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Die Ostblock-Mafia-Mär lebt!

In diesem Jahr sind die Kollegen aber besonders früh dran mit ihren zusammenfantasierten Geschichten von der Dominanz der osteuropäischen Länder beim Eurovision Song Contest. „Welt Online“ schreibt:

Osteuropa fordert Lena Meyer-Landrut heraus

Der Eurovision Song Contest findet zwar in Oslo statt, doch auch in diesem Jahr wird der Wettkampf von Osteuropa geprägt sein. Im ersten Halbfinale setzten sich vor allem ost- und südosteuropäische Vertreter durch. Neben Lena Meyer-Landrut treten nur wenige Westeuropäer auf.

Ähnlichen Unsinn verbreitet dpa.

Nun. Hier kann man sich ansehen, welche Länder bislang fürs Finale qualifiziert sind. Es sind sechs osteuropäische Länder (Albanien, Weißrussland, Bosnien-Herzegowina, Moldau, Russland, Serbien) und neun westeuropäische Länder (Belgien, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Island, Norwegen, Portugal, Spanien, Großbritannien). Und dpa titelt: „Mehr Osteuropäer im Eurovision-Finale“?

Auch die Behauptung, es hätten sich im ersten Halbfinale „vor allem ost- und südosteuropäische Vertreter durchgesetzt“, ist irreführend. Denn es sind von vornherein viel mehr ost- als westeuropäische Länder angetreten! Von den 11 Teilnehmern aus dem Osten kamen 6 ins Finale (54 Prozent); von den 6 Teilnehmern aus dem Westen kamen 4 ins Finale (66 Prozent). Und auch wenn man Griechenland zu Osteuropa zählt, haben sich die Westeuropäer in diesem Halbfinale verhältnismäßig knapp besser geschlagen.

Jetzt kann man all diese Rechnungen natürlich für frucht- bis sinnlos halten. Aber abgesehen davon, dass ich das Thema mit einer gewissen Leidenschaft verfolge, ist der Fall ein vergleichsweise harmloses, aber sehr anschauliches Beispiel dafür, wie Berichterstattung von eigenen Erwartungen, von Vorurteilen, Ressentiments und gefühlten Wissen bestimmt wird — und nicht von Tatsachen.

Das deutsche Nachrichtenpublikum glaubt an die Existenz eines Ostblocks. Also bekommt es ihn auch.

  • Besser gelaunte Videoberichte vom Grand Prix von Lukas und mir täglich unter Oslog.tv.



Die Mär vom Ostblock beim Grand-Prix (4)

Auch wenn es diesmal schwer ist, das schlechte Abschneiden von Ländern wie Deutschland oder Großbritannien beim Eurovision Song Contest auf den bösen Osten zu schieben: Die Mär vom Ostblock, von benachbarten und befreundeten Ländern, die sich unabhängig von der Qualität der Beiträge gegenseitig die Punkte zuschanzen, ist nicht tot zu kriegen.

Ich habe deshalb, wie im vergangenen Jahr, einmal errechnet, wie der Wettbewerb ausgegangen wäre, wenn man die osteuropäischen und westasiatischen Punkte aus der Wertung nimmt. Das Ergebnis ist verblüffend. Tatsächlich hätte es Russland dann nicht geschafft, sondern wäre nur auf Platz 5 gelandet. Aber stattdessen gewonnen hätte …

… Armenien!

(Und Deutschland läge — ohne Punkte aus Bulgarien — ganz allein auf dem letzten Platz.)
 

Fiktiver Platz Land Punkte* Tatsächl. Platz
1 Armenien 103 4
2 Griechenland 103 3
3 Norwegen 94 5
4 Ukraine 92 2
5 Russland 88 1
6 Türkei 68 7
7 Island 62 14
8 Portugal 62 13
9 Serbien 60 6
10 Bosnien-Herzeg. 57 10
11 Lettland 54 11
12 Spanien 53 16
13 Dänemark 44 15
14 Israel 42 9
15 Schweden 38 18
16 Aserbaidschan 35 8
17 Rumänien 33 20
18 Frankreich 25 18
19 Georgien 23 11
20 Albanien 22 16
21 Finnland 22 22
22 Polen 14 24
23 Großbritannien 14 25
24 Kroatien 8 21
25 Deutschland 2 23
*) Die Punkte beruhen auf den Wertungen von Andorra, Belgien, Zypern, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Island, Irland, Israel, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Spanien, Schweden, Schweiz, Türkei, Großbritannien und San Marino.

Die These vom Ostblock beim Grand-Prix beruht auf einem doppelten Wahrnehmungsfehler.

Erstens verändern die tatsächlichen Sympathie- und Nachbarschaftspunkte kaum das Gesamtergebnis. Kroatien zum Beispiel hat gestern von seinen Nachbarn Slowenien und Bosnien-Herzegowina die meisten Punkte bekommen. Da es aber von ungefähr nirgends sonst Punkte gab, war das folgenlos.

Und zweitens gibt es eine psychologische Täuschung: Wenn es vermeintliche Freundschaftspunkte gibt, fällt es uns auf, aber nicht, wenn es sie nicht gibt. Norwegen bekam extrem viele Punkte von den Kollegen aus Schweden, Dänemark und Island. Ein klarer Beweis für skandinavischen Zusammenhalt? Eher nicht — Schweden zum Beispiel bekam aus Dänemark, Island und Norwegen deutlich weniger Punkte. Bei aller nachbarschaftlichen Sympathie bleibt es offenbar ein Votum für den jeweiligen Auftritt.

Wie sehr ein flüchtiger Blick auf die Punkte täuschen kann, zeigen die baltischen Länder. In diesem Jahr trugen sie erheblich zum russischen Sieg bei: alle drei gaben 12 Punkte. Klar, sagt Peter Urban dann, in allen drei Ländern leben sehr viele Russen. Das stimmt, ist aber nicht entscheidend. In den vergangenen Jahren waren Estland, Lettland und Litauen nämlich meistens extrem knauserig mit Punkten für den großen verhasssten Nachbarn. Nur 2006 gab es schon einmal ähnlich viele Punkte von den Balten für die Russen: Es war das Jahr, in dem ebenfalls Dima Bilan für Russland antrat. Die genaue Analyse lässt kaum einen Zweifel: Nicht die Nachbarschaft oder irgendein Gemauschel ist der Grund für die vielen Punkte in diesem Jahr, sondern die Tatsache, dass Bilan auch in den Nachbarländern Russlands ein Star ist. Aber natürlich ist es einfacher, vom westlichen Verliererplatz aus ahnungslos „Schiebung!“ zu rufen.

Übrigens hätte sich das Gesamtergebnis in diesem Jahr auch dann nicht wesentlich verändert, wenn nur die Länder, die es ins Finale geschafft hatten, dort stimmberechtigt gewesen wären — eine Variante, die auch immer mal wieder ins Gespräch gebracht wird.

Natürlich kann man jetzt wieder alle möglichen Änderungen der Spielregeln diskutieren, wie es Peter Urban schon in der Sendung andeutete. Einen legitimen Anlass dafür gibt es aber nicht. Vielleicht diskutieren wir dann lieber gleich die einzig ehrliche Regel, dass Deutschland unabhängig von der Qualität des Beitrages aus jedem Land mindestens sechs Punkte bekommen muss. Falls auch das nicht reicht, das Zuschauervotum in Deutschland anzuerkennen, lässt sich die Zahl in den Folgejahren ja bis auf zwölf erhöhen.

Lesetipp: Irving Wolther bei „Spiegel Online“ zum selben Thema

Die Mär vom Ostblock beim Grand-Prix (2)

Das ist eine eindrucksvolle Karte, die der Popkulturjunkie da veröffentlicht hat. Sie zeigt die 16 erstplatzierten Länder des Eurovision Song Contest 2007:

Was die Karte aussagt, scheint klar: Wir können uns den Wettbewerb auch sparen, die Osteuropäer schanzen sich die Stimmen eh nur gegenseitig zu.

Nun ja. Das hier ist die Karte mit den 16 erstplatzierten Ländern des Eurovision Song Contest 2006:

Der Eindruck, dass jedes Jahr die gleichen gewinnen, ist also absurd. Der „Ostblock“, der alles dominiert, ist ein Phänomen dieses Jahres, keine generelle Entwicklung. Bislang jedenfalls nicht. Kann natürlich sein, dass sich das ändert.

Ich gebe (anders als vorgestern) zu: Der Song Contest hat ein Problem. Aber ich glaube, es ist vor allem ein Problem der Wahrnehmung, weniger der Tatsachen. Da ist zum Beispiel dieses in vielen Kommentaren mitwabernde Gefühl, dass „wir“ keine Chance mehr hätten in diesem Wettbewerb, weil die Osteuropäer sich gegenseitig alle Stimmen geben. Schaut man sich die Punktevergabe an, ist klar, dass Roger Cicero auch bei einem rein westeuropäischen Wettbewerb keine Chance gehabt hätte: Deutschland bekam keine Punkte aus Belgien, keine aus Frankreich, keine aus Irland, keine aus Norwegen, keine aus Portugal, einen aus Großbritannien. Dass die vier großen westeuropäischen Länder (und Haupt-Geldgeber) geballt hinten liegen, hat mit Osteuropa nichts, aber wirklich: gar nichts zu tun. Ihre Lieder sind nirgends in Europa gut angekommen.

Die These von den sich bevorzugenden Nachbarstaaten erklärt auch nicht, warum Serbien mit einigem Abstand gewonnen hat, es aber kein anderes Land des ehemaligen Jugoslawiens auch nur unter die Top-10 schaffte. Ich glaube, die Leute wählen nicht automatisch ihre Nachbarn. Ich glaube, sie wählen überwiegend das, was ihnen am besten gefällt. Und dass das möglicherweise nicht mehr das ist, was „uns“ Westeuropäern am besten gefällt, weil sich der Schwerpunkt Europas und noch viel mehr der Schwerpunkt des Song Contest nach Osten verlagert hat, ja, das ist nunmal so. Aber noch einmal: Uns Westeuropäern hat auch nicht gefallen, was Großbritannien, Irland, Spanien, Frankreich, Deutschland da ins Rennen schickten.

Ich glaube, das wahre Problem des Grand-Prix ist ein anderes. Dadurch, dass jetzt 42 Länder abstimmen durften, zersplittert sich die Meinung dramatisch. Jedes Land findet irgendetwas anderes gut. Diesen merkwürdigen Effekt früherer Jahre, dass Europa sich mit großer Mehrheit auf ein Lied als das Siegerlied verständigt, aus welchen irrationalen Gründen auch immer, den gibt es nicht mehr. Der Gewinner Serbien hat im Schnitt 6,5 Punkte aus jedem Land bekommen. Das ist lächerlich wenig. Russland hat es mit gerade einmal drei Bestnoten auf den dritten Platz geschafft. Die ersten drei, Serbien, Ukraine, Russland, haben jede Menge Null-Punkte-Voten bekommen. Es sind zuviele Länder dabei, als dass es einen echten Trend geben könnte, eine wirklich europäische Entscheidung. (Erinnert sich zum Beispiel jemand an die Olsen-Brüder aus Dänemark? Die hatte vorher kaum jemand auf der Rechnung, aber sie sind auf einer Sympathiewelle aus ganz Europa geschwommen.)

Ist eigentlich jemandem aufgefallen, dass eine andere Grand-Prix-Mär der letzten Jahre gestern widerlegt wurde? Hatten „wir“ „unser“ schlechtes Abschneiden nicht auch jahrelang damit erklärt, dass der Song Contest offenbar zu einer Veranstaltung verkommen sei, bei der man sich dreimal umziehen, wild tanzen, trommeln und feuerspucken muss? Könnte man sich daraufhin bitte nochmal den gestrigen Sieger ansehen?

Ich bleibe dabei: Der Grand-Prix mag egal sein, schrecklich, albern, kurios. Berechenbar ist er nicht.

Nachtrag: Daniel Haas hat für Spiegel Online eine wunderbar kluge und bissige Analyse geschrieben.

Die Mär vom Ostblock beim Grand-Prix

Ich kann sie nicht mehr hören, die Leier, dass aus dem Grand-Prix der East Eurovision Song Contest geworden sei, bei dem sich nur noch Kleinstaaten von kurz vorm Ural gegenseitig die Punkte zuschustern und man als Westeuropäer überhaupt keine Chance hat.

Erstens langweilt sie mich.

Zweitens ist sie falsch. Wer hat denn im letzten Jahr gewonnen, mit großem Abstand? Wie passen Lordi mit ihrem Monsterrock und Finnland als relativ geschwisterloser Staat fern des Balkans in diese These? Wie kommt es, dass nicht dauernd ein Land aus dem ehemaligen Jugoslawien gewinnt; dass — genau genommen — noch nie ein Land aus dem ehemaligen Jugoslawien gewonnen hat? Dass gestern auch Kroatien und Montenegro rausflogen? Vor ein paar Jahren, als nacheinander Estland und Lettland gewannen, schrieben alle: Ja, bravo, dann wird der Grand-Prix jetzt ne baltische Veranstaltung. In Wahrheit schneiden Estland, Lettland und Litauen sehr unterschiedlich ab, selten gut, mal schafft es einer von ihnen halbwegs nach vorne, mal ein anderer. Wieso schafft es Schweden seit zehn Jahren, fast ohne Ausnahme unter den Top-Ten zu landen? Ach: Das ist dann nicht die Ost-, sondern die Nordeuropa-Connection? Und warum profitiert dann Dänemark so nachhaltig nicht von ihr?

Drittens finde ich sie anmaßend und chauvinistisch. Nach was sehnen wir uns denn zurück? Den alten Grand-Prix Ralph Siegelscher Prägung? Ist es schlimm, dass es den nicht mehr gibt? Der Schwerpunkt Europas hat sich nach Osten verlagert, politisch und kulturell, Berlin liegt plötzlich nicht mehr am Rand, sondern irgendwie in der Mitte. Aber wir ertragen es nicht, dass wir damit nicht nur ein paar schöne neue Reiseländer vor der Haustür haben, sondern sich auch der Durchschnittsgeschmack nach Osten verlagert hat?

Ja: Die osteuropäischen Länder haben es etwas leichter. Weil sie in der Überzahl sind. Und auch, weil es eine große nachbarschaftliche Verbundenheit gibt. Aber entscheidend sind diese Freundschaftspunkte nicht. Man wühle sich durch die Tabellen der letzten Jahre (der Song Contest ist schließlich mindestens so sehr ein Fest der Statistik wie der, äh, Kultur): Es gibt keine Dominanz des Balkans. Es gibt keine quasi-gesetzten Länder. Es ist für westeuropäische Länder nicht unmöglich, weit vorne zu landen. Und osteuropäische Geschmacksverirrungen siegen nicht zwangsläufig über westeuropäische Geschmacksverirrungen. Wer in den vergangenen Jahren vorne mitspielen wollte, musste den Nerv ganz Europas treffen. Und die Veranstaltung mag nach Osten gerückt und in mancher Hinsicht abwegiger geworden sein, aber vorhersagbarer wurde sie kein Stück. Monster aus Finnland. Umzieh-Latin aus Lettland. Feuer-Trommel-Tanz-Gewirbel aus der Ukraine. Opa-Duo aus Dänemark. Funk aus Estland. Kommerz-tauglicher Pop aus der Türkei.

Wo ist das Problem?

Die Grenzen der Grenzen (im Firefox)

Zwischendurch eine technische Frage für Freunde der Unwägbarkeiten von HTML und CSS.

Ich habe hier nebenan wieder einmal mit vielen mir meist unbekannten Menschen ein Mahnmal gegen das Kommentieren in Blogs aufgebaut, und wie sehr die Diskussion ausgeufert ist, kann man schon daran sehen, dass sie keine Grenzen mehr hat. Also, die beiden grauen Linien, die die Spalte mit den Einträgen und Kommentaren sonst einrahmen, reichen nicht mehr bis ganz oben und unten. Jedenfalls im Firefox unter Windows.

Das ist schon häufiger passiert und lässt sich zum Beispiel auch auf fernsehlexikon.de sehen, wo der linke und rechte Farbhintergrund in Wahrheit auch Rahmen sind — die bei sehr langen Seiten im Firefox plötzlich nicht mehr die Seite füllen und blöd in der Mitte herumhängen.

Kann es sein, dass es im Firefox eine Höchstlänge für border gibt? Und wenn ja, kennt jemand einen Trick, das zu umgehen?

Nachtrag, 14:25 Uhr: Hat sich erledigt, Ingo sei Dank!

Belgrad Calling

Herr Heinser, Sie haben sich alle 43 Teilnehmer des Grand-Prix 2008 vollständig angehört. Wie würden Sie diese Erfahrung beschreiben?

Es war ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber eine große Herausforderung für einen einzelnen Menschen mit nur zwei Ohren.

In Belgrad wird schon seit Tagen geprobt, in Deutschland ist die Jagdsaison für Käseigel eröffnet und zwischen Baltikum und Kaukasus macht man sich bereit, sich die Punkte schneller zuzuschanzen, als man „Ostblockmafia“ sagen kann: Es ist Grand-Prix-Zeit!

Nach dem neuen Modus müssen sich alle Länder außer den vier großen Geldgebern (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien) und dem Vorjahressieger (Serbien) erst in einem von zwei Halbfinals für das Finale am Samstag qualifzieren. Im ersten Halbfinale am Dienstag dürfen auch die deutschen Fernsehzuschauer mitstimmen.

Wenn es einen neuen Trend gibt in diesem Jahr (neben dem weiteren Vormasch von dramatischen Balladen mit osteuropäischem Gefühl), dann ist es der zu gewolltem Trash (im Gegensatz zu dem unfreiwilligen, unvermeidlichen Trash, der seit Jahrzehnten elementarer Bestandteil des Grand-Prix ist). Die Masse des Feldes aber teilt sich ungefähr gleichmäßig auf in weniger oder weniger geglückte Versuche, internationale Poptrends zu kopieren, und eigenartige Kompositionen, die man nur beim Eurovision Song Contest zu hören bekommt, was ebenso für wie gegen die Veranstaltung spricht. Vom singenden Truthahn (Irland) über Dschinghis-Khan-Wiedergeburten (Lettland), einen Opernsänger (Rumänien), harte Rocker in Leder (Finnland) bis hin zur Hiphop-Reggae-Pop-Fusion (Bulgarien) ist gegen jeden Geschmack etwas dabei.

Lukas von Coffee & TV und ich haben uns auch dieses Jahr vorab durch die Videos der Teilnehmer gekämpft und versucht, die Spreu von der anderen Spreu zu trennen. Unseren großen Grand-Prix-Führer 2008 finden Sie hier (nicht erschrecken: mit Fotos!).

Beim britischen Buchmacher William Hill liegen aktuell übrigens Russland, Serbien, die Ukraine und Armenien vorne und Deutschland weit abgeschlagen im Mittelfeld, aber das muss nichts zu bedeuten haben.

Und hier ist ein erstes Votum der Jurys aus Bochum und Berlin:
 

Bochum Berlin
Titel, die man sich wirklich anhören kann Schweiz Serbien
Dänemark Moldau
Frankreich Kroatien
Favoriten Schweden Serbien
Polen Albanien
Kroatien Rumänien
So schlecht, dass es schon wieder gut ist Belgien Bulgarien
Andorra Schweden
Malta Malta
Nur schlecht Island Zypern
Lettland Lettland
Spanien Weißrussland

Sendetermine:
1. Halbfinale: Dienstag, 21 Uhr, NDR-Fernsehen
2. Halbfinale: Nacht auf Freitag, 0.45 Uhr, NDR-Fernsehen (Aufzeichnung)
Finale: Samstag, 21 Uhr, Das Erste

Die Videos aller Kandidaten kann man sich auf der offiziellen Seite eurovision.tv ansehen.

Die Esten werden die Ersten sein

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Vor dem Grand Prix: Besuch bei einem ehrgeizigen Volk.

Es ist, selbst wenn die örtliche Jugend gerade auf Knien und Skateboards die Rampen herunterrast, ein magischer Ort. Die Sonne taucht ihn in ihr besonderes, klares Licht, mit dem sie den Norden Europas dafür entschädigt, daß sie sich hier so selten blicken läßt. Ein steinernes Auge ragt vor der Küste aus dem Boden, starrt einen Rasenhang an, und die Dimensionen sind so gewaltig, daß man ins Grübeln kommen kann, auf welche Seite die Zuschauer gehören und auf welche die Akteure. Im Zweifelsfall läßt sich das eh nicht trennen. Ende der achtziger Jahre versammelte sich die halbe estnische Bevölkerung und lauschte nicht nur, wie es Tradition war, einem Wettstreit ihrer Chöre, sondern sang gemeinsam die verbotene Nationalhymne, um gegen die sowjetische Besatzung zu protestieren. Die „singende Revolution“.

Wer in der Hauptstadt Tallinn auf dem Sängerfeld steht, das englisch „Song Contest Grounds“ heißt, der ahnt, was es gerade für die Esten bedeutet haben muß, den „Song Contest“ der Eurovision gewonnen zu haben.

Schöne Idee, so aus der Ferne. Leider nur haben für die Esten der Schlager-Grand-Prix und die baltische Chorwettstreit-Tradition so viel gemein wie Ralph Siegel mit moderner Popmusik: nichts. Trotzdem hatte das Fernsehereignis selten für ein Land eine solche Bedeutung wie in diesem Jahr für Estland. Heute läßt sich kaum noch unterscheiden, was wirklich geschah, nach jenem Überraschungssieg im vergangenen Jahr, und was sich durch aufgeregtes Weitererzählen auf der Straße und in den Medien schon zum Mythos verklärt hat: Ist die Zustimmung der Esten zum Beitritt in die EU in der Woche nach dem Erfolg tatsächlich um zehn Prozent gestiegen? Hat ein Politiker den jubelnden Massen zugerufen: „Endlich haben wir Rußland besiegt?“ Glauben die Esten wirklich, daß sie drei schicksalhafte Aufgaben vor sich haben: den Beitritt in die EU und Nato und die Ausrichtung des Grand Prix?

Womöglich stimmt es sogar, daß der frühere Ministerpräsident Mart Laar in den Siebzigern die Show in Grand-Prix-Clubs im finnischen Fernsehen sah, als Fenster zur Welt und revolutionären Akt, weil das natürlich verboten war. Aber für die Masse der Menschen in Estland hatte der Song-Contest auch keine größere Bedeutung als bei uns. Die bekommt er erst jetzt. Die Regierung beteiligt sich mit mehreren Millionen Euro an den Kosten, weil sie weiß, daß so viel Aufmerksamkeit für ein kleines Land unbezahlbar ist, insbesondere für eines, das davon überzeugt ist, daß es ihm im Kern nur daran fehlt – an Aufmerksamkeit. Der Plan: Am 25. Mai werden mehr Menschen denn je auf Estland sehen, und sie werden sehen, daß es gut ist.

Man macht sich ja kein Bild. Hat allenfalls einen vagen Begriff von den „baltischen Staaten“, bei denen man weder die Reihenfolge kennt noch die Hauptstädte zuordnen kann. Das ist für die stolzen Esten besonders bitter, weil sie einerseits ein wenig gekränkt sind, daß die Eurovision Zweifel hatte, ob sie das Großereignis Grand Prix überhaupt ausrichten könnten, sich andererseits aber schütteln bei der Vorstellung, ein Land wie Litauen könnte einmal gewinnen, nicht auszudenken, das Chaos, man werde schon sehen. „Die Balten“ gibt es nicht, Esten sind introvertiert, diszipliniert, evangelisch, Litauer extrovertiert, chaotisch, katholisch, und wer das nicht schnell lernt, macht sich keine Freunde in Tallinn.

Es scheint, als hätte sich in den Jahren der russischen Unterdrückung ein riesiger Druck gebildet, der sich nach der Unabhängigkeit 1991 in Energie verwandelte. Als wollten sich die Esten mit Disziplin und Ehrgeiz in zehn Jahren nicht nur aus der Steinzeit in die Neuzeit katapultieren, sondern möglichst gleich in die erste Reihe der modernen Staaten. Sie haben eine Art papierlose Bürokratie entwickelt, bei der die Minister bei Kabinettssitzungen vor Laptops hocken und die Bevölkerung via Internet Zugang hat und sich freut, daß sich ihr Land auch „e-stonia“ schreiben läßt. Sie schicken sich an, Finnland den Ruf als Handy-besessenstes Land streitig zu machen, und bieten Autofahrern die Möglichkeit, Parktickets per Mobiltelefon zu bezahlen. Und sie haben überall blaue Schilder mit @-Zeichen aufgestellt, die den Weg zum nächsten Internet-Anschluß weisen – Verkehrszeichen, keine Reklameschilder. Sie stehen vor Cybercafés und Buchhandlungen. Auf dem Land warten sie am Straßenrand und weisen den Weg zu einem einsamen Haus, und wenn man klingelt, öffnet eine ältere Frau, führt einen in ein kleines Zimmer, schaltet den Computer ein, zeigt auf die Preisliste, die daneben liegt, und läßt einen surfen.

Das ist nicht ganz das, was man sich vorgestellt hatte. Wer nie dort war, schwankt auf der weiten Reise nach Norden und Osten, ob er sich Estland nun als einen Ableger des ultra-zivilisierten Skandinaviens vorstellen muß oder ein heruntergekommenes Stück Sowjetunion. Das Erstaunliche an Tallinn ist, daß es in mehreren Schichten all das verbirgt, was man sich vorstellt, und noch ein bißchen mehr. So kann man an einem kalten Winterabend (Frühling und Herbst fehlen zugunsten einer neunmonatigen Extended-Winter-Version) in Tallinn in wenigen Minuten eine Reise durch mindestens drei Welten antreten. Zwischen Flughafen und Innenstadt liegt gleich der Ostblock, beigegraue Häuser, breite Straßen in schlechtem Zustand, die von antik aussehenden Straßenbahnen gekreuzt werden. An den Haltestellen sitzen alte Mütterchen, Rußland ist nur ein paar Zugstunden entfernt.

Ein paar Schritte weiter rückt Rußland plötzlich ans andere Ende der Welt, dafür ist Lübeck ganz nah: Jenseits der Stadtmauer, von der heute noch mehr Wachtürme stehen, als man überhaupt je für nötig gehalten hätte, blättert sich die Altstadt als großes, pastellfarbenes Bilderbuch auf und erinnert an die Hansestadt Reval, die Tallinn einmal war: die meisten Häuser frisch herausgeputzt nach Jahren des Verfalls, Kopfsteinpflaster-Gassen und steile Stiegen, zum Glück in einem wilden Architektur-Mix aus den Jahrhunderten, was die Altstadt urig macht statt zuckersüß. Abends sind die Straßen bevölkert von finnischen Jugendlichen, die dem neuen Nachbarstaat ganz neue Freiheiten und preiswertes Bier verdanken, aber schon um zehn kaum noch stehen können.

Bis zum 1. Mai, der den Auftakt zum Sommer mit seinen „Weißen Nächten“ bildet, in denen die Sonne kaum untergeht und die Plätze voll sind mit Tischen und Bänken, sind die Straßen wenig später menschenleer. Gelbe Laternen tauchen die kalte Luft in ein unwirkliches Märchenlicht, das den Besucher völlig unvorbereitet läßt für die nächste Welt, nur eine Haustür entfernt: Im „Havanna Club“ tanzen sie Salsa, junge Paare drängen sich schwitzend auf einer Tanzfläche, ignorieren ausgelassen alle Klischees vom kühlen, verschlossenen Esten, und die gefrorene Märchenwelt für Touristen vor der Tür ist genauso unvorstellbar wie die Plattenbauten für die Russen ein paar Kilometer weiter.

In der „Nimega Bar“ erklärt einem der örtliche Vertreter der Adenauer-Stiftung, daß das Nachtleben sagenhaft wild sei, weil das Weggehen für die Esten, die ein paar Hundert Dollar im Monat verdienen, so teuer sei, daß es sich dann auch richtig lohnen müsse. Wie zum Beweis kommt gerade eine Bedienung vorbei, die nicht nur wie ihre Kolleginnen eine um beachtliche Mengen Stoff reduzierte braune Uniform trägt, sondern sich dazu klein „SS“ auf den nackten Rücken gemalt hat, was als Filzstiftzeichnung eher naiv denn politisch bedenklich wirkt und eine Menge aussagt über die merkwürdig ungespaltene Haltung der Esten gegenüber deutscher Geschichte. Selbst die SS ist hier, kurz gesagt, eher als Befreier von den Russen denn als Besatzer wahrgenommen worden.

Im halbprivaten Künstlerclub „Noku“ sitzen neben den Schauspielern junge Internet-Designer und Werbeleute, und wer Wert auf Geld und Stil legt, geht ins „Pegasus“, ein Restaurant in minimalistischem grauen Granit mit Philippe-Starck-Toilette, das genauso in Berlin-Mitte oder New York stehen könnte – und dort genauso cool wäre. Nur die Reiseführer haben dieses moderne Tallinn noch nicht entdeckt und staunen über den „Mut“, hier einen schwulen Club zu eröffnen, den „Nightman“, dabei empfiehlt den jeder aufgeklärte Hetero hier als angesagtesten Ort für den späteren Abend.

Anders gesagt: Tallinn ist bereit für den Grand Prix.

Aufstand alter Männer

Der Eurovisions-Song-Contest in Stockholm: Schlichtheit siegt, und Stefan Raab muss die Schlagerwelt auch nicht retten.

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Sie kommen aus einer anderen Galaxie. Tauchen aus einem gleißenden Lichtrechteck auf. Schreiten gemessen durch ein Spalier aus Bildern des Blauen Planeten. Treten an die Bühne. Rücken Gitarren und Mikrofone zurecht. Singen. Und 13 000 ergeben sich ihrer Macht.

Gut, aus einer anderen Galaxie kommen sie vielleicht nicht, die Olsen Brüder, die am Samstag den Eurovisions-Song-Contest gewonnen haben, eher schon aus einer früheren Zeit dieser Welt. Sie sehen aus wie Kenny Rogers und Unscheinbarer-Mann-neben-Kenny-Rogers. Sie sind Ende 40 und haben vor 22 Jahren zum ersten Mal versucht, zum Grand Prix zu kommen. Ihr Fly on the wings of love beruht auf genau der Folge von vier Harmonien, die schätzungsweise der Hälfte aller konventionellen Popsongs ihr Gerüst gibt. Das Lied rettet sich über die drei Minuten – wie Millionen Schlager vor ihm -, indem es kurz vor Schluss die Tonart wechselt. Halbwegs aus heutiger Zeit ist nur der Effekt, Jorgen Olsens Stimme einmal durch einen Vocoder verzerren zu lassen, wie bei Cher – aber den Effekt hat inzwischen selbst Mary Roos entdeckt. Nein, als irgendwie innovative Veranstaltung geht der Grand Prix nach dem Sieg der Dänen nicht durch.

Muss er auch nicht. Das furchtbare Erfolgsgeheimnis des Schlagerwettbewerbes ist seine Schlichtheit. Schon bei der Wiederholung des Siegertitels zum Finale konnte fast jeder in der Stockholmer Globen-Arena mitsingen. Am Tag zuvor wurden die Dänen plötzlich Favoriten, als das harmlose Lied bei der ersten öffentlichen Probe das überwiegend schwedische Publikum zur Raserei trieb. So gesehen geht der Sieg völlig in Ordnung. Auch in ein paar Jahren noch werden es die merkwürdigen Grüppchen von Grand-Prix-Fans rauf und runter spielen. Und wenn einer dazukommt, wird er sich erinnern und mitsingen. Und wenn er sich nicht erinnert, kann er es trotzdem nach zwei Strophen.

Auf den Straßen und in den Bars Stockholms liefen in der vergangenen Woche die Grand-Prix-Hits aus 45 Jahren in der Endlosschleife, aber auch beim zweiunddreißigsten Mal Waterloo und A-ba-ni-bi und Ring-A-Dong gerieten die Menschen aus ganz Europa, jung und alt, noch in Extase.

Es hätte alles viel schlimmer kommen können. Mit Irland als Sieger zum Beispiel. Die Iren schickten einen freundlichen, aber viel zu schönen Mann mit Vokuhila-Frisur, der vor dem Hintergrund brennender Kerzen derart kalkuliert vom Jahrtausend der Liebe schmachtete, dass es selbst den Schlagerfans zu viel war. Hohe Punkte für ihn wurden vom Publikum gar mit Buhrufen kommentiert.

Vor Irland aber lag am Ende ein ganzer Ostblock: Russland, Lettland, Estland. Dass die 16-jährige Russin Alsou mit ihrem modernen, aber belanglosen Stück auf Platz zwei kam, nahmen Song-Contest-Verantwortlichen aus aller Welt mit Erleichterung auf: Vielleicht gibt sich ihr Vater damit zufrieden. Der Herr ist Multimillionär, ließ ausrichten, dass auch Herr Präsident Putin für das Lied sei und drohte ernsthaft, das Schwedische Fernsehen zu kaufen, wenn deren Regisseure nicht tun, was er will.

Der Erfolg von Estland und Lettland, die mit MTV-kompatiblen jungen Nummern angetreten waren, gab denen Hoffnung, dass der Schlagerwettbewerb nicht nur ein skurriles Ritual sein muss, bei dem am Ende die simpelste Hymne gewinnt. Dahinter Stefan Raab auf Platz fünf: „Das ist das perfekte Ergebnis für mich“, sagte der deutsche Delegationsleiter Jürgen Meier-Beer vom NDR. Was schließt man daraus? Ist der Grand-Prix 2000 nun ein Zeichen für die Allmacht des zeitlosen Kitsch (wegen Platz 1) oder für das Aufholen des zeitgemäßen Pop (wegen Platz 2 bis 4)? „Ist mir egal“, sagt Meier-Beer, „solange die Leute nur ausgiebig darüber diskutieren.“ Über zehn Millionen sahen bei der ARD am Samstag im Schnitt zu.

Ein bitterer Abend war es für Österreich und die Schweiz. Beide dürfen im kommenden Jahr wohl nicht zum Finale nach Dänemark reisen – ihr Punkteschnitt der letzten Jahre ist zu schlecht. ORF-Leute glauben, dass ihnen das Anti-Österreich-Klima in Europa geschadet habe – obwohl sich der Auftritt der Rounder Girls, drei schwere Damen verschiedener Hautfarbe mit einem Motown-Stück, gerade als Anti-Haider-Demonstration werten ließ. Der Schweiz will Deutschland 2001 anbieten, wie bereits 1999 wenigstens mit einem Beitrag an der deutschen Vorausscheidung teilzunehmen.

Stefan Raab lag mit seinem fünften Platz deutlich über den Prognosen der Wettbüros. Dabei war sein Auftritt eigentlich ein Missverständnis. „Ich habe gehört, Sie wollen den Song Contest retten“, sagte die schwedische Moderatorin mit dem Charme eines Gefrierbeutels bei seiner Pressekonferenz. „Das ist ja nett.“ Die Veranstaltung braucht – anders als vielleicht die deutsche Vorentscheidung – keinen Retter-Raab. Sie ist trotz ihrer ganzen Rituale und Albernheiten ziemlich lebendig und vielfältig. Schon deshalb fiel Raab in Stockholm nicht so sehr auf. Außerdem kommentierten viele seinen Auftritt nicht mehr mit: „Hey – die Deutschen haben ja Humor!“, sondern mit: „Hatten wir den gleichen Witz nicht schon vor zwei Jahren?“

Eine Schlager-EM hat die gleiche Bedeutung wie eine Fußball-EM: Sie ist exakt so wichtig, wie man sie nimmt. Da schneidet der Grand Prix im Vergleich nicht mal schlecht ab: Einige Länder baten die Sänger in Stockholm zu offiziellen Empfängen in ihre Botschaften. Den Dänen ist es traditionell eine Party mit Freibier wert. Und die Engländer, die ihre Zielgruppe kennen, luden in eine Schwulenbar.

Dafür braucht die Welt den Grand Prix: Damit Leute wie die Olsen-Brüder Hoffnung auf eine neue Karriere haben und Leute wie Stefan Raab Material für ihre Comedy. Damit ein Fernsehzwerg wie Schweden der Welt zeigen kann, wie man die alte Veranstaltung als modernes Spektakel inszeniert. Damit wir feststellen, dass auch in Mazedonien (I love you 100 percent, yes I do) Mädchen nicht singen können müssen, um erfolgreich zu sein, wenn sie nur sehr jung sind und entsprechend wenig anhaben.

Und natürlich, damit einmal im Jahr Millionen Fernsehzuschauer eine knappe Stunde lang zusehen, wie nacheinander 240 Punktewertungen je drei Mal vorgelesen werden. Zwölf Punkte von Mazedonien an Rumänien – hurra! „Ist doch toll“, sagte eine norwegische Journalistin, „das hier ist die größte unwichtige Veranstaltung des Jahres.“

(c) Süddeutsche Zeitung