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Charlie Brooker über Winnenden-TV

Gerade erst gesehen, dass sich auch der britische Fernsehkritiker Charlie Brooker in seiner BBC-Show „Newswipe“ der Berichterstattung über den Amoklauf von Winnenden vorgenommen hat.

Er zeigt unter anderem ein Interview mit dem Psychologen und Kriminologen Park Dietz, in dem der erzählt:

Seit 20 Jahren habe ich zu CNN und den anderen Medien immer wieder gesagt: Wenn ihr nicht dazu beitragen wollt, dass es weiterer Massenmorde gibt, fangt Eure Geschichten nicht mit dem Geheul der Sirenen an, zeigt keine Fotos des Mörders, macht daraus keine 24-Stunden-Live-Berichterstattung, vermeidet es soweit wie möglich, mit der Zahl der Toten aufzumachen, stellt den Mörder nicht als eine Art Anti-Helden dar, macht stattdessen aus der Berichterstattung eine lokale Geschichte für die betroffenen Gemeinden und macht den Fall so langweilig wie möglich für alle anderen Märkte. Denn jedesmal, wenn wir ausufernde, intensive Berichterstattung über einen Massenmord haben, erwarten wir ein oder zwei Nachahmungstäter innerhalb einer Woche.

So, wie Brooker die Sätze geschnitten hat, werden sie allerdings ungleich eindrucksvoller:

Ist es nicht erstaunlich, wie ein ganzer Berufsstand es kollektiv und grenzüberschreitend abzulehnen scheint, Verantwortung für die Folgen seiner Arbeit zu übernehmen?

[via Mind Hacks]

RTL lässt Winnenden-Video löschen

RTL möchte lieber nicht, dass die Menschen sich ein Bild von der journalistischen Kompetenz des Senders machen können, und hat einen Ausschnitt aus „Punkt 12“ bei YouTube entfernen lassen. Er zeigte einen Teil der Live-Berichterstattung vom Amoklauf in Winnenden: Eine hoffnungslos überforderte Reporterin vor Ort plapperte aufgeregt von den vielen „blinkenden Lichtern“ und dem „Chaos vom Feinsten“.

YouTube teilte mir am Dienstagabend mit, man habe den Zugriff auf das Video deaktiviert, „da uns von RTL interactive GmbH gemeldet wurde, dass dieses Material eine Urheberrechtsverletzung darstellt“. Das war insofern überraschend, als RTL zuvor auch auf wiederholte Nachfrage beteuert hatte, man habe nichts damit zu tun, dass bereits eine frühere Fassung dieses Videos bei YouTube entfernt wurde. Das entsprach nicht der Wahrheit.

RTL-Sprecher Matthias Bolhöfer erklärte mir nun auf die neue Sperrung bezogen:

Es ist richtig, dass wir den Beitrag auf You Tube haben löschen lassen, um so die Urheber- und Nutzungsrechte zu schützen. Das ist ein ganz normales Prozedere — in diesem Fall auch vor dem Hintergrund, dass sich die „Panorama“-Redaktion in der vergangenen Woche offensichtlich via You Tube den Beitrag besorgt hat, um die Reporterin noch einmal öffentlich vorzuführen.

Natürlich geht es RTL nicht um die Urheber- und Nutzungsrechte (auf die der Sender ohnehin scheipfeift, wenn es darum geht, private Fotos zum Beispiel von Verbrechens-Opfern zu zeigen). YouTube ist voller Ausschnitte aus RTL-Sendungen, auch von „Punkt 12“, auch vom Tag des Amoklaufs, die der Sender nicht entfernen lässt. Und noch eine Woche zuvor hatte Bolhöfer mir gegenüber auch genau das bestätigt: RTL lasse nur Videos von einer Handvoll Shows wie „Deutschland sucht den Superstar“ systematisch löschen.

Der Verweis auf den „Panorama“-Beitrag sagt alles: Der Ausschnitt, den das ARD-Magazin von dem RTL-Debakel zeigte, ist exakt 14 Sekunden lang. RTL glaubt, „Urheber- und Nutzungsrechte“ geltend machen zu können, um zu verhindern, dass eine selbstverständlich durch das Zitatrecht gedeckte 14-Sekunden-Szene bei der Konkurrenz erscheint.

Treffend ist hingegen die Formulierung, dass „Panorama“ die RTL-Reporterin „noch einmal“ öffentlich vorführte. Denn die ersten, die dies taten, waren die Möchtegernjournalisten des RTL-Magazins „Punkt 12“, die die Entscheidung trafen, dass so ein Amoklauf ein guter Anlass wäre, eine Frau ohne jede Erfahrung live ins Programm zu nehmen — und minutenlang auf dem Sender zu lassen und auch später, als der letzte im Sender gemerkt haben müsste, wie überfordert diese „Reporterin“ war, noch mehrmals zu ihr zu schalten.

Keine Frage, dass es nicht schön ist für die junge Frau, dass so öffentlich offenbar wurde, wie falsch ihre Berufswahl war. Aber bloßgestellt wird durch den Ausschnitt vor allem der Sender — und seine behauptete Informationskompetenz.

Und ich finde, damit muss er leben:

Sevenload: „Punkt 12 in Winnenden“

Nachtrag, 7. April. Dafür, dass RTL zunächst bestritten hat, solche Videos überhaupt zu löschen, sind sie inzwischen erstaunlich fleißig: Auch Sevenload hat den Film nun nach einem Einspruch des Senders gesperrt. Ich denk mir was aus.

Nachtrag, 21. April.

Islamhassender „BamS“-Vize erschreibt sich „herrlichen Shitstorm“ und eine Art Abmahnung

Kommentare müssen polarisieren, subjektiv sein, auch mal wehtun. Nur das macht gute Kommentare aus.

Nicolaus Fest am 28. Mai im österreichischen „Standard“

Der stellvertretende Chefredakteur der „Bild am Sonntag“, Nicolaus Fest, hat heute von Kai Diekmann, dem Herausgeber des Blattes, eine Art öffentliche Abmahnung bekommen. In dem Kommentar, der morgen in der gedruckten „Bild“-Zeitung erscheint und in dem Diekmann den Eindruck erweckt, auch im Namen des Unternehmens Axel Springer zu schreiben, wird Fests pauschale Ablehnung von Islam und Moslems als unvereinbar mit den Grundsätzen der „Bild“-Zeitung und des Verlages dargestellt.

Diekmann schreibt:

Bei BILD und Axel Springer ist (…) kein Raum für pauschalisierende, herabwürdigende Äußerungen gegenüber dem Islam und den Menschen, die an Allah glauben.

Wer eine Religion pauschal ablehnt, der stellt sich gegen Millionen und Milliarden Menschen, die in überwältigender Mehrheit friedlich leben.

Genau solche Auseinandersetzung entlang religiöser Grenzen wollen wir NICHT. Wir wollen sie nicht führen, nicht befördern und nicht herbeischreiben. Denn sie enden immer verheerend – das hat die Geschichte oft genug gezeigt!

All das, was Diekmann da aufzählt, hatte Nicolaus Fest in einem Leitartikel in der heutigen „Bild am Sonntag“ getan. Er schrieb:

Ist Religion ein Integrationshindernis? Mein Eindruck: nicht immer. Aber beim Islam wohl ja. Das sollte man bei Asyl und Zuwanderung ausdrücklich berücksichtigen!

Ich brauche keinen importierten Rassismus, und wofür der Islam sonst noch steht, brauche ich auch nicht.

Deutlicher kann man die pauschale Ablehnung einer Religion und ihrer Gläubigen kaum formulieren. Es geht Fest nicht nur um „Zwangsheiraten, ‚Friedensrichter‘, ‚Ehrenmorde'“, die es im Islam zweifellos gibt. Es geht ihm um den Islam als ganzes. Er geht soweit, zu suggerieren, dass man doch vielleicht das Gewähren von Asyl auf Nicht-Muslime beschränken könnte, was nicht nur viel über sein Bild von Moslems sagt, sondern auch über seine Vorstellung, was das Grundrecht auf Asyl eigentlich bedeutet.

Fests Aufruf zu weniger Toleranz folgt für ihn offenkundig unmittelbar aus dem plakativen Appell der „Bild“-Zeitung am vergangenen Freitag, Antisemitismus in Deutschland nicht schweigend hinzunehmen. Viele Prominente und Politiker hatten sich in die entsprechende „Bild“-Kampagne einspannen lassen. Einzelne davon forderten „Bild“ heute immerhin auf, sich für Fests Äußerungen zu entschuldigen.

Der Grüne Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu nennt den „Bild am Sonntag“-Kommentar Fests in einem Gastkommentar für die morgige „Bild“-Zeitung „Rassismus pur“:

Die Hasstiraden des Autors schüren ohne Not Vorurteile, Ängste und Menschenfeindlichkeit.

Nicolaus Fest hatte sich vorher auf Twitter noch über die Aufmerksamkeit gefreut:

Auch Marion Horn, die Chefredakteurin der „Bild am Sonntag“, hatte Fests Kommentar zunächst noch mit dem Hinweis auf „Meinungsfreiheit bei Springer“ verteidigt und behauptet, Fest sei „kein Islamhasser“ und „nicht hasserfüllt!!!“:

Erst Stunden später schwenkte sie dann auf die Linie Kai Diekmanns um und twitterte:

Warum sie sich bloß für den „entstandenen Eindruck“ entschuldigte und nicht einfach für den Kommentar um Entschuldigung bat, der diesen „Eindruck“ nicht nur provozierte, sondern unzweifelhaft islamfeindlich war, weiß ich nicht.

Dann reden wir mal über Nicolaus Fest. Der Sohn des bekannten früheren FAZ-Herausgebers Joachim Fest arbeitet seit Jahren daran, sich einen Ruf als kompromissloser Hardliner und vermeintlicher „Klartext“-Sager zu erarbeiten, leider bislang ohne die öffentliche Aufmerksamkeit dieses Sonntags.

Die rechte Szene rund um das Hetzblog „Politically Incorret“ hat ihn schon vor Jahren für seine Bild.de-Texte gefeiert. In seiner früheren Kolumne „HIEB- UND STICHFEST“ polemisierte er immer wieder gegen Zuwanderung und Integration von Ausländern in Deutschland. Um aus dem BILDblog von 2008 zu zitieren:

Vorläufiger Höhepunkt war sein Beitrag in der vorigen Woche, in den man, wenn man wollte, fast ein Lob des Völkermordes lesen konnte. Fest rühmt darin die „Vorteile homogener Gesellschaften“ und argumentiert, dass die Beseitigung von kultureller Vielheit Gesellschaften „Frieden und Stabilität“ bringen könne.

Die preisgekrönte Reporterin und Autorin Carolin Emcke urteilt über seinen Text: „Das gab es so explizit wirklich lange nicht mehr zu lesen von Autoren, die nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Es ist ein pseudohistorisch verkleideter Rassismus und eine gar nicht verkleidete Aufforderung zur Homogenisierung unserer offenen Gesellschaften.“

Ihr Gastbeitrag ist gerade auch im Kontext der aktuellen Diskussion um Fest lesenswert. Seine radikalen Ansichten waren kein Geheimnis. Er veröffentlichte sie auf Bild.de.

Nun wäre es falsch, Nicolaus Fest auf seine Ablehnung des Islam zu reduzieren. Man sollte auch seine Kaltblütigkeit und Ahnungslosigkeit würdigen, mit der er die Exzesse der Berichterstattung nach dem Amoklauf von Winnenden verteidigte (in Anwesenheit der Mutter eines der dabei getöteten jungen Frau). Oder die Art, wie er gegen die Resozialisierung ehemaliger Terroristen wetterte.

Fakten sind auch nicht so seins. Oder Textverständnis.

Er formuliert mit einer Schärfe, Gnadenlosigkeit und Übertreibung, die selbst im „Bild“-Kosmos gelegentlich auffällt. Eine spätere Kolumnenreihe von ihm hieß „Fest(e) drauf“.

Vor der Umstellung der Gebühren für ARD und ZDF kündigte er 2010 an, dass das neue System die Zahler jährlich „einige Milliarden mehr“ kosten würde. 2013, als sich herausstellte, dass es tatsächlich Mehreinnahmen in Höhe von 0,3 Milliarden Euro jährlich wurden (die ARD und ZDF nicht behalten bzw. verwenden dürfen), sprach er von einem „Betrug“.

Zur Debatte um die Skandal-Rede von Sibylle Lewitscharoff twitterte er:

Aber das ist natürlich Kinderkram im Vergleich zu seiner Ablehnung von Integration und seinen Ressentiments gegen Moslems. Die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus kann er nicht nachvollziehen. Damit und mit seinem „BamS“-Leitartikel straft er Kai Diekmann Lügen, der behauptet, „für BILD und Axel Springer gab und gibt es bei all diesen Debatten eine klare, unverrückbare Trennlinie zwischen der Weltreligion des Islam und der menschenverachtenden Ideologie des Islamismus“.

Eben nicht. (Den „BamS“-Artikel, der Anlass für den Kommentar ist, erwähnt Diekmann mit keinem Wort.)

Ob Fests Durchbrechen dieser „unverrückbaren Trennlinie“ irgendwelche Konsequenzen hat, wollte Diekmann heute nicht sagen. Meine Feststellung, dass er sich, wenn Diekmann es ernst meinte mit seinem „Kein Platz für“, nun einen neuen Arbeitgeber suchen müsste, konterte Diekmann mit: „So ein Quatsch!“

Nachtrag, 3. August. „Bild am Sonntag“-Chefredakteurin versucht in der heutigen Ausgabe den vielfachen Rittberger:

Es ist der Eindruck entstanden, dass sich BILD am SONNTAG gegen den Islam stellt. Das ist nicht so! Dass dieser Eindruck entstanden ist, bedaure ich sehr. (…)

Aber in unserem Verlag ist es möglich, unterschiedliche Meinungen zu haben. Deshalb habe ich mich als Chefredakteurin für den Abdruck entschieden. Wohl eine Fehleinschätzung, denn wir haben mit diesem Kommentar viele Menschen verletzt. (…)

Ich bitte alle Menschen um Entschuldigung, die sich durch uns gekränkt fühlen.

Mittlerweile bin ich dankbar für die heftigen Reaktionen, die wir ausgelöst haben. In der Öffentlichkeit, in Politik, Verlag, in unserer Redaktion, in unseren Familien. Lange ist über dieses wichtige Thema nicht mehr so offen und kontrovers diskutiert worden.

Vielleicht sorgt unser Kommentar am Ende dafür, dass Missverständnisse ausgeräumt werden und wir lernen, eine offene Debattenkultur zu entwickeln. Das muss unsere demokratische Gesellschaft aushalten, das muss BILD am SONNTAG aushalten.

Wie die Print-Lobby Kinder indoktriniert

Die Bayerische Staatskanzlei hat im Herbst mit einem Pilotprojekt begonnen, das Grundschülern Medienkompetenz beibringen soll: Sie machen einen „Medienführerschein“, den sie in Form einer Urkunde ausgehändigt bekommen.

In der Unterrichtseinheit „Schau genau hin!“ für die dritte und vierte Klasse sollen die Kinder lernen, Nachrichtenwege zu erkennen und zu bewerten. Sie tun das anhand eines Überfalls, bei dem ein Junge auf Rollschuhen einer Frau die Handtasche entreißt. Leon, der kleine Löwe, erforscht mit den Schülern dann, auf welchen Wegen es die Nachricht in die Zeitung und ins Internet schafft. Und mit welchem Ergebnis:

Bernd, der blöde Blogger, hat ungefähr alle Fakten falsch verstanden. Das ist kein Wunder, denn im Internet werden ja, anders als bei der Zeitung, die Informationen vor der Veröffentlichung nicht überprüft. Oder wie es im Begleitmaterial für die Lehrer heißt:

Die Kinder sortieren die einzelnen Schritte der vorgeschlagenen Nachrichtenwege. Danach vergleichen sie: Einmal sind es drei, einmal vier Schritte. Welcher Schritt fehlt bei dem Nachrichtenweg ins Internet im Vergleich zum Weg in die Zeitung? Antwort: Es ist die Überprüfung der Information. Der Journalist hat bei der Polizei nachgefragt, die Fakten gesammelt und erst dann veröffentlicht.

(…)

Beim Blog-Text werden die Informationen ungeprüft ins Netz gestellt. Vielleicht hat Bernd einiges missverstanden oder erinnert sich nicht mehr genau. Fakt aber ist, dass seine Informationen nicht geprüft sind. An dieser Stelle bietet sich auch der Vergleich zu dem Spiel „Stille Post“ an. Auch da gehen Informationen auf dem Weg der Übermittlung verloren. Natürlich können auch Journalisten etwas falsch verstehen. Deshalb können in einer Zeitung ebenfalls fehlerhafte Informationen stehen. Sollte dies vorkommen, werden dort in der Regel aber Falschmeldungen korrigiert.

Am Ende der Unterrichtseinheit können die Kinder bei einem „Quiz für Medienprofis“ zeigen, was sie gelernt haben:

Unter dem Vorwand einer guten Sache, nämlich Kinder dafür zu sensibilisieren, dass nicht jeder Information zu trauen ist und dass Quellen unterschiedlich vertrauenswürdig sind, erzählt der bayerische „Medienführerschein“ ihnen das Märchen von der Überlegenheit gedruckter Nachricht. Es geht nicht nur um den Kontrast professionell ersteller journalistischer Informationen zu privaten Blogs — eine zumindest theoretisch sinnvolle Gegenüberstellung (auch wenn mit spontan gleich mehrere vermeintlich professionelle Medien einfallen, denen ich im Zweifel weniger Glauben schenken würde als einem unbekannten Blog). Die Unterrichtsmaterialen mischen das konsequent mit dem behaupteten qualitativen Unterschied zwischen Print und Online.

Die Rede ist immer wieder vom Nachrichtenweg „in die Zeitung“ im Gegensatz zum Nachrichtenweg „ins Internet“. Auch am Papier soll man also erkennen können, wie vertrauenswürdig eine Information ist. Und mit der anzukreuzenden Aussage „Jeder kann im Internet schreiben, was er will“ wird die Mär vom Internet als rechtsfreier Raum schon Drittklässlern vermittelt.

Wobei nicht alles, was online steht, schlecht sein muss. Das Begleitmaterial behauptet:

Informationsseiten von Zeitungen oder Sendeanstalten unterliegen dem Presserecht (Sorgfaltspflicht der Presse) und sind daher in der Regel geprüft.

Vielleicht könnte man die Kinder im Rahmen des „Medienführerscheins“ einmal suchen lassen nach den Korrekturen, mit denen Journalisten, wenn sie etwas falsch verstanden haben, ihre Fehler „in der Regel“ richtigstellen. Oder Leute fragen, die versucht haben, eine solche Korrektur durchzusetzen. Vielleicht ist das aber auch erst etwas für die fünfte oder sechste Klasse.

„Schau genau hin!“ heißt die Lerneinheit. Zu ihren ehrenwerten Zielen gehört es, dass die Kinder (jedenfalls im Internet) auf den Urheber einer Nachricht achten sollen, um die Glaubwürdigkeit von Informationen bewerten zu können. „Firmen verfolgen eigene Interessen“, warnt das Begleitmaterial, „und werden vor allem sich selbst oder ihre Produkte ins rechte Licht rücken.“

In der Tat. Herausgeber der Unterrichtseinheit ist übrigens zufällig der Verband Bayerischer Zeitungsverleger (VBZV). Ich hoffe, Kinder und Lehrer schauen genau hin, entdecken dessen kleines Logo auf der Titelseite und denken sich ihren Teil, was von dieser Printpropaganda zu halten ist.

[via Ulrich Fries und seine Eck.Dose]

Nachtrag, 2. Februar. Gunnar Sohn hat erfolglos versucht, eine Stellungnahme der Bayerischen Staatsregierung zu bekommen, hörte aber nur vom Verlegerverband:

Um 17,30 Uhr rief mich der VBZV-Geschäftsführer Dr. Markus Rick an. Die Printlastigkeit der Broschüre könne nicht überraschen, da ja der VBZV der Herausgeber sei. Das ist nachvollziehbar. Da das Projekt aber modular aufgebaut sei, würden auch die anderen Medienformate nicht zu kurz kommen. Die Staatskanzlei hatte die Initiative für einen Medienführerschein wegen mehrerer Vorkommnisse gestartet. Dazu zählt auch der Amoklauf von Winnenden. Hier sah die Landesregierung politischen Handlungsbedarf. Mittlerweile lägen Erfahrungen mit dem Medienführerschein in 30 Pilotschulen vor und man werde das Projekt auf freiwilliger Basis ausweiten. Steuergelder wurden dafür nach Angaben von Rick nicht in Anspruch genommen. Das wird über die Zeitungsverlage finanziert. Das Printmodul sei dem Kultusministerium vorgelegt und geprüft worden. Es würde den Lehrplänen der dritten und vierten Klasse entsprechen. Die Darstellung der Bloggerwelt hält Rick für eine pointierte Verkürzung. Als zentrale Botschaft soll vermittelt werden, dass es sich bei der Zeitung um ein geprüftes Produkt handeln würde.

Observationen am offenen Herzen

Manches ethische Dilemma löst sich in der praktischen journalistischen Arbeit wie von selbst. Als der „Stern“ im Juni vergangenen Jahres die über 200 Opfer des abgestürzten Airbus 447 im Bild zeigte, konnte das Blatt nach den Worten von Chefredakteur Andreas Petzold schon deshalb nicht die Genehmigung von Angehörigen oder Urhebern einholen, weil die Zeit dafür bis zum Redaktionsschluss viel zu knapp war. Und zeigen musste der „Stern“ die ganzen Opfer im Bild, weil er seinen Lesern laut Petzold nur so das ganze Ausmaß der Tragödie deutlich machen konnte.

Es ist vermutlich ein Fortschritt, dass der „Stern“-Chefredakteur sich überhaupt zu solchen Themen äußert. Im Zusammenhang mit dem Amoklauf von Winnenden hatte das Magazin Fragen nach der Herkunft der gezeigten Opferbilder und dem Einverständnis der Angehörigen noch mit dem Hinweis abgebügelt: „Zu Redaktions-Interna erteilen wir keine Auskunft.“

Aber seit der „Stern“ im Frühjahr berichtet hat, mit welchen Methoden eine Agentur für die „Bunte“ das Privatleben von Politikern ausgespäht hat, ist das Magazin in der unwahrscheinlichen Rolle des Verteidigers journalistischer Standards. Und so ritt Petzold auf einem sehr hohen Ross in eine Diskussion über „Grenzen der Recherche im People-Journalismus — Anforderungen an eine ‚lautere‘ Recherche“, zu der der Deutsche Presserat am Mittwoch in Berlin geladen hatte.

Es war ein Gipfel der Heuchler.

Patricia Riekel erklärte noch einmal, warum es ein öffentliches Interesse daran gegeben habe, Franz Müntefering auszuspionieren. (Das Wort „ausspionieren“, das Petzold benutzt hatte, verbat sich Riekel empört. Sie hätten „recherchiert“.) Dass der SPD-Politiker mit einer vierzig Jahre jüngeren Frau zusammen sei, mache „veränderte Akzeptanzen über Partnerschaften deutlich“, das seien Fragen, die „gesellschaftspolitisch relevant“ seien. Außerdem erinnerte sie daran, dass Müntefering sich zuvor aus der Politik zurückgezogen hatte, um seine schwer kranke Frau zu pflegen. „Wenn ein Spitzenpolitiker mit einer so emotionalen Entscheidung an die Öffentlichkeit geht, öffnet er auch sein Herz, und das Publikum schaut hinein“, sagte Riekel. „Und dieses Interesse bleibt bestehen.“

Riekel forderte zu unterscheiden zwischen dem, was man recherchieren darf, und dem, was man veröffentlich darf. Sie betonte, dass die „Bunte“ die bereits vorher ausgekundschaftete Beziehung von Müntefering erst öffentlich gemacht habe, als er selbst mit der Frau öffentlich aufgetreten sei. „Es darf keine Vorzensur geben, wenn einer Redaktion ein Verdacht oder ein Gerücht bekannt wird.“

Die Richtlinien zur Ziffer 4 des Pressekodex, auf die sich Riekel berief, erlaubt die „verdeckte Recherche“ nur im Einzelfall, „wenn damit Informationen von besonderem öffentlichen Interesse beschafft werden, die auf andere Weise nicht zugänglich sind“. Aber was sind Informationen von besonderem öffentlichen Interesse? Hans Leyendecker von der „Süddeutschen Zeitung“ nannte als Beispiel das Thema Tiertransporte, bei dem anders als durch Undercover-Recherche die wichtigen Informationen nicht beschafft werden könnten. Riekel erwiderte, sie persönlich interessiere sich auch sehr für Tiertransporte, „aber es gibt Menschen, die interessieren sich nun mal für andere Menschen. Das sei eine Frage des Standpunktes.“

Sie blieb dabei: Eine „Vorrecherche“ bei Gerüchten müsse in jedem Fall möglich sein. (Auf spätere Nachfrage stellte sich heraus, dass sich eine „Vorrecherche“ von einer „Recherche“ dadurch unterscheidet, dass sie bei der „Bunten“ so genannt wird.)

Nicolaus Fest aus der „Bild“-Chefredaktion überraschte Riekel und Publikum mit der Aussage, sein Blatt wäre Müntefering nicht wegen seiner neuen Liebe nachgestiegen. „Ich weiß nicht, was die politische Dimension dieser Geschichte sein soll. Es gab keine Protektion, es ist reine Privatsache.“ Die Rede kam auch auf den Fall des CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer: Die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, dass es erlaubt war, seine Verhältnis zu einer Freundin, die auch ein Kind von ihm erwartete, öffentlich zu machen, weil Seehofer mit seinem intakten Familienleben Wahlkampf gemacht hatte und der Lebenswandel den Ansprüchen einer christlichen Partei widersprach. „Würden wir das auch bei einem Politiker machen, der freie Liebe propagiert“, fragte Fest und antwortete mit Nein.

Ein besonders bizarrer Nebenstrang der Diskussion beschäftigte sich mit freien Mitarbeitern. Die Diskussion um die Frage, welche Grenzen bei der Recherche des Privatlebens von Politikern im Auftrag von „Bunte“ überschritten wurden, wird nämlich dadurch erschwert, dass die Illustrierte die Recherche (oder, wie sie sagen würde: „Vorrecherche“) an eine dubiose Agentur outgesourct hatte. Deshalb ist umstritten: Was die „Bunte“ genau gewusst hat über das Vorgehen der Agenturleute, inwieweit sie dafür verantwortlich ist, aber auch, inwiefern schon die Auslagerung der Recherche ein Problem ist.

Riekel betonte, auf Outsourcing könne heute generell nicht verzichtet werden, aber die Freien müssten sorgfältig ausgesucht und kontrolliert werden. Die „Bunte“ erarbeite gerade eine Art Verhaltenskodex, in dem sich die Freien zu „korrekten Recherchemethoden“ verpflichten. Riekel hielt schon in ihrem Einführungsstatement ein ebenso flammendes wie rätselhaftes Plädoyer für die „30.000 Freelancer“, die „nicht besser oder schlechter“ arbeiteten als festangestellte Journalisten. „Der Status entscheidet nicht über die Qualität eines Journalisten“.

Beim „Stern“ sieht man das anders. „Das Kerngeschäft darf man nicht outsourcen“, forderte Petzold. In Bezug auf investigative Recherchen sagte er: „Jeder freie Mitarbeiter, den ich beschäftige, erhöht das Risiko.“

Nicolaus Fest hatte in der Diskussion neben Riekel und Petzold lange Zeit fast vernünftig und seriös gewirkt (er wies Petzold darauf hin, dass Freie vor allem bei Spezialthemen oft über Kontakte verfügten, die die Redaktion nicht habe, und formulierte in Bezug auf Recherchemethoden: „Der Zweck heiligt das Mittel, aber der Zweck muss stimmen“). Sein seinem Wesen eher entsprechende Einsatz kam erst, als es um Nicht-Prominente ging, um Menschen, deren Fotos Medien veröffentlichen, weil sie Opfer von Unglücken oder Verbrechen geworden sind. Zur „Love Parade“ sagte er: „Die Leute, die dahin gingen, sind zu einem hohen Teil von Exhibitionismus oder Voyeurismus getrieben.“ Er verstehe nicht das „merkwürdige Missverhältnis“, dass Menschen, die kein Problem haben, fotografiert zu werden, wenn sie dort ihre Brüste entblößen, andererseits nicht gezeigt werden wollen, wenn der Anlass ein „journalistischer“ ist, weil sie nämlich zum Opfer des Unglücks wurden. Er beklagte hier eine „Instrumentalisierung des Persönlichkeitsrechtes wie bei Prominenten“: Man sei mit der Veröffentlichung von Fotos einverstanden, „solange es schöne Fotos sind“.

Den Leitfaden, den der Presserat gerade zur Berichterstattung über Amokläufe vorgelegt hat [pdf], nannte Fest „außerordentlich problematisch“. Er stößt sich schon am ersten Satz in der ersten Empfehlung, wonach die Redaktion „sorgfältig zwischen dem öffentlichen Interesse an dem Geschehen und den Persönlichkeitsrechten des Täters abwägen“ müsse. Fest hält eine solche Abwägung für absurd: Der Amoklauf bringe ein öffentliches Interesse mit sich wie kein anderes Verbrechen. Über den Täter soll man teilweise nur anonymisiert berichten dürfen, auf die Nennung von persönlichen Details über die Opfer soll ganz verzichtet werden: „Das ist ein massiver Eingriff in das Berichterstattungsrecht“, sagte Fest.

Bei allen Meinungsunteschieden — die Argumentationsmuster von Riekel, Fest und Petzold ähnelten sich frappierend: Wenn ihre spezielle Form der Sensationsberichterstattung nicht erlaubt sei, könne man gar nicht berichten und der Journalismus sei insgesamt bedroht. Natürlich konnte sich auch keiner von ihnen zu einem klaren Bekenntnis dazu durchringen, auf die ungenehmigte Verwendung von Privatfotos aus sozialen Netzwerken zu verzichten. Nach zwei Stunden Diskussion blieb der Eindruck: Journalistische Ethik ist für sie nicht mehr als der nachträgliche Versuch, Entscheidungen zu rechtfertigen, die man unter dem Druck von Zeit und Konkurrenz und nach dem Kalkül der Steigerung von Auflage und Aufmerksamkeit trifft.

Zum Glück war dann da aber noch Jürgen Christ, ein freier Fotograf aus Köln und ein Mann, dem Sonntagsreden fremd zu sein scheinen. Er achte „peinlich genau“ darauf, die Gesetze einzuhalten — „aber nur aus praktischen Gründen“, um keinen Ärger mit der Justiz zu bekommen. „Jemandem mit dem Auto zu verfolgen, ist doch nichts verwerfliches“, sagte er, und auch am Anmieten einer gegenüberliegenden Wohnung zur Observation konnte er nichts verwerfliches finden — ob der Pressekodex solche „verdeckte Recherche“ nun in der Regel untersagt oder nicht. Dass die Beschatter von Müntefering einen Bewegungsmelder in die Fußmatte einbauen wollten, fände er hingegen „nicht gut“: Es gebe doch praktische Kameras mit Bewegungsmelder!

Fröhlich erzählte er, wie er versucht hatte, ein Foto von dem Chefs eines Spendenvereins mit dessen Luxuswagen zu bekommen. Als tagelanges Observieren nicht half, bat er einen Taxifahrer, ganz dicht am Wagen vorbeizufahren, dann an der Tür zu klingeln und zu sagen, er habe da vielleicht eine Schramme verursacht. Der Mann hat zwar nur seinen Assistenten nach unten geschickt. Aber er hat aus dem Fenster geguckt, und Christ hatte sein Foto.

„Für wen arbeiten Sie so“, fragte Patricia Riekel ihn und kannte die Antwort natürlich. „‚Spiegel‘, ‚Focus‘, ‚Stern‘, ‚Bunte’…“

Der Nepp mit dem „Killer-Spiel-Killer“ von „Stern TV“

Die Geschichte ist ein Traum: Ein junger Mann aus der Provinz erfindet ein Programm, auf das die Welt gewartet hat. Eltern können damit endlich nachgucken, was ihre Kinder wirklich an Computerspielen auf ihren Rechnern installiert haben, und die bösen oder nicht altersgerechten Sachen mit einem Mausklick von der Festpatte löschen lassen.

Der Held muss natürlich, wie es in solchen Geschichten ist, erst gewaltige Widerstände überwinden. Keiner will ihm helfen, viele verstehen ihn nicht. Die Sache schleppt sich über Jahre hin und kostet ein kleines Vermögen. Aber seine Familie steht ihm bei, und am Ende hat er geschafft und eine Software auf den Markt gebracht, die die Welt ein bisschen besser macht.

Die Leute von „Stern TV“ erzählen diese Geschichte in ihrer Sendung am 9. Juni ungetrübt von jeder journalistischen Distanz. Es ist ein insgesamt fast 18-minütiger redaktioneller Werbeblock für das Programm namens „Neoguard 2010“. Günther Jauch moderiert es an als eine „bemerkenswerte Entwicklung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen und zum Aufatmen der besorgten Eltern“. Der Filmemacher Peter Schran hat den Programmierer Stefan Stein über längere Zeit begleitet und schwärmt von dessen „Vision“: „die fortschreitende Macht digitaler Monster in den Kinderzimmern bändigen“. Der Off-Sprecher sagt:

Es klingt nach der lang ersehnten Superwaffe für leidgeprüfte Eltern. Nur eine CD einlegen, zwei, drei Eingaben und die verbotenen Spiele werden enttarnt.

Dem „Tüftlersohn“, dessen Mutter als Sozialpädagogin an einer Hauptschule täglich mit der Problematik konfrontiert werde, fehlt es nicht an Selbstbewusstsein: Er führt vor, wie leicht die vermeintliche Jugendschutz-Sperre an der X-Box zu überlisten sei, und erklärt, dass sein eigenes Programm nicht so einfach zu knacken sein werde. Weltweit gebe es kein ähnliches System – wenigstens sei ihm keines bekannt. Als das Bundesfamilienministerium seine Bitte um Hilfe ablehnt, klagt er: „Ich blick nicht, warum die Leute nicht verstehen, was ihnen da an die Hand gegeben werden könnte.“

Im Studio lässt sich Günther Jauch von Stefan Stein vorführen, wie leicht die Software zu bedienen ist – und wie gut sie angeblich funktioniert. Bei einem Test findet sie zwar nur neun von zehn Spielen, die die Redaktion installiert hatte, aber das sei „ein Superergebnis“, findet Jauch. 25 Euro soll das Programm kosten, aber die Redaktion von „Stern TV“ hat für ihre Zuschauer noch ein Zusatzangebot: Kostenlos lässt sich auf der Sendungsseite im Internet eine eigene, abgespeckte Version herunterladen. Sie nennt sich „Stern-TV Spiele-Scanner“, trägt unübersehbar das bekannte Logo und kann zwar die gefundenen Programme nicht löschen oder namentlich auflisten, aber sie zählen.

Jauch erklärt den Zuschauern:

„Das heißt, Sie können dann zu Ihrem Kind gehen und sagen: Pass mal auf, du hast die hier installiert, was sind das für Spiele, was machst du damit, mach die bitte weg etc. Und wenn Sie dann dem Kind am Ende nicht glauben oder wenn das sozusagen sich dauernd wiederholt, dann, würde ich sagen, nehmen wir [Stefan Steins] Luxus-Software und dann können Sie selber gucken, können’s löschen und kriegen’s dann vor allen Dingen sauber aufgeführt, wie diese ganzen Spiele heißen.“

Offenkundig erwartet die Redaktion einen größeren Ansturm auf das von ihr als Wunderwaffe dargestellte kostenlose Produkt. Jauch sagt:

„Machen Sie sich keine Sorgen, wenn das jetzt in der Nacht zusammenbricht. Das ist lang genug auf unserer Seite drauf, die nächsten Tage und Wochen auch.“

Der junge Mann werde in der Redaktion der „Killer-Spiel-Killer“ genannt, verrät Jauch. „Das ist ’ne tolle Idee“, sagt er noch zu ihm. „Herzlichen Glückwunsch!“

Die Reaktionen unter vielen Computerspielern waren deutlich weniger euphorisch, dafür aber häufig amüsiert. Einer nach dem anderen prahlte in einschlägigen Foren, wie viele der bei ihm installierten Spiele das vermeintliche Wunderprogramm nicht fand. Innerhalb kürzester Zeit hatten die Profis dokumentiert, wie lücken- und fehlerhaft die Datenbank mit den Spielen und ihren Altersfreigaben sei, und wie kinderleicht sogar der grundsätzliche Mechanismus des Programms überlistet werden könne. Kaum eine Behauptung der Hersteller hielt einer Überprüfung stand. Auch die Redaktion der Zeitschrift „PC Games“ berichtete auf ihrer Internetseite am Tag nach der „Stern TV“-Sendung von „ernüchternden Ergebnissen“.

Die Nachrichtenagentur epd und andere Medien hingegen sprang ungefähr gleichzeitig auf den Werbezug auf. „Der Killerspiele-Killer fürs Kinderzimmer – Ein neues Programm kann jugendgefährdende Spiele auf dem PC finden und löschen“, lautet die Überschrift eines längeren epd-Berichts. Er erzählte ebenfalls die Entwicklung des Programms als langjährige Heldengeschichte – hier kostete die Entwicklung sogar „knapp 100.000 Euro“. Bei „Stern TV“ war nur von 60.000 bis 70.000 Euro die Rede gewesen. Im epd-Bericht erhielt das Produkt zudem prominente Unterstützung: die Sprecherin des Aktionsbündnisses Amoklauf Winnenden sagte, das Programm sei die einzige (!) Möglichkeit, gegen altersindizierte Spiele aus dem Internet vorzugehen.

Auch Bild.de war begeistert:

Dass darauf nicht schon längst jemand gekommen ist: Eine neue Software kann jugendgefährdende Spiele auf dem PC finden und löschen. „Neoguard 2010“ verbannt so „Killerspiele“ aus dem Kinderzimmer. Der 28-jährige Hagener Stefan Stein hat das Programm entwickelt. Die Anwendung: kinderleicht!

Doch wer die überall angegebene Internet-Adresse aufruft, unter der das Zauberwerkzeug zu beziehen sein soll, findet heute nur eine leere Seite; auch die Homepage der Firma ist verschwunden. Der Server sei massiven Attacken ausgesetzt gewesen, sagt Stefan Stein auf Nachfrage. Und jetzt arbeite er mit einem Team erst einmal an einer neuen, erweiterten Version der Software, bei der auch ein „technisches Problem“ ausgeräumt werden soll, das aufgetreten sei, und wolle sich dabei keinen zu engen Zeitrahmen setzen. Nach den Sommerferien sei „Neoguard“ vermutlich verfügbar. Zu den akribisch dokumentierten Vorwürfen, was alles an seinem Programm nicht funktioniere, will er sich „zum jetzigen Zeitpunkt“ nicht äußern. Auch auf die Frage, wie es eigentlich zu der erstaunlichen Kooperation mit „Stern TV“ kam, möchte er nicht antworten – das müsse man schon bei dem RTL-Magazin erfragen.

Dort ist man allerdings auch wortkarg, was das Thema angeht. Andreas Zaik, der Leiter der Sendung, erklärt „auf dem Weg ins Wochenende“ auf detaillierte Fragen nur kurz: „stern TV hat den „Spielescanner“ wegen technischer Probleme vorübergehend vom Netz genommen. Dies wird bis zu deren Klärung und Behebung auch so bleiben.“

Tatsächlich führen die Links auf die Seite mit dem Download ins Leere. Und auf der Archivseite der Sendung ist jeder Hinweis auf den sensationellen „Spiele-Scanner“ nachträglich beseitigt worden. Nach all der wortreichen Werbung für das Produkt schenkt „Stern TV“ seinen Zuschauern und all den Eltern, die hofften, einen Schlüssel zum Säubern des Computers ihrer Kinder gefunden zu haben (wenn sie sie überhaupt ins Zimmer lassen), nicht ein einziges Wort der Erklärung, warum das Programm mit einem Mal verschwunden ist.

Viele Fragen sind noch unbeantwortet. Aber es scheint, als wäre das Programm bestenfalls gut gemeint, aber in vielfacher Hinsicht ungeeignet, Kinder und Jugendliche von nicht altersgerechten Computerspielen fernzuhalten. Die Geschichte war wirklich ein Traum – für und von Journalisten.

Elisabeth Noelle-Neumann, brontal

Die ernsthaften Nachrufe auf Elisabeth Noelle-Neumann stehen anderswo, aber ich habe mich gestern wieder an das mit Sicherheit erstaunlichste Interview erinnert, das sie in ihrem Leben gegeben hat. Erkan & Stefan hatten 2002 für ihre Pro-Sieben-Sendung „Headnut.TV“ dem britischen Komiker Ali G. nachgeeifert und Gespräche mit Experten geführt, denen anzusehen war, dass sie bis zuletzt nie sicher waren, ob es sich um einen Witz handelte oder um die verstörende Art junger Menschen aus irgendeiner Subkultur, heutzutage miteinander zu kommunizieren. Sie fragten den Kunsthistoriker: „Koksen – hilft das beim Malen?“ und den Astrophysiker aus der DDR: „Warum heißt der Mond Trabant? Man könnte ihn ja auch BMW nennen!“

Mit der damals 85-jährigen Professorin sprach der damals 22-jährige Erkan über Meinungsforschung — und sie schlug sich in dieser kaum zu gewinnenden Situation bewundernswert wacker:

Erkan: Jo, jetzt wird’s kompliziert. Paßt du auf! Beispiel: Isch weiß ganz genau, daß die Juleila auf mich stehen tut. Aber was sie sonst für Meinung hat … keine Ahnung. Steht sie mehr auf tiefergelegte BMW? Und auf kraß aufgebaute goldene 500er S-Klasse, ja? Keiner weiß, was unterm Brain, unter dem Kopftuch von der Juleila abgehen tut. Außer der Frau Doktor Professor Noelle-Neumann, weil sie ist kraß Meinungsforscherin, und sie kennt jede krasse Meinung. Stimmt’s, Frau Dr. Noelle-Neumann. Kraß willkommen! Erste Frage: Was ist Ihre Meinung?

Noelle-Neumann: (Zögert lange.) Wenn ich so allgemein gefragt werde, da bin ich schon stolz darauf, überhaupt eine Meinung zu haben.

Cool. Wie funktioniert das mit der Meinungsforschung überhaupt?

Wir interessieren uns nicht für die einzelnen Menschen. Wir interessieren uns für den sogenannten repräsentativen Querschnitt.

O.k., dann machen wir Querschnitt. Wir machen 19 Jahre alt, blond, gut gebaut, Single.

Das ist kein Querschnitt. Querschnitt heißt, eine Gruppe von Personen, zum Beispiel tausend, die genau so zusammengesetzt sind wie die ganze Bevölkerung.

O.k.: Tausend 19jährige Blondinen, Rothaarige, Schwarzhaarige, gut gebaut, Single.

Wo finden Sie denn das? Da muß man ja lange nach suchen, nach so einem Idealmuster von Frau.

Tja, willkommen im Club! – Wie wollen Sie das verändern, daß die Leute, die Sie befragen tun, daß die lügen tun?

Das Herrliche ist: Lügen ist so anstrengend. Lügen Sie mal! Probieren Sie das mal.

Isch kann das ganz gut. Isch schwöre! Weil, Wahrheit sagen ist ja voll langweilig. Lügen ist viel cooler.

Ich muß sagen, viel, viel langweiliger ist es, sich irgendwas ausdenken zu müssen für nichts und wieder nichts.

Isch lüg‘ schon, wenn ich ein Bunny ins Bett kriegen will. Dann lüg‘ isch sie halt voll, daß sie voll süß ist, voll sexuell und so, und dann funktioniert das.

Vielleicht wechseln wir das Thema?

O.k. Es gibt ja auch Meinungsforscher, die foltern tun, ja? Verfälscht das die Meinung?

Was tun diese … Meinungsforscher?

Foltern. Damit die Leute, wenn die sagen, isch will nicht reden oder so. Wenn sie sich weigern, was zu verraten.

Dann sollten sie einen anderen Beruf ergreifen und nicht Meinungsforscher sein.

Vielleicht macht’s ja Spaß.

Nein.

Fragen Sie mich mal was!

Glauben Sie, daß es mehr dankbare oder undankbare Menschen gibt?

Coole Frage … (überlegt): Ja.

Was denn – mehr dankbare oder mehr undankbare?

Ach so, ist ’ne Entweder-Oder-Frage, oder? Isch glaube, es gibt mehr dankbare Menschen.

Also der allgemeine Querschnitt sagt, es gibt mehr dankbare Menschen.

Cool. Sehen Sie, ich hab‘ gelogen, isch glaub‘ nämlich, daß mehr undankbar sind.

Ja also.

Das haben Sie also gewußt.

Ich möchte sagen, lügen Sie ruhig noch ein bißchen mehr.

Wieviele Meinungen gibt es so ungefähr?

Meinen Sie zu einem Thema?

Mehr so generell, wieviele Meinungen es gibt.

Da könnten Sie mich genauso fragen: Wieviel Fliegen gibt’s denn in der Welt?

Tja, die Stubenfliege, dann gibt es noch die Mistfliege, die Eintagsfliege … also mir fallen jetzt drei Stück ein. – Wenn jetzt einer die brontal falsche Meinung hat, was machen Sie mit dem?

Also jetzt nehmen Sie mal an, der ist vielleicht ein Anhänger von Wowereit…

Das ist der Rapper, oder?

Was?

Wowereit.

Wowereit?

Der Rapper?

Bitte?

Der Rapper? Der Rapper: N-tss-n-tss-n-tss. Wowereit. Der DJ. Rapper.

Also das ist offenbar zu kompliziert.

Cool.

Was ist das Gegenteil von cool?

Schwul.

Naaa. Kann nicht sein.

Doch, man sagt ja: Der hat eine coole Karre, einen coolen Style, und der hat einen schwulen Style.

Aha. Da sehen Sie mal: Wie gut, wenn ich frage und nicht Sie.

Isch würde jetzt gerne aufhören, wie ist Ihre Meinung dazu?

Nichts lieber als das.

[Mit Dank an Murmel Clausen für den Screenshot!]

Ich notorischer Urheberrechtsverletzer

YouTube hat meinen Account gelöscht. Damit sind all die schönen Videos, die ich für das Fernsehlexikon hochgeladen habe, verschwunden. Das kam nicht ganz überraschend: Kurz zuvor hatte das Portal zum zweiten Mal ein von mir hochgeladenes Video gelöscht, weil ich damit angeblich möglicherweise gegen das Urheberrecht eines Fernsehunternehmens verstoßen hätte. Wenn das passiert, schickt YouTube eine Mail, in der es unmissverständlich heißt:

Dies ist die zweite Urheberrechtsbeschwerde zulasten deines Kontos. Eine einzige weitere Beschwerde führt zur Kündigung deines Kontos. Wenn du dies vermeiden möchtest, lösche sämtliche Videos, an denen du keine Rechte besitzt, und lade in Zukunft keine Videos mehr hoch, die die Urheberrechte anderer verletzen. Weitere Informationen zu den Urheberrechtsrichtlinien von YouTube findest du in den Tipps zum Urheberrecht.

Ich war also gewarnt. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass der Sender ProSieben (oder genauer: sein Vermarkter Seven One) kurz darauf nach über einem Jahr daran Anstoß nehmen würde, dass ich Ende 2008 einen 24-sekündigen Ausschnitt aus dem damaligen Jahresrückblick von „Switch Reloaded“ bei YouTube hochgeladen hatte. Es handelte sich um eine kurze Szene mit der Parodie, in der Elke Heidenreich Marcel Reich-Ranicki von der Bühne schlägt — mit einem leicht veränderten Exemplar des „Fernsehlexikon“, das ich mit Michael Reufsteck geschrieben habe.

Das ist ein interessanter Fall. Natürlich besitze ich keine Rechte an dieser Szene und darf sie deshalb eigentlich nicht bei irgendwelchen Videoportalen hochladen. Andererseits hatte ich das Video in einen Blogeintrag eingebettet, der sich mit dem Gezeigten beschäftigt, wodurch der Gebrauch durch das Zitatrecht gedeckt wäre. Wiederum andererseits sieht man das aber dem Video selbst nicht an, das ja ausschließlich aus dem Inhalt von ProSieben besteht. (Ob es den Sendern wirklich hilft, wenn sie jeden vermeintlich illegalen 24-Sekunden-Mitschnitt ihrer Programme auf YouTube sperren lassen, ist eine andere Frage, aber die Sender sind gerade so sensationell unentspannt, was ihr Leben in der veränderten digitalen Welt angeht, dass Prinzip im Zweifel immer vor Pragmatismus geht.)

Die beiden ersten Videos hatte RTL sperren lassen. Das erste war die Szene aus dem RTL-Mittagsmischmagazin „Punkt 12“, in der eine Reporterin live vom Amoklauf in Winnenden berichtete („hier blinken die Lichter“, „Chaos vom Feinsten“). Anfang Januar ließ RTL dann das auch das ebenso typische wie unwürdige Ende der letzten „Oliver Geißen“-Talkshow löschen. Mag sein, dass der Ausschnitt mit über dreieinhalb Minuten Länge nicht mehr wirklich als Zitat durchgeht. Aber für mich war das auch ein fernsehhistorisches Dokument — und ich würde wetten, dass RTL auch einen Ausschnitt von dreieinhalb Sekunden Länge nicht hingenommen hätte.

Komisch, davon hört man gar nichts, bei all dem Gejammer der Sender über den massenhaften „Diebstahl“ ihrer Inhalte: dass sie längst sehr effektiv und rücksichtslos jeden fremden Gebrauch ihres Materials auf den Videoplattformen verhindern, auch den legalen.

Für das Fernsehblog der FAZ habe ich vor ein paar Wochen ein Video angefertigt und (auf einem anderen YouTube-Account) hochgeladen, das demonstriert, um welchen winzigen Ausschnitt RTL eine Folge von „Deutschland sucht den Superstar“ für die Nachmittagswiederholung gekürzt hatte. Der Sender hatte behauptet, von den Jugendschützern der Landesmedienanstalten für eine Szene kritisiert worden zu sein, die am Nachmittag gar nicht zu sehen war — eine Lüge. In dem einminütigen Ausschnitt war zu sehen, dass all das, was die KJM gerügt hatte, auch in der kürzeren Version vorkam.

Nun ist es gar nicht leicht, Videos, die in irgendeiner Form Inhalte von „DSDS“ enthalten, überhaupt bei YouTube hochzuladen. Durch eine clevere Technik werden sie sofort als RTL-Inhalte identifiziert. Ich musste ausdrücklich bestätigen, dass und warum ich der Meinung bin, sie trotzdem veröffentlichen zu dürfen, und eine „Erklärung in gutem Glauben“ unterzeichnen. Das tat ich — und trotzdem blieb das Video nicht lange online. YouTube teilte mir nach ein paar Stunden mit, RTL habe mein Video „geprüft“ und seine „Ansprüche auf den gesamten Content oder Teile davon erneut bestätigt“. Mein Video sei „folglich weltweit gesperrt“.

Beim deutschen YouTube-Möchtegern-Konkurrenten Sevenload ist alles noch schlimmer. Hier hatte ich das Video hochgeladen, nachdem YouTube es gelöscht hatte. Hier musste RTL nicht einmal einschreiten — Sevenload sperrte es von sich aus. Bei Sevenload bekam ich auch keinen Hinweis per Mail, sondern musste mich einloggen, um die vage klingende und offenbar hastig formulierte Nachricht zu finden:

Hallo fernsehblog,
dein Bild/Video ‚Jugendschutz bei DSDS‘ wurde gesperrt, weil sie gegen unsere Richtlinien (Nutzungsbedingungen) verstößt. Aus diesem Grund ist diese Datei nur noch für dich sichtbar. Falls es sich um ein Missverständnis handelt oder du fragen hast, kontaktiere bitte unseren Support.
%suporterName [sic!]

Der Support ließ sich nicht überzeugen, dass die Verwendung der nachbearbeiteten RTL-Inhalte durch das Zitatrecht gedeckt sein könnte. Sevenload hat sich auch bei den Videos, mit denen das Forum call-in-tv.net die frappierenden Merkwürdigkeiten in den Abläufen von Call-TV-Sendungen dokumentiert, als dafür untaugliche Plattform erwiesen. Ein bizarrer Versuch von Sevenload vor eineinhalb Jahren, sich unter der Marke „watchblog-tv“ als unwahrscheinlicher Kämpfer für kritischen Medienjournalismus zu etablieren, verendete nach wenigen Tagen, sobald das PR-Geklingel vorbei war.

Video-Portale wie YouTube haben es Unbefugten viel leichter gemacht, das Material der Sender zu verbreiten. Aber sie haben es den Sendern auch viel leichter gemacht, die Verbreitung ihres Materials zu kontrollieren und zu unterbinden. Und es reicht offenbar, dass ein Sender behauptet, dass ein Verstoß gegen das Urheberrecht vorliege, um ein Video sperren zu lassen.

Ich versuche schon seit längerer Zeit, eine allgemeine Aussage von RTL zu bekommen, welchen Bedingungen ein Video genügen müsste, das sich mit dem RTL-Programm auseinandersetzt und den Gegenstand auch dokumentiert, um nach dem Verständnis des Senders zulässig zu sein und nicht von den Videoplattformen gelöscht zu werden. Eine wirkliche Antwort habe ich nie bekommen. Vermutlich hat der Sender gar kein Interesse, sie zu formulieren. Da sitzen irgendwo vermutlich Studenten oder Praktikanten, die routinemäßig die Videoplattformen abgrasen und alles löschen lassen, wo das RTL-Logo in der Ecke klebt. Dass das deutsches Urheberrecht keineswegs jede Verwendung und Weiterverarbeitung von RTL-Inhalten ausschließt, wird dem Sender egal sein. Zum Zitatrecht hat er ohnehin ein gespaltenes Verhältnis.

Wer keine Möglichkeit hat, ein Video auf einem eigenen Server zu veröffentlichen, dem bleibt mit etwas Glück ein Trick: Bei ihren eigenen Plattformen „Clipfish“ (RTL) und „MyVideo“ (ProSieben) nehmen es die Sender nicht so genau mit ihrem Urheberrecht. Es ist natürlich ein bisschen gewöhnungsbedürftig, sich ausgerechnet in die bunte Trashhölle eines Angebotes wie „Clipfish“ zu begeben. Aber das Video von dem RTL-Debakel in Winnenden, das der Sender vergessen machen wollte und überall sonst löschen ließ, lebt dort schon seit einem Dreivierteljahr unbehelligt vor sich hin.

Die Frau, die nicht Frau von der Leyen ist

In ein paar Stunden wird Frank-Walter Steinmeier sein Wahlkampfteam vorstellen, und die Frau, die für die Familienpolitik zuständig sein soll, wird aller Voraussicht nach Manuela Schwesig heißen.

Manuela Schwesig ist seit vergangenem Oktober Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern, und ihr größter Vor- und Nachteil ist, dass sie noch kein Mensch kennt. (Vielleicht ist das in Wahrheit auch nur ihr zweitgrößter Vor- und Nachteil, und ihr tatsächlicher größter Vor- und Nachteil ist, dass sie so gut aussieht, aber das ist jetzt gar nicht das Thema*.)

Um den Menschen eine solche Unbekannte vorzustellen, oder genauer: anstatt den Menschen eine solche Unbekannte vorzustellen, bekommt sie von den Medien sogleich ein Label oder eine Schublade, und der „Spiegel“, der Frau Schwesig passend zu ihrer Bundes-Premiere in dieser Woche einen Tag lang begleiten durfte, hatte gleich eine naheliegende Kurzformel gefunden und sie direkt in die Überschrift geschrieben: „Die Anti-von-der-Leyen.“ Inhaltlich belegt der Artikel die Behauptung, die darin steckt, zwar nicht so recht. Eigentlich besteht der politische Gegenentwurf im „Spiegel“ nur aus einem Satz: „Dass [Schwesig] aber das Gefühl habe, bei all dem Geburtenratensteigern gerate anderes aus dem Blick: die Kinderarmut, die Probleme Alleinerziehender, die mangelnde Bildung schon bei den Jüngsten.“

Aber es gibt ja eine viel offenkundigere und eingängigere Art des Anti-von-Leyenismus: die Biographie. Der „Spiegel“ schreibt:

Schwesig ist für Ursula von der Leyen eine durchaus ernstzunehmende Gegnerin, sie ist ihr erster leibhaftiger Gegenentwurf. 35 Jahre alt, ostdeutsch, ein Kind, sozialdemokratisch. Von der Leyen ist 50 Jahre alt, westdeutsch, sieben Kinder, konservativ.

Ihr erster leibhaftiger Gegenentwurf? Nun gut. Das erschien am Montag.

Am Dienstag berichtete das „Hamburger Abendblatt“ über das Schattenkabinett Steinmeiers und das „Engagement“ der „bis dato weithin unbekannten 35-jährigen Manuela Schwesig“ — einer Frau, von deren Existenz der Autor vermutlich auch erst durch den „Spiegel“ erfahren hat:

Die Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern soll das Gegenmodell zur beliebten CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen geben. Lange hatte die Parteiführung nach einer geeigneten Kandidatin für diesen Job gesucht. Schwesig ist alleinerziehende Mutter eines zweijährigen Sohnes, sie steht anders als von der Leyen nicht für eine konservative heile Welt. Ob das reicht, um den in den Umfragen taumelnden Genossen Auftrieb geben zu können, wird aber bezweifelt.

Die Logik ist von erschütternder Schlichtheit: Als sei es etwas Bemerkenswertes, dass nicht schon die bloße Tatsache, dass die Schattensozialministerin „nicht für eine konservative heile Welt“ steht, die SPD aus dem Getto einer 20-Prozent-Partei befreit. Der Text ist auch merkwürdig reaktionär in der Art, wie er schon aus dem Fehlen eines Ehemannes eine nicht-heile Welt im konservativen Sinne konstruiert. (Es sei denn, man geht davon aus, dass außer einem Mann auch noch 1 bis 6 Kinder fehlen.)

Der „Abendblatt“-Text hat aber ein größeres Problem: Es heißt Stefan, ist seit neun Jahren Manuela Schwesigs Mann und wähnte sich bis Dienstag glücklich verheiratet.

Was tat der Autor, nachdem er auf den Fehler hingewiesen wurde? Er ließ das Wort „alleinerziehend“ unauffällig aus der Online-Version seines Textes löschen. Und, immerhin: Die Zeitung druckte am Mittwoch eine Korrektur, in der sie darauf hinwies, dass die Sozialministerin in Wahrheit verheiratet sei.

Ohne dieses, nun ja: Detail wirkt die Argumentation des „Abendblatts“ zwar noch verwegener. Aber das wäre ja nur dann ein Problem, wenn die Argumentation auf den Fakten aufbauen und daraus Schlussfolgerungen ziehen würde — und nicht von der Behauptung des Gegensatzes ausgehen und sich dann entsprechende (Schein-)Belege zurechtsammeln würde.
 

*) „Financial Times Deutschland“: „Die 35-Jährige Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern wird in Schwerin als ‚Deutschlands jüngste und schönste Ministerin‘ gefeiert.“ — dpa: „Jung, Frau, Mutter, Ostdeutsche und dazu noch ausgestattet mit einem gewinnenden Lächeln. Es dürften zunächst wohl diese offenkundigen Eigenschaften gewesen sein, die Manuela Schwesig auf die Liste möglicher Mitglieder im Schattenkabinett von SPD- Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier brachten.“ — „Der Spiegel“: „Es ist ein schwüler Sommertag, sie trägt die blonden Haare offen, sie ist sehr hübsch. Vermutlich spricht sie deswegen besonders ernst und bedacht. Das Schöne und die Politik sind einander häufig feind.“

Rechtsfreie-Zonen-Dialektik

(…) Im Internet darf es keine rechtsfreien Zonen geben. (…) Ungenehmigte Nutzung fremden geistigen Eigentums muss verboten bleiben. (…)

(Resolution mehrerer deutscher Großverlage, darunter Axel Springer und
Gruner+Jahr, 8. Juni 2009.)

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Beim Amoklauf am 11. März haben Petra und Uwe Schill ihre Tochter Chantal verloren. Immer noch erleben sie, wie Medien und Bilderhändler über das Bild ihrer Tochter verfügen, das ein Schulfotograf im Jahr 2008 aufgenommen hatte. Der „Stern“ hatte sich das Foto beschafft. Später tauchte es in „Emma“ auf, und die Agentur „ddp“ bietet es immer noch zahlenden Kunden zum Abdruck an. (…)

Der „Stern“ hat schon viel Verstecktes ans Licht der Öffentlichkeit gebracht, aber auf welchen Kanälen er Privatfotos von Mordopfern bezieht, das hält er geheim. Ein „Stern“-Fotoredakteur verweist auf seinen Chef. Der Chef verweist auf „die Chefredaktion“, ohne eine Telefondurchwahl herauszurücken. „Die Chefredaktion“ meldet sich am Telefon und erklärt, dass Anfragen nur schriftlich beantwortet werden. „Zu Quellen, die der Stern bei seinen Recherchen benutzt, sagen wir aus grundsätzlichen Schutzgründen nichts“, schreibt dann Katharina Niu im Auftrag der Chefredaktion.

Der „Stern“ ist unter Fotografen bekannt dafür, dass er immer den Bildnachweis abdruckt, den Fotografen und die Agentur nennt. Nur diesmal will die Chefredaktion denjenigen schützen, der die Bilder besorgt hat. Wovor eigentlich? Schämt sich jemand? Ist etwas illegal an diesen Bildern? (…)

Den Handel mit Bildern von Jugendlichen, die ermordet wurden, hält niemand auf.

(„Winnender Zeitung“, 30. Mai 2009.)