite ist, lassen wir mal als Spitzfindigkeit außen vor). Es wäre ebenso theoretisch auch möglich, dass „Bild“ den Ausdruck ganz nüchtern-faktisch meint: die Mitglieder eines Staates, der vom Bankrott bedroht ist.

Doch beides ist nicht der Fall. „Bild“ benutzt den Begriff ohne Zweifel als Schimpfwort. Und „Bild“ bezeichnet explizit auch die normalen Bürger des Landes, nicht nur die Politiker, als „Pleite-Griechen“. Es gibt für und in „Bild“ de facto keine Griechen mehr, nur noch Pleite-Griechen.

„Bild“ arbeitet seit Monaten systematisch daran, dass niemand an griechische Menschen denken soll, ohne das Wort Pleite mitzudenken. Die Methode ist dieselbe, die Christa Wolfs Kassandra benutzt, wenn sie den verhassten Achill immer und immer und immer wieder als „Achill, das Vieh“ bezeichnet. „Bild“ macht systematisch nicht nur einen Staat, sondern alle seine Angehörigen verächtlich. Es ist eine Form von Volksverhetzung.

Am vergangenen Wochenende hat die „Bild“-Zeitung einen Negativ-Preis für ihre Griechenland-Berichterstattung bekommen. Die „Europa-Union Deutschland“ überreichte ihr die „Europa-Diestel“, weil sie die europäischen Bürger gegeneinander aufbringe. Der Leiter des „Bild“-Hauptstadtbüros und stellvertretende Chefredakteur Nikolaus Blome nahm den Schmähpreis dummstolz entgegen.

„Bild“ widmet seiner Erwiderung heute erstaunlich viel Platz im Blatt. Es ist ein erhellendes, erschütterndes Dokument.

Es beginnt damit, dass er die bloße Kritik an der „Bild“-Berichterstattung als etwas Anrüchiges darstellt und in die Nähe eines Zensurversuchs rückt:

Man kriegt die Distel für etwas, was man besser unterlassen hätte. Für eine Zeitung heißt das: Was sie besser nicht geschrieben hätte. Soll uns der Preis ex post nahelegen zu schweigen, uns also irgendwie „mundtot“ machen?

Und dann nimmt Blome die Zuhörer mit auf eine Reise in die irre Welt, die ein leitender „Bild“-Redakteur für die Wirklichkeit hält.

Was hätten wir also nicht schreiben sollen:

Etwa den Kommentar: Tretet aus, Ihr Griechen! (im April 2010). Nun, die Forderung, sich bitte endlich zu entscheiden, haben sich die Bundeskanzlerin und der französische Präsident zwischenzeitlich ganz offiziell zu eigen gemacht.

So klingt es also, wenn „Bild“ fordert, sich bitte endlich zu entscheiden:

Darum ist die einzige wirkliche Lösung der klare Schnitt: Griechenland muss den Euro verlassen.

Ich wär gern mal bei Blomes zuhause dabei, wenn er sagt: „Uschi, du musst dich jetzt aber mal entscheiden, was du kochen willst: Erbseneintopf.“

Dass „Bild“ den preisgekrönten Nachwuchshetzer Paul Ronzheimer nach Athen schickt, um ihn dort als Deutschen mit Geldscheinen wedeln zu lassen („BILD gibt den Pleite-Griechen ihre Drachmen zurück“), ist in Blomes Welt ein:

Versuch, mit dem medienüblichen Mittel der Straßenumfrage zu erhellen, ob die Griechen ihre alte Währung zurückwollen. Inzwischen vergehen in Griechenland keine sieben Tage, ohne dass eine solche Umfrage gemacht wird.

Blomes Paralleluniversum ist ein glückliches, denn es gibt in ihm keine Häme. Jede Verächtlichmachung ist bloß eine Zustandsbeschreibung, jede hämische Forderung bloß eine Zukunftsprognose. Er zitiert die „Bild“-Schlagzeile „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen“ und stellt fest:

Auch hier verspreche ich Ihnen: Exakt so wird es kommen.

„Exakt so“ im Sinne von:

… UND DIE AKROPOLIS GLEICH MIT!

(…)

Wenn wir den Griechen doch noch mit Milliarden Euro aushelfen müssen, sollten sie dafür auch etwas hergeben — z. B. ein paar ihrer wunderschönen Inseln. Motto: Ihr kriegt Kohle. Wir kriegen Korfu.

(Und da wundert sich „Bild“, dass griechische Demonstranten immer wieder auf die Idee kommen, das Deutschland von heute mit Symbolen aus einer noch nicht ganz vergessenen Zeit in Verbindung zu bringen, als Griechenland von Deutschen besetzt war.)

Blome halluziniert, dass „Bild“ bloß anderen, seriösen Zeitungen in der Analyse voraus war. Und an der folgenden Stelle seiner Rede kann ich nur hoffen, dass er so hinter dem Rednerpult stand, dass niemand eine Erektion bemerkt hätte:

Kurzum: Ich gebe zu. Rechthaben macht Spaß. In diesem Maße recht zu haben, und zu behalten, macht fast ein bisschen Angst.

(Ein winziger Realitätscheck dazu beim geschätzten Pleite-Kollegen Pantelouris.)

Ich verdanke Blomes Text aber auch — ganz unironisch — eine brauchbare Kurzformel für die Art von populistischem Pragmatismus, die „Bild“ heute von „Bild“ etwa in den siebziger Jahren unterscheidet — einem ideologischen Kampfblatt in einer ideologischen Zeit. Blome sagt nämlich, „Bild“ hätte „Haltung“ bewiesen. „Haltung“ ist ein schöner, großer Begriff. Wie lautet die „Haltung“, die die Position von „Bild“ in dieser Sache bestimmt, Herr Blome?

Die lautet seit Anfang 2008: Rettet den Euro. Aber nicht so.

Das ist wunderbar und bringt die Postideologie von „Bild“ auf den Punkt. Rettet den Euro, aber nicht so. Rettet die Umwelt, aber nicht so. Rettet den Haushalt, aber nicht so.

Und noch etwas Fundamentales über das Selbstverständnis von „Bild“ verrät Blome, wenn er fragt:

Und glauben Sie im Ernst, BILD hätte die Griechenland-kritische Stimmung gemacht?

Dann drehen Sie es in Gedanken einmal um. Stellen Sie sich vor, BILD hätte von Anfang gesagt: „Ja, gebt Ihnen das Geld, ganz egal was sie angestellt haben, ganz gleich, ob es ökonomisch sinnvoll ist. Das ist europäische Solidarität, das schulden wir Europa.“ Hätte das die Meinung der Deutschen mehrheitlich umgepolt? Ich glaube nicht.

Man möchte lieber mit jedem Vierjährigen in der Trotzphase diskutieren als mit diesem leitenden „Bild“-Redakteur, aber tatsächlich hält man das ja bei seinem Blatt für die Alternative. Am 3. November veröffentlichte das Blatt einen „Wahlzettel zum Volksentscheid“ mit folgenden Antwortmöglichkeiten:

JA, schmeißt ihnen weiter die Kohle hinterher!

NEIN, keinen Cent mehr für die Pleite-Griechen, nehmt ihnen den Euro weg!

Sie trauen der Überzeugungskraft ihrer eigenen, nun ja, Argumente so wenig, dass sie nicht einmal fair Pro und Contra referieren können.

Das schlimmere Fundamentale steckt allerdings in Blomes als Verteidigung gemeinten Satz, dass „Bild“ die „Griechenland-kritische Stimmung“ ja nicht selbst gemacht hätte. Richtig: Das Ressentiment oder wenigstens der Reflex war sicher schon da. „Bild“ hat es nur gehegt, gepflegt und verschärft, um davon zu profitieren. Je mehr „Bild“ hetzte, um so größer wurde das Ressentiment, und je größer das Ressentiment, umso mehr wurde „Bild“ scheinbar zur Stimme des Volkes.

Man denke sich die Argumentation, dass die Hetze nicht so schlimm sei, weil die kritische Stimmung im Volk doch eh schon vorhanden war, übertragen in die zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Die Juden-kritische Stimmung war schon da.

Blomes Vortrag endet mit den Worten:

Seien Sie froh, dass es uns gibt.

Nachtrag, 20:40 Uhr. Ganz ähnliche Gedanken in den Worten von Stefan Sichermann stehen nebenan im BILDblog.

Und die Eulen wollen wir auch zurück!

Immerhin scheint die Begeisterung in der Jury nicht ungeteilt gewesen zu sein für die fünfteilige „Bild“-Serie, die mit dem oben gezeigten Aufmacher begann und die heute Abend mit dem Herbert-Quandt-Medienpreis ausgezeichnet wird. Jedenfalls gibt sich Stephan-Andreas Casdorff, Chefredakteur des Berliner „Tagesspiegel“, auf meine Bitte, diese Entscheidung zu erklären, betont wortkarg. Und fügt etwas kryptisch hinzu: Das, was sonst ausgezeichnet werde, sei doch hohe Qualität.

Der Quandt-Medienpreis will angeblich Beiträge auszeichnen, die „auf anspruchsvolle, lebendige und allgemeinverständliche Weise das öffentliche Verständnis für die Bedeutung des privaten Unternehmertums und die marktwirtschaftliche Ordnung fördern“. Er legt angeblich Wert auf „sorgfältige Auswahl und Deutung von Fakten“ sowie „Qualität in Sprache, Stil und Allgemeinverständlichkeit“.

Die Artikelserie, für die die „Bild“-Redakteure Nikolaus Blome und Paul Ronzheimer gewürdigt werden, ist nicht so furchtbar, wie die Schlagzeile befürchten lässt. Genau genommen enthält sie auch ganz etwas anders, als die Schlagzeile suggeriert. Sie beschreibt, wie sich die verantwortlichen Politiker in Europa einig waren, dass Griechenland den Euro bekommen sollte, und es deshalb akzeptierten, dass Griechenland seine Zahlen zurechtbog, bis sie passten. Es ist, wenn man so will, die Geschichte eines gemeinsamen Projektes von Betrügern und Leuten, die sich betrügen lassen wollten.

Bei „Bild“ arbeiten durchaus Leute, die in der Lage gewesen wären, auch einen solchen Sachverhalt in eine knackige Schlagzeile gerinnen zu lassen. Das war nicht gewollt. Das hätte nicht in den Erzählstrang gepasst, in den die „Bild“-Zeitung seit über einem Jahr die Schuldenkrise in Griechenland presst. Der reduziert die komplexen Vorgänge auf die einfache Formel eines durch und durch verkommenen südeuropäischen Volkes, das uns korrekte, hart arbeitende Deutsche um die Früchte unserer Arbeit bringt.

Es ist sicher kein Zufall oder gar Versehen, dass „Bild“ auch an dieser Stelle in der Schlagzeile nicht „Griechenland“, „Athen“ oder gar „griechische Politiker“ schreibt — als wäre es die Masse des griechischen Volkes gewesen, die jetzt unter den Sparmaßnahmen leidet, die „uns (!) reingelegt“ hat.

Eine „Enthüllung“ ist die „Bild“-Serie natürlich trotz des Einsatzes einer vermutlich beeindruckend gemeinten Vielzahl von Autoren über weite Strecken nicht. Dass Griechenland nur durch falsche Zahlen die Bedingungen für den Euro-Beitritt erfüllten, ist seit langem bekannt. 2004 gab es die griechische Regierung öffentlich zu. Viele Details, die „Bild“ zu enthüllen vorgibt, erzählte bereits Monate zuvor ein Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

Nun könnte man die Serie dafür loben, dass sie auch Facetten erzählt, die „Bild“ sonst verschweigt. Aber sie wird, schon mit der ersten Schlagzeile am ersten Tag, vollständig in den Dienst der Kampagne gestellt. Es ist eine Kampagne, die der frühere „Bild am Sonntag“-Chefredakteur Michael Spreng als beispiellos seit dem Kampf Springers gegen die Ostverträge bezeichnet. „Bild“ versuchte, „die Leser gegen die Griechen in einer Form aufzuwiegeln, die an Volksverhetzung grenzte“.

Diese Kampagne wurde maßgeblich von den beiden „Bild“-Leuten betrieben, die heute ausgezeichnet werden sollen. Zu dieser Kampagne gehörte es, dass Paul Ronzheimer, ein 25-jähriger Journalist, der sein Handwerk auf der Axel-Springer-Akademie gelernt hat, nach Griechenland reiste und — in den Worten meines Kollegen Michalis Pantelouris:

sich auf dem Athener Syntagma-Platz fotografieren ließ, wie er vor demonstrierenden Menschen, die nicht mehr wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen, mit Drachmen-Scheinen wedelte wie mit Bananen vor Affen im Zoo.

Eine Ahnung von dem Ausmaß und der Niederträchtigkeit der Hetze vermitteln vielleicht diese beiden BILDblog-Einträge.

Nun sagt die Johanna-Quandt-Stiftung, sie habe gar nicht diese „Bild“-Berichterstattung „zu den sogenannten ‚Pleite-Griechen‘ ausgezeichnet“, sondern nur diese fünf Artikel von denselben Autoren, die „sehr faktenstark und an wirtschaftspolitischen Hintergrundinformationen reich“ sei. So einfach kann man es sich natürlich machen.

Roland Tichy, Chefredakteur der „Wirtschaftswoche“, der zweite Journalist in der Jury (der dritte ist HR-Intendant Helmut Reitze), muss da für sich immerhin keine so klare Brandschutzmauer ziehen. Er macht keinen Hehl daraus, dass er kein Problem mit der „Pleite Griechen“-Berichterstattung von „Bild“ insgesamt hat. Er sagt: „Boulevardblätter müssen halt härter hinfassen.“ Und: „Die haben hart zugelangt.“ Und: „Journalismus muss auch mal wehtun.“

„Es gibt“, meint Tichy, „eine Tendenz zu sagen: Man darf die Griechen nicht so hart anfassen. Das sehe ich überhaupt nicht so. Dies ist einer der schlimmsten Fälle von Regierungskriminalität der neueren Zeit. Die Folgen badet Europa in einer Größenordnung von 200 Milliarden Euro aus.“

Tichy scheint die Aufregung zu genießen, die es um die erstaunliche Wahl der Jury gibt. Jede Menge Beschimpfungen habe er bekommen, seit sie bekannt wurde. Er meint, die würden Ursache und Wirkung verwechseln. „Und der Kern der Sache ist in der ‚Bild‘-Zeitung richtig dargestellt.“ Tichy meint auch, dass das „Verhetzungspotential“ der „Bild“-Zeitung geringer sei, als ihr zugetraut werde — weil die „Bild“-Zeitung eher als Unterhaltungsmedium wahrgenommen werde. Und von deren Politikberichterstattung fühlt er sich in der Regel korrekt informiert.

Vielleicht wird es ihn deshalb wundern, dass Yannis Stournaras, der Chefunterhändler Griechenlands bei der Einführung des Euro, dem die „Bild“-Serie eine zentrale Rolle beim Manipulieren der Zahlen zuschreibt, den Autoren diverse Fehler vorwirft. So kenne er etwa Yves Franchet, den französischen Chef des europäischen Statistikamtes, dem er angeblich persönlich die Zahlen lieferte, gar nicht. Auch persönliche Details über ihn seien falsch. Die ganze Untersuchung nennt er „Fiktion“. Es sei ein trauriges Niveau von Journalismus.

Aber gut, der Mann ist Grieche. Und die Faktenliebe von „Bild“ ist legendär.

Aber im Gespräch mit Tichy klingt es, als sei der Preis ohnehin weniger als Auszeichnung für eine journalistische Arbeit gemeint, sondern als politisches Statement. Tichy beklagt, dass die Regierung gravierende Entscheidungen wie über die Rettung Griechenlands am Parlament vorbei entscheide. Es müsse über solche Themen aber eine breite öffentliche Diskussion geben.

Es sei ein Problem, dass es keine „europäische Öffentlichkeit“ gibt, stellt Tichy fest, die grenzüberschreitend solche Debatten führt. Die öffentliche Meinung sei aber entscheidend, um demokratische Machtausübung zu legitimieren, und unentbehrlich in der politischen Willensbildung. Er wird sich in seiner Laudatio heute Abend auf Niklas Luhmann berufen und Jürgen Habermas und Hans-Magnus Enzensberger zitieren, aber inwieweit gerade die „Bild“-Zeitungs-Autoren, die er auszeichnet, mit ihrer Hetze, mit dem unermüdlichen Schüren und Verstärken von Vorurteilen gegen ein ganzes Volk zu einer solchen gemeinsamen Öffentlichkeit beitragen sollen, das sagt er nicht.

„Mittlerweile steht Europa zur Debatte“, sagt Tichy, „das ganze Projekt könnte scheitern.“ Die „Bild“-Zeitungs-Serie sieht er paradoxerweise als einen Beitrag zur Rettung des Projektes, nämlich dadurch, dass sie Transparenz herstelle. Es sei das Verhalten der Regierenden und ihre Verantwortung für das griechische Debakel, das das Vertrauen in die EU und ihre Institutionen erschüttere — die „BIld“-Zeitung sei bloß Überbringer der schlechten Nachricht.

Tichy sagt, die Wirklichkeit habe längst die schlimmsten Schlagzeilen; das rechtfertige im Nachhinein auch die schlimmsten Schlagzeilen. Wie die, dass Griechenland doch seine Akropolis verkaufen sollte — genau darauf laufe es im Moment hinaus. (Nun ja, tut es nicht.)

Die „Bild“-Schlagzeile lautete damals übrigens wörtlich:

DIE REGIERUNG IN ATHEN WILL JETZT KRÄFTIG SPAREN – ABER WAS, WENN DAS NICHT REICHT?

Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen

… UND DIE AKROPOLIS GLEICH MIT!

Wer darin nur die Beschreibung eines angeblich drohenden Szenarios sieht und nicht Verachtung, Häme und die mutwillige Zerstörung jedes Gedankens an ein gemeinsames Europa, ist allerdings eine erstaunliche Besetzung für die Jury eines Journalistenpreises.

Der Quandt-Medienpreis zeichnet heute Abend zwei unermüdliche Hetzer dafür aus, dass sie eine Woche lang geschickt die Methoden wechselten und mit einer ausführlichen, für „Bild“-Verhältnisse fast gründlichen und sachlichen Recherchearbeit ihre Pleite-Griechen-Kampagne zu legitimieren versuchten. Es mag gratulieren, wer will.

Das griechische Wort Tychi bedeutet übrigens „Glück“.

Rückrufaktion für Journalismus

Mitte der neunziger Jahre habe ich als Medienredakteur bei der Zeitschrift „Werben & Verkaufen“ gearbeitet. Es waren knapp eineinhalb Jahre, in denen ich viel gelernt habe, darunter auch, dass ich dort nicht mehr arbeiten möchte.

Die Bedingungen für kritischen Journalismus bei solchen Fachtiteln sind schlecht. Das liegt schon daran, dass die Leute, für die man schreibt, dieselben sind wie die Leute, über die man schreibt, und dieselben wie die Leute, deren Anzeigen die Haupteinnahmequelle darstellen. Um Druck auf Journalisten auszuüben und ungewünschte Berichterstattung zu verhindern, haben die Unternehmen gleich drei Möglichkeiten: Sie drohen damit, einen nicht mehr zu informieren. Sie drohen damit, die Abos zu kündigen. Und sie drohen damit, ihre Anzeigen zu stornieren. Die letzte Variante ist die wirkungsvollste, aber alle drei kommen vor. Und die Mimosenhaftigkeit von Verlagsvertretern und ihre Unwilligkeit, so etwas abwegiges wie kritischen Journalismus zu akzeptieren, muss man erlebt haben, um sie zu glauben.

Man braucht, um in dieser Konstellation mehr zu sein als ein Kuschel- und Verlautbarungsorgan für die Verlage, Sender und Agenturen, einen Chefredakteur mit Rückgrat, der die vielfältigen und bedrohlichen Einschüchterungsversuche abwehrt. Der weiß, dass es zwar kurzfristig existenzbedrohend scheinen mag, sich mit den Verlagen anzulegen, es aber langfristig viel existenzbedrohender ist, nicht das aufzuschreiben, was ist, sondern das, was die Verlage gerne läsen. Solche Chefredakteure sind rar.

Die Fachzeitschrift „Horizont“ hat in dieser Woche eindrucksvoll ihre Rückgratlosigkeit demonstriert. Die Hamburger Korrespondentin Elke Jacob, eine Fachfrau für Mediaplanung (mit der ich mir vor Jahren ein Büro in Hamburg teilte), hatte eine gute Idee für einen Artikel über das bevorstehende Zeitschriftensterben. Bei den mächtigen Mediaplanern, die im Auftrag der Werbekunden entscheiden, wann und wo die Werbung gebucht wird, fragte sie nach, welche Titel ihrer Meinung nach das kommende Jahr nicht überleben werden.

Der Rücklauf war laut „Horizont“ sehr anständig: 14 Mediaplaner nannten die Titel, die sie in der Werbekrise am gefährdetsten halten und begründeten ihre Wahl; drei weitere gaben immerhin besonders bedrohte Zeitschriftensegmente an. Jürgen Blomenkamp, Chef der Düsseldorfer Mediaagentur Group M, erklärte sich sogar bereit, in einem Interview Klartext zu reden. „Das Marktpotenzial könnte in den kommenden fünf Jahren um bis zu 50 Prozent schrumpfen“, sagte er, „mit den entsprechenden Konsequenzen für viele Einzeltitel.“

Der Artikel und die Liste waren fertig. „Horizont“ gab, wie üblich bei mehr oder weniger exklusiven Geschichten, einen Tag vor Erscheinen der Zeitung eine kurze Vorabmeldung heraus. In der wurden auch die drei Titel genannt, die nach Ansicht der Mediaplaner die Schwarze Liste der vom Aussterben bedrohten Titel anführten: „Tomorrow“ (Burda-Verlag), „Bravo Screenfun“ (Heinrich Bauer Verlag) und „Emotion“ (Gruner + Jahr). Eine entsprechende Meldung veröffentlichte die Zeitung auch in ihrem Online-Auftritt:

Die betroffenen Verlage und der Verband der Zeitschriftenverleger (VDZ), der mit „Horizont“ gerade noch eine redaktionelle Sonderbeilage produziert hatte, müssen schockiert und empört auf soviel unabhängigen Journalismus reagiert haben, den sie sonst von der Fachpresse nicht kennen. Offenbar übten sie Druck auf „Horizont“ aus, und „Horizont“ gab dem Druck nach. Die Pressemitteilung wurde zurückgezogen, der Online-Artikel kommentarlos gelöscht, die Produktion gestoppt, der Artikel ausgetauscht. Die aktuelle Ausgabe „Horizont“ erschien deshalb erst heute, einen Tag verspätet.

Dass die Verlage unglücklich sind, wenn einer ihrer Titel auf einer solchen schwarzen Liste steht, kann man verstehen: Schließlich lässt es ein für die Werbewirtschaft ohnehin schon unattraktives Heft noch unattraktiver erscheinen. Aber das müssen sie aushalten. Das nennt man Journalismus.

Die Verlage aber glauben, dass das schlimmste, was man mit Problemen tun kann, ist, sie zur Kenntnis zu nehmen. Wenn man auf einen Abgrund zurast, muss man sich vor allem die Augen zuhalten (und, wenn möglich, noch den mahnenden Rufer am Wegesrand überfahren).

Und „Horizont“? Chefredakteur Volker Schütz hat gegenüber Peter Turi die Rückrufaktion für den Artikel damit erklärt, der Artikel sei „nicht durch die Qualikontrolle“ gegangen und deshalb wieder rausgeflogen — das sei „der normale Redaktionsalltag“. Das ist natürlich nicht die Wahrheit. Nebenbei betreibt Schütz damit auch Rufschädigung, indem er impliziert, die langjährige Autorin Elke Jacob habe einen nicht druckbaren Text abgeliefert. Er beschädigt fahrlässig eine Journalistin, die den Fehler gemacht hat, eine journalistische Geschichte zu schreiben. Soviel zum Thema Rückgrat.

Volker Schütz bemüht sich inzwischen auch an dieser Front um Schadensbegrenzung und erklärt mir gegenüber auf Anfrage: „Elke ist eine unserer erfahrensten, mir persönlich liebsten und besten Mitarbeiter.“ Er bestreitet auch, dass „Horizont“ die Tabelle „erst auf Druck des VDZ, der Verlage oder der ‚Horizont‘-Verlagsleitung gestoppt“ habe: Das sei „wirklich vollkommener Käse“. Die verspätete Rückrufaktion sei die Entscheidung der Chefredaktion gewesen — „sicherlich nach Rücksprache mit Verlagsleitung Markus Gotta“. Schütz‘ Fazit:

„Das Ganze ist bitter, mehr als ärgerlich und hat [Co-Chefredakteur] Herrn Scharrer und mir zwei schlaflose Nächte und ein wahrscheinlich auch eher unentspanntes Wochenende beschert. Punkt. Aber: ‚Horizont‘ wird, auch wenn die Zeiten härter und rauher werden, nicht in Ranküne, Häme oder Print-ist-tot-Kolportage abgleiten, wie es andere machen.“

Das ist, gelinde gesagt, niedlich formuliert angesichts der Art, wie „Horizont“ nun die schmerzhaften Aussagen auf homöopathische Dosis reduziert und in dicke Watteschichten verpackt. Die Zeitung macht nun mit der unendlich nichtssagenden Schlagzeile auf:

Top-Mediaplaner sieht Verlage unter Zugzwang.

Und der Artikel selbst schafft es sogar, die äußerst negative Prognose des Mediaplaners Blomenkamp zunächst ins Positive zu drehen:

Mit einer schonungslosen Analyse des deutschen Printmarkts macht Jürgen Blomenkamp den Verlagen zumindest in einem Punkt Mut. „In der fragmentierten Medienwelt gewinnt die Reichweite wieder an Wert, deshalb haben wir ein großes Interesse daran, dass starke Printtitel bestehen bleiben.“

Der Text ist dann frei von jeder konkreten negativen Titelnennung — allein drei als positive Ausnahmen erwähnte Zeitschriften dürfen namentlich genannt werden.

Nicht, dass das zum Beispiel eine Zeitschrift wie „Bravo Screenfun“ retten wird, deren Anzeigenumfang in den letzten sieben Jahren um 70 Prozent zurückgegangen ist. Die Zahl der verkauften Exemplare ist in den vergangenen drei Jahren um 91 Prozent geschrumpft. Im Schnitt betrug die Auflage im vergangenen Quartal noch 14.602 Exemplare. Es spricht nichts dafür, dass „Horizont“ versucht hätte, gesunde Zeitschriften kaputtzuschreiben.

Es gibt eine schöne, traurige Ironie an der Sache. Man kann die Zitate von Jürgen Blomenkamp auch so lesen, dass Zeitschriften vor allem Relevanz bräuchten, um zu überleben. Die Rückrufaktion von „Horizont“ in dieser Woche war auch ein klares Bekenntnis gegen eigene Relevanz.

[via Turi2]