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Unter Schafen

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Endloser Regen, twitternde Schäfer und die „passiv-subversivsten Tiere diesseits des Esels“: Wie die Herdwicks den Lake District im Nordwesten von England prägen.

Der Schäfer drückt mir das Lamm in die Hand, damit ich den Unterschied fühlen kann. Es ist mit einem dunklen, dicken, dichten Lockenmantel auf die Welt gekommen. Robust fühlt es sich an. Kein Vergleich zu dem hellen, dünnen, weichen Flaum auf der Haut des Standard-Lämmchens, das er daneben hält.

Das wenige Tage alte Schaf, das ich auf dem Arm habe, ist ein Herdwick, ausgestattet mit dem vielleicht besten Wetterschutz, den die Natur für kleine Lämmer zu bieten hat, gemacht für eine Umgebung, in der es im Zweifel immer gerade regnet.

Lake District heißt diese Gegend ganz im Nordwesten von England. Sie könnte auch Rain District heißen. In einem ihrer Täler liegt der regenreichste Ort Englands. Vor einem Pub dort hängt eine Gedenktafel: „In liebender Erinnerung an einen sonnigen Tag in Borrowdale.“ Im Süßigkeitenladen in Keswick bieten sie neben Schokoladenhasen und Schokoladenküken Schokoladenregenschirme an. Und die Verkäuferin im Fish-and-Chips-Geschäft in Windermere erzählt, dass es eigentlich immer regnet, nur manchmal woanders auch, dann verteilt sich das schlechte Wetter etwas mehr, so dass es hier nicht ganz so schlimm ist.

Es hat etwas merkwürdig angemessenes, hier im Nieselregen an den weißgetünchten alten Höfen vorbeizulaufen, Weiden, die zu Sumpflandschaften geworden sind, zu durchqueren, tosende Wasserströme zu kreuzen und über moosbewachsene Steinmauern zu klettern. Es ist kein Ort für Schönwetterwanderer, überall sind auch im Regen Menschen unter zugezurrten Kapuzen unterwegs. Doch dann pustet der Wind plötzlich die Wolken weg und mit einem Mal ist im Sonnenschein alles tiefgesättigte Farbe: das Blau der Seen, das Grün der Wiesen, erstaunliches Rot, Braun, Gelb, Ocker auf den baumlosen Berghängen.

Ein Traum, der das Schroffe schottischer Gebirge mit der Lieblichkeit südenglischer Hügellandschaften aufs Romantischste kombiniert.

Es ist eine Landschaft, die von den Schafen geprägt wurde, und es sind Schafe, die von der Landschaft geprägt wurden. Seit Jahrhunderten grasen Herdwicks hier auf den Bergkuppen, harren in Wind und Regen aus. Sie sind unabhängig und hart im Nehmen, und auch wenn die Theorie, dass die Wikinger sie vor tausend Jahren in diese Gegend gebracht haben, unbewiesen ist, will man das sofort glauben: Dass es legendär furchtlose Krieger waren, die solch toughen Haustiere mitbrachten. Es gibt Geschichten von Herdwicks, die wochenlang unter Schnee überlebten. Als man sie fand, sollen sie blind gewesen sein und ihre eigene Wolle gefressen haben – aber sie erholten sich.

Sie sind, andererseits, sehr niedlich, und es ist kein Wunder, dass sich die Kinderbuchautorin Beatrix Potter in sie verliebte. Sie wirken wie Schafe in Reinform, reduziert auf das Wesentliche und als wären sie von oder für Kinderbuchillustratoren entwickelt worden: Zwei Knopfaugen im glatten, hellen Gesicht; Mund und Nase wie genäht; eine großer, rechteckiger Flauschkörper in vielfältig grauen Marmorfarben auf stämmigen Beinstummeln. Kopf und Beine sollen im Idealfall die Farbe von Raureif haben.

Sie sehen so sympathisch und perfekt schafhaft aus, wenn sie ihre weißen Köpfe aus dem Gras nehmen und für einen Moment aufhören zu kauen: Stoisch schauen sie einen an, nicht unfreundlich, aber nur mit gerade so viel Interesse, wie unbedingt nötig ist, um abzuschätzen, ob es ratsam sein könnte, ein paar Meter weiterzuschlurfen, um ungestört weiter an der dünnen Grasnarbe knabbern zu können. Ihre Gesichter leuchten hell in der Landschaft, was es zu einem besonderen Erlebnis macht, wenn der Wanderweg durch eine Wiese führt und man plötzlich Dutzende Herdwick-Köpfe auf einen gerichtet sieht.

Sie waren eigentlich aus der Mode gekommen, keine Rasse für einen modernen Schäfer, und auch der Mann, der heute als „Herdwick Shepherd“ über sie twittert, hätte sich vor gut zehn Jahren noch nicht vorstellen können, ausgerechnet Herdwicks zu züchten. Aber dann kam die Maul- und Klauenseuche, die im Lake District besonders verheerend war. Und Schäfer-Familien wie seine stellten sich nach dieser Apokalypse die Frage, unter welchen Bedingungen es sich überhaupt lohnen könnte, noch Schafe zu halten.

Die Herdwicks boten eine Antwort, weil sie so verhältnismäßig wenig menschliche Aufmerksamkeit und Unterstützung brauchen. Aber wenn der Herdy Shepherd – der nicht möchte, dass man seinen richtigen Namen nennt – heute von seinen Herdwicks erzählt, tut er das mit einer Leidenschaft für genau diese Tiere, die nichts mit wirtschaftlicher Notwendigkeit zu tun hat.

Er bekommt ein Leuchten in den Augen, wenn man ihn anspricht auf das eine Schaf unten im Feld vor seinem Hof, das schon zwei Lämmer bei sich hat. Es ist eins von denen, die er seine „Schönheitsköniginnen“ nennt. Sie hat schon Routine im jährlichen Lauf der Dinge hier und weiß, dass um die Ecke eine Wiese ist, die in den vergangenen Wochen schaffrei gehalten wurde, damit sie und die anderen Mütter dort reichlich Gras finden würden.

In ein paar Wochen wird sie dann über uralte Wege mit den anderen dorthin gehen, wo sie eigentlich zuhause sind. Der Schäfer zeigt in die Ferne auf eine der Bergkuppen, die hier „fell“ heißen und auf denen man Mitte April noch größere Schneeflecken sieht. Die ersten Tiere, die ohne Nachwuchs, sind jetzt schon da, es folgen dann Mütter mit nur einem Lamm und schließlich die Familien mit Zwillingen.

Dort oben auf den Bergen ist traditionell offenes Gemeinschaftsland, Commons, Allmende – die größte Fläche in Europa. Die Herdwicks können sich weit ausbreiten, was sie weniger anfällig für Krankheiten macht. Und sie wissen, wo sie hingehören. Sie haben einen Flecken Erde, an den sie sich gebunden fühlen; die Muttertiere geben das Wissen an ihren Nachwuchs weiter.

Traditionell gehören die Schafe hier deshalb zu den Höfen: Wenn dessen Mieter wechselt, übernimmt er die Tiere. Herdwicks sind die Brieftauben unter den Schafen: Sie haben einen besonders ausgeprägten Heimfindeinstinkt – und einen Drang, zu „ihrem“ Berg zurückzukehren. Zu den Geschichten des Lake Districts gehören die von kleinen Schaftrupps, die beim Durchqueren von Ortschaften angetroffen werden, nachdem sie sich eigenmächtig auf dem Weg dahin zurück gemacht haben, wo sie ihrer Meinung nach hingehören. Manche sollen ein halbes Jahr, nachdem sie verkauft wurden, auf ihrem Ursprungs-Hang wieder aufgetaucht sein, Dutzende Kilometer entfernt.

Philip Walling, der in dem Buch „Counting Sheep“ die Hirten-Kultur Großbritanniens würdigt, nennt die Herdwicks „die passiv-subversivsten halb-domestizierten Tiere diesseits des Esels“: „Wenn sie in einem Feld glücklich sind, bleiben sie da, aber immer nur aus freien Stücken. Ihr Ur-Drang nach Freiheit ist nie weit unter der Oberfläche. Wie Kriegsgefangene lauern sie auf die kleinste Gelegenheit zum Ausbruch und behalten beim Grasen das Gatter im Auge, für den Fall, dass es jemand offen lässt.“

In diesen Tagen sind sie aber überwiegend damit beschäftigt, Lämmer zur Welt zu bringen. 500 Tiere hat der Herdy Shepherd; für Problemfälle hat er eine kleine Entbindungsstation in seinem Stall eingerichtet. Die besten Lämmer sind pechschwarz, mit etwas weißem Flaum an den Ohrenspitzen sowie im Nacken, als erste Andeutung dessen, was später einmal eine eindrucksvolle Mähne sein soll.

Stolz zeigt der Herdy Shepherd Fotos von seinen preisgekrönten Böcken und erzählt, wie wichtig es ihm ist, den Respekt der alten Schäfer zu erwerben, deren Tradition er fortzuführen versucht. Solche Vorzeige-Zuchttiere lassen sich auch deutlich teurer verkaufen, was hilft, das mühsame Geschäft ein bisschen wirtschaftlicher zu machen.

Seit kurzem wird viel daran gearbeitet, die Wertschätzung für die Herdwicks und die mit ihnen verbundene landwirtschaftliche Kultur zu steigern. Es gibt Herdy-Tassen, Schlüsselanhänger und Eierbecher. Prinz Charles hat vor zwei Wochen die erste Versteigerung von Herdwick-Schafen mit einem eigenen Qualitäts-Markenzeichen besucht.

Twitter hilft vielleicht auch. Über 25.000 Menschen folgen @herdyshepherd1 auf Twitter. Er teilt mit ihnen Fotos von Lämmern, erzählt Geschichten von schweren Geburten und Schäferhund-Lehrlingen und beantwortet Fragen wie: „Habt ihr ein Problem mit Wölfen?“ („Nicht seit 1750, seit jemand den letzten in Großbritannien erschossen hat.“)

Medien auf der ganzen Welt haben über ihn berichtet. In einem Gastbeitrag für den „Atlantic“ schrieb er: „Twittern ist so etwas wie ein Akt des Widerstandes und des Trotzes, eine Möglichkeit, der manchmal desinteressierten Welt entgegenzurufen, dass man dickköpfig ist und stolz und nicht nachgibt, während überall sonst in eine Kopie von überall sonst verwandelt wird.“ Die Leute aus der Landwirtschaft seien traditionell schlecht darin, der Öffentlichkeit ihre Sicht der Dinge zu vermitteln, erzählt er, was sich oft räche.

Vergangene Woche postete er Bilder von der ersten Runde Herdwicks, die in diesem Jahr zurück auf ihre angestammten Berge geführt wurden. Und dann ein Foto von Floss, der Schäferhündin, nach der Arbeit auf dem Quad-Bike, mit weitem Blick über die Hügel. „Floss mag die Landschaft“, twitterte er. „Oder vielleicht sieht sie in der Ferne irgendwelche entkommenden Schafe, die ich nicht sehe.“

Nicht jedem wird bei diesem Anblick warm ums Herz. Der Umweltschützer und „Guardian“-Kolumnist George Monbiot findet die Landschaft „eine der deprimierendsten in Europa“ und nennt sie „sheepwrecked“ – zerstört von der „weißen Plage“ der Schafe, die die Berge nackt halten, „jede essbare Pflanze, die ihren Kopf hebt, abmähen, und Tiere ihres Lebensraumes berauben“.

Monbiot kämpft dafür, die Landschaft zu „renaturieren“ und sie in einen Zustand zu versetzen, in dem sie seit Jahrhunderten nicht war. Vermutlich muss man es vor dem Hintergrund solcher Kritiker lesen, wenn der Herdy Shepherd zwischendurch vier Tweets lang aufzählt, welcher Artenvielfalt von Tieren er bei der Arbeit begegnet ist.

Die britische Regierung hat beschlossen, den Lake District 2016 für die Unesco-Welterbe-Liste vorzuschlagen – als herausragende Kulturlandschaft. Das soll natürlich dem Tourismus dienen. Aber es wäre auch eine besondere Anerkennung für die besonderen kulturellen und landwirtschaftlichen Traditionen, die diese Landschaft geformt haben. Also auch und vor allem: für die Herdwicks.

Man sagt über sie, sie lebten „von frischer Luft, sauberem Wasser und guter Aussicht“. Aber ein bisschen Liebe kann vermutlich nicht schaden.

Jörg-Olaf Schäfers

Er hat mich nach Paderborn gebracht und ich ihn in die „Sonntagszeitung“.

Erstaunlicherweise war das erste die viel schwerere Geburt, weil ich die Antwort auf die Terminanfrage, einen Vortrag an seiner Uni zu halten, wie üblich und trotz großer Sympathie ewig verschleppt hatte, weshalb er mir dann Mails mit Betreffzeilen wie „Weihnachtspferd, trojanisches“ schickte:

gerade die unglaubliche geniale Idee gehabt, meine Weihnachtsgrüße mit der Nachfrage zu verbinden, ob wg. unten alles klar geht.

Der Weg zum FAS-Kolumnisten war dagegen ein leichter — der „Geld & Mehr“-Teil suchte Ende 2006 jemanden, der über das Internet schreibt; von meiner spontanen Empfehlung bis zu seiner ersten „Notizblog“-Kolumne verging nicht einmal ein Monat. Umso mehr hat mich gefreut, dass daraus eine feste Institution wurde.

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich auf ihn aufmerksam wurde. Es müsste entweder über „Medienrauschen“ gewesen sein oder über seine eigene Seite YAMB (Yet Another Media Blog), die er leider später plötzlich löschte. Ich weiß nur noch, dass ich mochte, wie er schrieb, und uns eine Abneigung verband gegen die Leute von „Politically Incorrect“ und den Mann, der sich „Don Alphonso“ nannte.

Später wandte er sich dann relevanteren Themen zu und kümmerte sich auf netzpolitik.org um, nun ja: Netzpolitik. Torsten Kleinz schreibt über ihn:

Wenn er ein Ziel auserkoren hatte, war er durch fast nichts zu stoppen. Er sammelte Informationen, dokumentierte und rief zur Aktivität auf. Doch so aktiv wie er konnte kaum jemand anderes sein. Er beließ es nicht dabei, sich lauthals zu beschweren und Verschwörung zu rufen, sondern arbeitete sich in komplizierte Materie ein, sichtete Sitzungsprotokolle, telefonierte mit Verantwortlichen und warb für seine Ziele. Für unsere Ziele.

Torsten schreibt: „Immer war ein Chat-Fenster auf, in dem wir uns austauschen konnten“, das habe ich auch so erlebt. Und Alvar Freude fügt hinzu:

Man konnte ihm nachts um 4 Uhr Fragen stellen, zu deren Beantwortung andere noch nicht einmal tagsüber in der Lage waren. Wenn man ein Sitzungsprotokoll oder einen Mitschnitt brauchte – flugs stellte er die gewünschte Datei auf seinem Server bereit. Ruckzuck holte er alte Artikel oder Hintergrundinformationen aus seinem Archiv oder den Untiefen des Internets.

Mich versorgte er naturgemäß weniger mit Sitzungsprotokollen als mit sachdienlichen Hinweisen und mit Empfehlungen für Sonntagsflausch. Manchmal hat er sogar alle Kommentare unter Blogeinträgen hier gelesen, und als ich mein Unverständnis darüber äußerte, antwortete er:

Andere fahren mit dem Bus oder lassen sich von älteren Frauen in Leder auspeitschen. Ich schaffe es meinen Hass durch das Lesen von Blogkommentaren zu kanalisieren.

Ich ahne, dass es auf viele Leute merkwürdig wirken mag, jemandem anhand alter Chatprotokolle zu gedenken. Aber das hier ist der Olaf, den ich kannte und in Erinnerung behalten werde:

13:15:47 ix: Ha!
13:19:57 Stefan Niggemeier: ha?
13:20:07 ix: Nun!
13:20:29 ix: Ich suche spontan jemand, der mir die Titelseite der Bild von heute abknippsen könnte.
13:20:39 ix: Und dann ist mir aufgefallen, dass ich keine Bild-Leser kenne.
13:20:59 ix: Und kurz darauf, dass ich keine Hose anhabe, also nicht zum Kiosk fahren kann.

Oder das hier:

01:13:09 ix: Kannst du mir kurz einen Gefallen tun und: „Olaf, lass dich nicht von deinen dunklen Instinkten leiten und kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Kram“ hier in das Fenster tippen (Kopieren geht auch…). Danke.
01:14:03 Stefan Niggemeier: Olaf, höre auf deine dunklen Instinkte und verzettel dich gründlich mit….
01:14:07 Stefan Niggemeier: Moment, wie war der Satz?
01:14:13 ix: *seufz* ,)
01:14:41 Stefan Niggemeier: wer ist denn dein, äh, opfer?
01:15:07 ix: Ein gemeinsamer, äh, Freund.
01:15:23 ix: Ich hatte vorhin nochmal über Fonsis Besinnungsaufsätze in Blogform nachgedacht.
01:15:57 Stefan Niggemeier: warum?!
01:16:05 Stefan Niggemeier: (im sinne von: WARUM???)
01:17:26 ix: Ich bin ein naiver Idealist. Die Diskrepanz zwischen den Tiraden an der Blogbar und dem realweltlichen Ergebnis macht mir Bauchweh.
01:18:23 Stefan Niggemeier: verstehe.
01:18:35 Stefan Niggemeier: andererseits: Olaf, lass dich nicht von deinen dunklen Instinkten leiten und kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Kram
01:18:44 ix: Danke.

Wie Netzpolitik berichtet, ist Jörg-Olaf Schäfers, „ix“, gestorben. Ich werde ihn, seinen Humor und sein offenes Chat-Fenster vermissen.

Betreff: DSDS / Foto von Frau Schäferkordt

Dokumentation eines E-Mail-Wechsels zwischen mir und RTL, veröffentlicht auf nachdrücklichen Wunsch von RTL-Sprecher Christian Körner. Die Geschichte dazu steht hier.

von: Stefan Niggemeier
an: Anke Eickmeyer, Christian Körner
Datum: 7. Januar 2010 16:12
Betreff: DSDS / Foto von Frau Schäferkordt

Liebe Frau Eickmeyer,
lieber Herr Körner,

vor zwei Jahren habe ich auf fernsehlexikon.de live über den „Deutschen Fernsehpreis“ gebloggt ( http://www.fernsehlexikon.de/1168/der-deutsche-fernsehpreis-2007-live/ ). Mir und anderen war damals u.a. der Busen von Frau Schäferkordt aufgefallen, der durch das Kleid, das sie trug, in besonderer Weise hervorgehoben wurde. Ich dokumentierte die Szene mit einem kleinen Screenshot (im Anhang).

Herr Körner forderte mich daraufhin auf, das Foto zu entfernen, und drohte indirekt auch mit juristischen Konsequenzen, falls ich dieser freundlichen Bitte nicht nachkäme, was ich daraufhin tat.

Ehrlich gesagt, bereue ich diese Entscheidung, seit ich gestern „DSDS“ gesehen und heute die Erklärungen von Frau Eickmeyer gelesen habe, warum es richtig war, dass RTL das Missgeschick eines Kandidaten, der mit einem Urinfleck in der Hose vor der Jury steht, ausgebreitet hat: „Wir zeigen, was beim Casting passiert. Wenn sich ein Kandidat mit nasser Hose vor die Jury stellt, darf er sich nicht wundern, wenn er darauf angesprochen wird“, wird Frau Eickmeyer u.a. von „Meedia“ zitiert. Deshalb hätte RTL den Kandidaten nicht vor sich selbst schützen und die Szene weglassen müssen.

Ich frage mich nun: Wusste Frau Schäferkordt damals nicht, dass der „Deutsche Fernsehpreis“ im Fernsehen ausgestrahlt wird? Gilt für Frau Schäferkordt nicht: Wenn sich jemand mit einem unglücklich sitzenden Kleid bei einer eigenen öffentlichen Veranstaltung zeigt, darf sie sich nicht wundern, wenn andere Leute das kommentieren? Aus welchem Grund muss man Frau Schäferkordt mit einer sehr viel harmloseren Panne vor sich selbst schützen, einen jungen „DSDS“-Kandidaten aber nicht? Wie kann jemand, der eine Sendung wie „DSDS“ verantwortet, einen besonderen Schutz vor öffentlicher Zurschaustellung für sich in Anspruch nehmen?

Ich würde mich freuen, wenn Sie mir helfen könnten, diese Fragen zu beantworten. Sonst würde ich das Foto gerne wieder zeigen.

Vielen Dank,
mit freundlichen Grüßen
Stefan Niggemeier

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von: Christian Körner
an: Anke Eickmeyer, Stefan Niggemeier
Datum: 7. Januar 2010 18:23
Betreff: AW: DSDS / Foto von Frau Schäferkordt

Lieber Herr Niggemeier,

Ob ich wirklich gedroht habe … ich denke, wir haben vernünftig miteinander gesprochen. Meine Begründung war damals wie heute: Es ist ein Unterschied, und der ist es wohl auch juristisch, was für mich aber sekundär ist – ob ich zu einem TV-Casting gehe, das wenig überraschend auch im TV gezeigt wird – und das man sich seit Jahren im Fernsehen anschauen kann, wie Millionen Zuschauer es bekanntlich tun – oder auf einer Bühne auftrete, weil ich vielleicht Preisträger oder Künstler bin – oder eben ein Gast von vielen einer Veranstaltung im Publikum, dem vielleicht mal etwas verrutscht. Darum geht’s.

Warum sie einzelne Casting-Auftritte einer Sendung mit der Garderobe der Geschäftsführerin der Sendergruppe/des Senders in unmittelbare Verbindung bringen, bleibt mir darüber hinaus schleierhaft – und wirkt am Ende nicht anders als konstruiert. Wie manches Stück, dass Sie schreiben eben auch eher schwarzweiss und weniger für Zwischentöne geeignet ist – vielleicht ist es so auch nicht gedacht, wir haben mehrfach drüber gesprochen. Haben Sie auch bei männlichen Managern schonmal festgestellt, geschrieben und im Bild gezeigt, dass der Anzug vielleicht etwas eng war oder der Hosenstall auf – und es direkt in Zusammenhang gebracht mit einem Produkt, dass seine Firma herstellt, welches Ihnen nicht passt? Welchen Sinn macht das?

Auch die Empörung kann ich nur bedingt nachvollziehen, weil Sie – anders als andere – vorzugsweise davon ausgehen, dass die Menschen, die zB zu einem Casting kommen, vor sich selbst und der Welt geschützt werden müssen.

Ich hoffe für den Moment, das hilft etwas weiter. Wenn nicht geben Sie gern Bescheid.

Beste Grüße, Christian Körner

Christian Körner
Bereichsleiter
Kommunikation

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von: Stefan Niggemeier
an: Anke Eickmeyer, Christian Körner
Datum: 7. Januar 2010 18:36
Betreff: Re: DSDS / Foto von Frau Schäferkordt

Sehr geehrter Herr Körner,

ja, ich habe auch über männliche Fernsehmanager schon geschrieben (und sie im Bild gezeigt), die selbst ins Fernsehen gegangen sind und dabei eine unglückliche Figur abgegeben haben (konkret war das ihr Kollege Körfer von ProSieben).

Der Zusammenhang aber ist einfach und gar nicht konstruiert. Es geht um die Frage, ob man Menschen, denen beim bewussten Gang in der Öffentlichkeit etwas mehr (Urin) oder weniger (Dekolleté) Blödes passiert ist, öffentlich ausstellen darf. Sie sagen: Kandidaten, die zu einer Castingshow gehen? Unbedingt. Die Veranstalterin einer im Fernsehen übertragenen Preisverleihung? Auf gar keinen Fall. (Frau Schäferkordt, Sie werden sich erinnern, war 2007 nicht Gast, sondern Gastgeberin.)

Ich weiß übrigens – anders als Sie mir unterstellen – gar nicht, ob die Menschen vor sich selbst und der Welt geschützt werden müssen. Ich frage mich nur, warum Frau Schäferkordt nicht selbst aushalten muss, was sie anderen zumutet.

Viele Grüße
Stefan Niggemeier

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von: Christian Körner
an: Anke Eickmeyer, Stefan Niggemeier
Datum: 7. Januar 2010 19:55
Betreff: AW: Re: DSDS / Foto von Frau Schäferkordt

Lieber herr niggemeier – oder werden sie jetzt offiziell und wir sind beim sehr geehrt? Wie auch immer:

Meinen freund und fachlich sehr geschaetzten kollegen koerfer in allen ehren – aber ich meinte schon eher die ebene schaeferkordt. Unabhaengig davon bleibt wohl ein unterschied, ob ich wie er vor die kamera gehe und anderen erklaere, wie sie sich gut praesentieren – oder eben genau das nicht.

Erstaunlich, wie ungenau sie an stellen wie diesen werden, nur damit es passt. Zumal die geschaeftsfuehrerin nun auch in der regel nicht persoenlich die sendung schneidet. Das meine ich mit konstruiert.

Aber: wir haben uns ausgetauscht und kommen wohl heute abend nicht mehr ganz auf einen nenner. Machen sie doch einfach, was sie fuer angemessen und angebracht halten, fuer inhaltlich begruendet oder auch nur fuer witzig. Empoerung rund um dsds kommt sicher nicht nur in ihrer redaktion oder ihrem blog gut an – und der beifall ist ihnen sicher. Dann sehen wir entspannt weiter.

Beste gruesse, christian koerner

Ps. Stellen sie doch unseren kompletten mailverkehr direkt mit online, wenn sie berichten sollten.

Der Urin-Fleck & Frau Schäferkordts Busen

Da ist also einem Kandidaten bei „Deutschland sucht den Superstar“ ein Missgeschick passiert. Als er vor der Jury stand, hatte er einen Urin-Fleck auf der Hose. Dieter Bohlen zeigte mit dem Finger auf ihn und machte sich lustig, dass er sich „in die Hose gepisst“ hätte. RTL bearbeitete die Szene so nach, dass die peinliche Situation noch peinlicher wirkte und die Bloßstellung des 18-Jährigen maximal war, und verwendete dafür auch Sätze Bohlens, die auf einen ganz anderen Kandidaten gemünzt waren. Das hauseigene Videoportal „Clipfish“ zeigte den Ausschnitt unter dem vollen Namen des Möchtegern-Superstars und der Beschreibung als „Pipi-Kandidat“ (inzwischen geändert).

Der Sender meint nicht, dass er den Kandidaten hätte schützen müssen und die Szene weglassen sollen. „Wir zeigen, was beim Casting passiert. Wenn sich ein Kandidat mit nasser Hose vor die Jury stellt, darf er sich nicht wundern, wenn er darauf angesprochen wird“, zitiert der Branchendienst „Meedia“ RTL-Sprecherin Anke Eickmeyer. „Wir sind jetzt in der siebten Staffel von DSDS. Wer sich bewirbt, sollte wissen, wie die Sendung abläuft.“

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Vor gut zwei Jahren ist RTL-Geschäftsführerin Anke Schäferkordt ein Missgeschick passiert. Nichts, was auch nur annähernd so peinlich gewesen wäre, aber sie hatte sich als Gastgeberin des Deutschen Fernsehpreises 2007 ein Kleid ausgesucht, das ihrem Dekolleté eine vermutlich eher nicht beabsichtigte Form gab, was auffiel, wenn die Kameras sie wieder einmal im Publikum einfingen. Ich habe mir die Übertragung der Sendung auf RTL angesehen und live darüber gebloggt, und als eine Kommentatorin auf den unglücklich gepressten Busen hinwies, griff ich das auf und band zur Illustration auch einen Screenshot von der Szene ein, nichts Dramatisches, wie gesagt, nur eine etwas unvorteilhafte Situation.

Christian Körner, der Pressesprecher des Senders, war darüber nicht glücklich. Er rief mich an, bat freundlich darum, das Bild zu entfernen, betonte aber, dass es auch juristische Folgen haben könne, wenn ich es nicht täte. Ich erfüllte seinen Wunsch und ersetzte den Screenshot durch einen entsprechenden Hinweis.

Als ich in der vergangenen Woche las, warum RTL es für richtig hält, das Missgeschick eines Kandidaten groß auszustellen, habe ich meine Entscheidung bereut.

Wusste Frau Schäferkordt damals etwa nicht, dass der „Deutsche Fernsehpreis“ im Fernsehen ausgestrahlt wird? Gilt für Frau Schäferkordt nicht: Wenn sich jemand mit einem unglücklich sitzenden Kleid bei einer eigenen öffentlichen Veranstaltung zeigt, darf sie sich nicht wundern, wenn andere Leute das kommentieren? Aus welchem Grund muss man Frau Schäferkordt mit einer sehr viel harmloseren Panne schützen („vor sich selbst“, wie es immer so schön heißt), einen jungen „DSDS“-Kandidaten aber nicht? Wie kann jemand, der eine Sendung wie „DSDS“ verantwortet, einen besonderen Schutz vor öffentlicher Zuschauerstellung für sich in Anspruch nehmen?

Das fragte ich mich. Und die Presseleute von RTL.

Christian Körner antwortete mir, er finde den Zusammenhang „konstruiert“. Ihm sei schleierhaft, warum ich „einzelne Casting-Auftritte einer Sendung mit der Garderobe der Geschäftsführerin der Sendergruppe/des Senders in unmittelbare Verbindung“ bringe. Es sei — auch juristisch — ein Unterschied, ob man zu einem TV-Casting gehe, „das wenig überraschend auch im TV gezeigt wird“, oder „ein Gast von vielen einer Veranstaltung im Publikum, dem vielleicht mal was verrutscht“. Er fügte hinzu: „Auch die Empörung kann ich nur bedingt nachvollziehen, weil Sie — anders als andere — vorzugsweise davon ausgehen, dass die Menschen, die zB zu einem Casting kommen, vor sich selbst und der Welt geschützt werden müssen.“

Nun wies ich darauf hin, dass Frau Schäferkordt keineswegs Gast, sondern Gastgeberin war, und fügte hinzu, dass ich — anders als er mir unterstellte — gar nicht wisse, ob die Menschen vor sich selbst und der Welt geschützt werden müssen. Ich fragte mich nur, warum Frau Schäferkordt nicht selbst aushalten muss, was sie anderen zumutet.

Es kam darauf keine wirkliche Antwort. Nur, dass die Geschäftsführerin ja „in der Regel nicht persönlich die Sendung schneidet“. Und ich doch machen solle, was ich wolle, denn: „Empörung rund um DSDS kommt sicher nicht nur in Ihrer Redaktion oder Ihrem Blog gut an — und der Beifall ist Ihnen sicher.“

Aber meine Frage ist unbeantwortet: Warum stellen die RTL-Leute andere Menschen auf eine Art und Weise bloß, die sie bei sich selbst schon in viel harmloserer Form unerträglich finden?

Schafe Kurven

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Das ganze Glück der Erde auf dem Rücken einer Enduro: Neuseeland mit dem Motorrad.

Der zweitgrößte Feind des Motorradfahrers in Neuseeland ist der Kea. Im Motorradverleih haben sie gleich neben der Kasse einen Steckbrief mit seinem Bild und seinen bevorzugten Aufenthaltsorten aufgehängt und warnen dringend davor, das Fahrzeug in diesen Gegenden unbeaufsichtigt zu lassen. Der Kea ist ein großer, braungrüner Bergpapagei und entweder ein hochbegabtes Tier mit zuviel Tagesfreizeit und krimineller Energie oder einfach ein Fetischist, jedenfalls liebt er nichts so sehr wie Gummi und scheut keine Mühen, es sich zu besorgen.

Wie eine Bande Dorf-Hooligans lungern die Vögel in kleinen Gruppen auf den Parkplätzen bei den Sehenswürdigkeiten in den Südlichen Alpen herum und warten auf eine Gelegenheit, ein parkendes Auto sauber von seinen Scheibenwischer-Blättern zu befreien. An Motorrädern sollen sie ganze Sitzbänke zerschreddert haben. Ein Einheimischer erzählte uns, daß er einmal beobachtet hat, wie vier Keas vor einem Auto herumgetänzelt sind und den Fahrer mit Kunststücken unterhielten, während der fünfte sich von hinten anschlich und unbeobachtet am Wagen zu schaffen machte.

Danach gingen wir einzeln den Franz-Josef-Gletscher besichtigen, einer bewachte immer die Maschinen vor den Keas.

Und damit zum größten Feind des Motorradfahrers in Neuseeland. Wir fuhren also mit 110 Stundenkilometern auf einer dieser schönen zweispurigen neuseeländischen Straßen, als uns ein Auto überholte. Mit geschätzt 111 Stundenkilometern. Zentimeter für Zentimeter schob es sich an unseren Motorrädern vorbei. Der Fahrer hatte es wohl nicht so eilig. Auch dann nicht, als ihm ein Wagen entgegenkam. Er trat nicht aufs Gas, er bremste nicht, er riß das Steuer nicht herum, er zog einfach ganz sachte und entspannt auf die linke Spur zurück. Dort fuhr ja nur ein Motorrad.

Natürlich sind nicht alle neuseeländischen Autofahrer so. Manche rasen auch wie bekloppt und versuchen einen beim Überholen vor unübersichtlichen Kurven unauffällig von der Straße zu schubsen.

Vielleicht fahren deshalb die Einheimischen nicht Motorrad. Vielleicht fehlt den neuseeländischen Autofahrern einfach die Erfahrung mit motorisierten Zweirädern auf ihren Straßen. Vielleicht wissen sie auch nur, daß auf dem Motorrad vor oder neben ihnen ohnehin nur irgend so ein Tourist sitzt, und geben sich deshalb besonders wenig Mühe. (Uns wurde ja auch dringend eingeschärft, bloß nicht die Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h zu überschreiten, was uns zu einem echten Hindernis im Verkehrsstrom machte. Das einzige Auto, das lange mit der gleichen Geschwindigkeit hinter uns herfuhr, überholte dann mit 110 in der Baustelle, wo Tempo 30 galt.)

Ja, Horror. Und doch vollständig egal, weil Neuseeland bekanntermaßen zu weiten Teilen nicht von Neuseeländern bewohnt ist, sondern von Schafen, die nicht nur vom Autofahren Abstand nehmen, sondern auch vor Motorrädern einen Heidenrespekt haben. Wenn man als Motorradfahrer in eine Gruppe Schafe auf der Straße gerät, entsteht eine lustige Verwirrung, weil die erste Reihe stehenbleibt und so tut, als wollte sie gar nicht weiterlaufen, sondern das Gras am Wegesrand mal genauer in Augenschein nehmen, während die hinteren, die nicht wissen, was los ist, weiterschieben, bis schließlich alle hektisch im größtmöglichen Abstand vorbeigaloppieren.

Auf der Südinsel Neuseelands, die doppelt so groß ist wie Bayern, leben weniger als eine Million Menschen, aber mehrere Millionen Schafe, die sich dekorativ über die Hügel verteilen, bis sie aus der Ferne aussehen wie Sesamkörner auf Brötchen. Außer ihnen schauen einem beim Motorradfahren vor allem noch Rehe zu, die in erstaunlich kleinen Gattern an erstaunlich befahrenen Straßen untergebracht sind und sich von so einem direkt vor ihrer Haustür vorbeifahrenden Motorrad überhaupt nicht aus der Ruhe bringen lassen. Nervös werden die Tiere erst, wenn man anhält.

Die Frau von der Fluggesellschaft hatte vorher gesagt, wir sollten nicht allzu lange über den entsetzlich langen Flug klagen, diese mindestens 24 Stunden, je nach Anreiseweg. Erstens sei das nicht originell und zweitens: Läge Neuseeland gleich um die Ecke, sagen wir, im Mittelmeer, wäre es ja nicht Neuseeland. Da ist was dran, und doch ist das Argument beunruhigend: Heißt das, das Land ist möglicherweise nur ganz nett und alle finden es allein deshalb so großartig, weil sie vor sich und der Welt die gewaltige Anreise rechtfertigen müssen?

Wir brauchten nicht lange, die Antwort herauszufinden. Am Tag, nachdem wir in Christchurch angekommen sind, der größten Stadt der Südinsel, haben wir unsere Motorräder vom Verleih abgeholt und erst einmal einen kleinen Ausflug gemacht auf die Banks-Halbinsel, die vor den Toren der Stadt liegt. Sie ist durch einen Vulkanausbruch entstanden, eine Ansammlung zahlloser knubbeliger Hügel, von allen Seiten durch Dutzende Buchten angefressen, mal nur mit einem verfallenen Holzschuppen am Ufer, mal mit zwei, drei Booten im Wasser, mal mit einem traumhaften kleinen Hafen, von wo aus die Touristen zum Schwimmen mit den örtlichen Delphinen gebracht werden. Die Landschaft ist wild und einsam und blaß, als hätte jemand die Farbe aus dem Bild herausgedreht, was sie irreal aussehen läßt. Ein Netz von Straßen schlängelt sich in wilden Kurven und Serpentinen durch die Berge, und was wir lernen nach diesem ersten Tag ist: Ja, Neuseeland ist ganz etwas Besonderes, und: Wir brauchen bessere Karten. Es wäre schön gewesen, wenn wir vorher gewußt hätten, daß die Küstenstraße, die uns immer am Hang entlang an so einsamen Buchten wie Pigeon Bay vorbeiführte, über viele Kilometer nur eine steile, unbefestigte Schotterpiste ist.

Andererseits hatten wir ja extra Reise-Enduros ausgesucht, um auch solche Strecken zu überleben. Inzwischen sind allerdings fast alle Durchgangsstraßen in bestem Zustand, selbst die berüchtigte Crown Range Road über den 1100 Meter hohen Paß zwischen Queenstown und Wanaka, den man lange nicht mit Mietwagen befahren durfte, weil man sonst den Versicherungsschutz verlor, ist inzwischen geteert. Nur auf der „Southern Scenic Route“ gibt es noch ein längeres Stück Schotter, und auch das ist gerade in Arbeit. Es ist verblüffend, wieviel Geld und Mühe die Neuseeländer investiert haben, ein Netz von kleinen, feinen Straßen anzulegen, wo es vor allem auf der vor touristischen Highlights nur so strotzenden Südinsel offensichtlich kaum jemanden gibt, der darauf fährt.

Außer uns natürlich.

Man ist fast allein mit immer neuen Varianten atemberaubender Landschaft und hat viel Gelegenheit zu grübeln, welches nun wohl die schönste Motorradstrecke der Welt ist: Das Stück hinter Geraldine, wenn aus der Ebene sanfte grünbraune Hügel werden und dahinter die schneebedeckten Gipfel der Alpen glänzen? Die Anfahrt auf den Lake Tekapo, dessen Gletscherwasser ihn so gleißend türkis macht, als hätte ihn jemand mit einem Glitzer-Textmarker für Mädchen nachgemalt? Die schroffe Steinküste im Nordwesten hinter Greymouth, ein bizarres Panorama von immer blasser werdenden Grautönen? Oder die sanften Obstbaumtäler ganz im Norden der Südinsel, bevor man den Abel Tasman Nationalpark erreicht mit seinen dichten grünen Wäldern, die goldene Strände und klares Wasser einrahmen, als wäre es eine Südseeinselwerbung?

Selbst die größeren Orte, in denen sich die Touristenbusse vor den Hotelburgen und den Fast-Food-Ketten stauen, wie Queenstown, das sich ganz dem organisierten Abenteuerurlaub verschrieben hat, sind halbwegs erträglich, weil sie es nicht schaffen, die Magie der sie umgebenden Landschaft zu zerstören. Natürlich kann man diese Wunderwelt auch mit kleinen Blechkästen erfahren. Oder mit großen Blechkästen, in denen man gleich übernachtet. Aber das Motorrad ist das natürliche Fahrzeug, die Natur zu erleben, die Kurven und den Wind, der immer wieder versucht, einen mit unerwarteter Kraft von der Maschine zu pusten, und daran erinnert, daß dies ein wildes Land ist. Natürlich hätte es seinen Reiz gehabt, den berühmten Fjord Milford Sound in der Sonne zu erleben. Andererseits war das Unwetter, das über ihn und uns herniederging, irgendwie angemessen, der Niederschlag, der Tausende Wasserfälle entstehen ließ, und der Sturm, der sie sofort wieder nach oben blies, bis Wolken, Meer, Nebel, Wasserfälle nicht mehr zu unterscheiden waren.

Es regnete auch hinterher, als wir wieder auf den Motorrädern saßen, noch Stunden weiter, bis das Wasser sämtliche Kleidungsschichten durchdrungen und sich schließlich in den Stiefeln gesammelt hatte. Aber dann kam die Sonne und beschien eine neue majestätische Landschaft, und die netten Menschen in einem der Bed-&-Breakfast-Häuser hängten unsere Sachen auf und teilten frisch gebackene Bananenmuffins mit uns und alles war gut. Eigentlich, versicherte man uns, regnet es auch gar nicht so viel im Februar und März in Neuseeland, der vergangene Sommer war der schlechteste seit Menschengedenken. Auf der Nordinsel hatten Jahrhundertstürme schlimme Verwüstungen angerichtet. Als wir in einem kleinen Zoo in der Nähe von Mount Bruce, nördlich von Wellington, einen Kiwi sehen wollten, das Maskottchen des Landes, dessen Population mühsam in verschiedenen Programmen erhöht wird, empfing uns die Kassiererin mit einer schlechten Nachricht. Einer der beiden Kiwis sei bei den schlimmen Regenfällen in der vorigen Woche leider ertrunken.

Also regnet es sonst wirklich nicht so viel in Neuseeland. Andererseits: Ein Vogel, der nicht nur nicht fliegen, sondern auch nicht schwimmen kann? Womöglich trifft so ein Tier das Aussterben nicht ganz unverdient.

Bambam


Bei der Arbeit für „Tagesschaum“, 2013. Foto: WDR

Mein Hund ist eher der distanzierte Typ. Nicht wie diese Golden Retriever, die Aufmerksamkeit und Liebe wie Schwämme aufsaugen und abgeben, im Gegenteil.

Der erste Abend bei mir in der Wohnung, im Sommer 2010, war geprägt von größerer beidseitiger Ratlosigkeit. Ich hatte vorher noch nie einen Hund gehabt und fand das Gefühl sehr merkwürdig, plötzlich mit so einem fremden Lebewesen zusammenzuleben. Ich glaube, ihm ging es ganz ähnlich.

Er hatte in seiner Heimat in Ungarn bei einer Familie im Hof gelebt, durfte wohl nur gelegentlich ins Haus. Die Frau von dem Verein, der den Hund vermittelt hat, warnte mich, dass solche Hunde sich auf den krassen Statuswechsel gerne was einbilden, den es bedeutet, mit einem Mal drinnen wohnen zu dürfen. Bei Bambam hatte ich eher das Gefühl, dass er lieber im Hof geschlafen hätte. An einer praktischen Schlaf- und Liegekuhle unter einem Busch hat er über die Jahre regelmäßig gearbeitet.

Es fühlte sich am Anfang eher wie ein etwas unpersönliches Untermietverhältnis an, später wie eine lose WG. Ein anderer Hundebesitzer erzählte mir, es hätte ungefähr ein Jahr gedauert, bis sein Hund bei ihm zuhause wirklich angekommen sei, das sei bei Huskys völlig normal. Die seien auch so gezüchtet worden, nicht zu anhänglich zu sein, damit man im Zweifel bei schlechten Zeiten in der Wildnis keine Hemmungen hätte, sie zu essen. Ich fand das nicht ganz unplausibel, aber dann habe ich im Urlaub in Nordnorwegen sehr viele Huskys getroffen und die waren so unfassbar überschwänglich, liebeshungrig und verschmust, dass ich beschloss, dass es doch eher einfach mein Hund ist, der distanziert ist, und nicht seine Sorte Hund. (Außer Husky steckt noch Schnauzer in ihm.)

Es war erstaunlich schwer, ihm beizubringen, neben mir an der Leine zu gehen, ohne zu ziehen. Irgendwann, nach vielen Stunden, hat die Hundetrainerin gesagt, wir probieren das jetzt mal ohne Leine. Für mich klang das völlig absurd, aber komischerweise ging das fast auf Anhieb. Ohne Leine, auf Kommando, bei Fuß, gar kein Problem.

Keine Leine = nichts woran man ziehen könnte oder müsste.

Was auch erstaunlich leicht war: ihm beizubringen, an Straßenkreuzungen zu halten. Sobald das zuverlässig klappte, bestanden unsere Gassi-Runden daraus, dass der Hund vorauslief und sein Ding machte und am nächsten Bordstein auf mich wartete, um dann wieder vorzulaufen. „Zusammen spazieren gehen“ ist mit meinem Hund ein Euphemismus.

Draußen in der Natur ist das so ähnlich. Es ist nicht so, dass er weglaufen will oder bestimmen möchte, wo es langgeht. Meistens wartet er, sehr vernünftig, an Weggabelungen auf mich und weitere Ansagen. Aber wenn er sich sonst auf der Strecke mal umdreht, um zu sehen, wo ich bleibe, wartet er nicht ab, bis ich zu ihm aufgeschlossen habe; es reicht ihm zu sehen, dass ich irgendwo am Horizont bin, um sich wieder umzudrehen und weiterzutrotten.

Es ist ihm schon wichtig, dass ich nicht weg bin. Aber da sein muss ich auch nicht.

Er konnte erstaunlicherweise auf Anhieb relativ gut an der Leine am Fahrrad laufen, aber was auch hier viel besser ging: Während ich auf der Straße fuhr, parallel dazu auf dem Bürgersteig zu laufen. Er machte daraus manchmal ein angedeutetes kleines Wettrennen, jeweils mit dem Etappenstopp: an der nächsten Kreuzung. Beim Fahrradfahren in der Natur hatte er oft den größten Spaß, wenn er nicht direkt neben mir lief, sondern parallel ein paar Meter entfernt durch den Wald oder das Gebüsch.

Im Sommer im Café kann es passieren, dass er sich nicht unter dem Tisch einrollt, sondern mit ein paar Meter Abstand auf den Bürgersteig legt.


Foto: Gabriel Yoran

Abgesehen von ein paar Grundlagen habe ich nicht versucht, dem Hund viele Kommandos oder Kunststücke beizubringen. Ich weiß nicht, ob er dazu Lust gehabt hätte, ich hatte nicht das Gefühl.

Aber das eine Kommando, das wir wirklich viel geübt haben, lautet: „Schau!“ Es soll den Hund dazu bringen, einen anzugucken, Blickkontakt herzustellen. Bei Schäferhunden ist das nichts, was man überhaupt groß üben müsste, die sind von sich aus ganz scharf darauf, einen zu beobachten und eine Reaktion oder einen neuen Auftrag zu bekommen.

Mein Hund will das eher nicht so. Das Kommando „Schau!“ trainiert man zum Beispiel so, dass man dem Hund ein Stück Wurst hinhält, er es aber erst bekommt, wenn er nicht mehr das Futter anguckt, sondern den Menschen, der es hält. Das hat bei meinem Hund insofern geklappt, dass er es in genau dieser Situation tut, wenn er muss, aber auch keine Zehntelsekunde länger als nötig. Außer wenn er versucht, mich durch Anstarren zum Rausgehen zu bewegen, hat mein Hund kein Interesse, mit mir groß Blicke auszutauschen.

Wir haben in einem ähnlichen Sinne zusammen gelebt wie wir zusammen spazieren gegangen sind.

Falls sich das alles abschreckend liest, nach einer wirklich unbefriedigenden Mensch-Hunde-Beziehung, muss ich das korrigieren: Dieser Hund, der genau so ist, ist schon genau mein Hund. Ich weiß nicht, ob ich damit umgehen könnte, wenn mein Hund dauernd meine Aufmerksamkeit oder Nähe suchte.

Bambam ist nicht sehr anschmiegsam. Aber das bin ich auch nicht.

Ich hätte mir, zugegeben, manchmal gewünscht, dass es häufiger eine Mittelposition gibt, beim Spazierengehen zum Beispiel irgendwas zwischen den Extremen „Bei Fuß“ und „Lauf ruhig 100 Meter vor bis zur nächsten Kreuzung“, so ein: Ich schnupper hier frei rum, aber bleibe ganz in der Nähe. Und, ja, es ist auch schwer, es nicht gelegentlich persönlich zu nehmen, wenn der Hund deutlich macht, dass er gerne auf Abstand bleibt. Aber ich liebe es eigentlich, wie unabhängig, wie selbständig er ist. Meine Gene.

Die ewige Frage: Wie kommt es, dass Hundebesitzer und ihre Tiere einander oft so ähnlich sind oder werden? Mein Hund und ich sind beide grau mit Bart, manchmal haben Fremde auf der Straße deshalb gegrinst, wenn sie uns zusammen gesehen haben (oder genauer: mich eine halbe Minute nach meinem Hund). Aber viel faszinierender sind die inneren Parallelen.

Als ich mir den Hund ausgesucht habe, wusste ich nicht, dass der so ist. Es kann schon sein, dass er auch durch mich so wurde, weil mir das ganze Helikopterherrchenhafte fehlt. Ich zögere zu schreiben, dass ich ihn zu seiner Unabhängigkeit erzogen habe, denn wenn überhaupt, war es eher ein Lassen denn ein aktives Tun. Vermutlich hätte jemand anderes ihm andere Dinge beigebracht, hätte ihn vielleicht dazu gemacht, menschenfixierter zu sein oder anhänglicher, aber eigentlich denke ich, dass diese Unabhängigkeit schon Teil seines Wesens ist.

Keine Ahnung, ob ich das damals schon wahrgenommen habe, als ich ihn zum ersten Mal getroffen habe und sofort wusste: Wenn ich einen Hund will, dann diesen, und wenn es diesen Hund gibt, warum dann nicht einen Hund haben? Aber das wäre eine sehr unbewusste Wahrnehmung gewesen.

Es ist ja auch egal: Was für ein Glück, dass ich (über den viel zu früh verstorbenen Stefan Vogel) diesen Hund getroffen habe. Und dass er ein Teil meines Lebens geworden ist.

Diese ganzen Geschichten, von denen man hört und liest, von Hunden, die genau spüren, wenn einem was fehlt, und die dann ankommen und einen trösten, oder diese Sprüche, dass Hunde die besseren Freunde oder Partner sind, weil sie bedingungslos und vorurteilsfrei lieben – mit all dem kann ich nicht dienen. So ist er nicht.

Das bedeutet nicht, dass wir keine Bindung haben. Sarah Kuttner hat das schöne Wort von der langen „emotionalen Schleppleine“ erfunden, an der er hängt (oder ich). Ich weiß, dass ich nicht bloß jemand für ihn bin, der ihm die Futterdosen aufmacht.

Merkwürdig ist trotzdem, dass er zum Beispiel irgendwann fast nur noch mit mir Gassi gehen wollte. Mit jemand anderes aus dem Büro mal schnell um den Block – das ging nicht mehr; meistens zog er nach kürzester Zeit energisch zurück zum Ausgangspunkt. Die ausgedehnten Waldspaziergänge mit meinem Vater morgens, während ich noch im Bett lag, klappten leider auch nicht mehr, weil er vielleicht gerade noch sein Geschäft erledigte und dann zurück zu mir wollte. (Dabei hätten mein Vater und er ausgedehnteste Wanderungen miteinander machen können, was wirklich eher ein gemeinsames Hobby der beiden ist als meins.)

Es ist rätselhaft, warum er darauf besteht, mit mir zu gehen, um dann aber nicht wirklich mit mir zu gehen. Vielleicht kann irgendein Tierpsychologe das erklären. Oder, noch besser: Vielleicht ist das eine tolle komplexe Metapher für unsere ganze Beziehung, über unsere besondere Mischung aus Nähe und Distanz, Vertrautheit auf Abstand.

Emotionen zu zeigen, positive noch dazu, ist nicht sein Ding. Freudiges Schwanzwedeln ist fast ausschließlich für andere Hunde reserviert. Einmal in einem Restaurant hat ihn ein Mädchen bestimmt zehn Minuten lang gestreichelt, ohne dass er ein einziges Mal ein offensichtliches Zeichen machte, dass ihm das gefiel. (Ich glaube, es gefiel ihm.)

Abends zieht er sich gern irgendwann einfach ins Schlafzimmer zurück. Das verblüfft immer wieder Leute, wenn sie das sehen oder plötzlich merken, dass er nicht mehr da ist.

Er hat keinen größeren Drang, auch mal zu mir ins Bett zu kommen. Nur die Bequemlichkeit des Sofas, die nimmt er gerne mal in Anspruch.

Wenn er nachts aus irgendeinem Grund raus muss (das sind selten gute Gründe), dann versucht er meine Aufmerksamkeit zu erregen, in dem er ganz, ganz leise Fiepgeräusche macht. Oder, neuerdings, vorsichtige Fußtrippelgeräusche. Im Grunde versucht er, mich zu wecken, ohne mich zu wecken.

Er gibt sich auch große Mühe, wenn er sich mal übergeben muss, dass alles auf den Teppich geht und nichts auf den blanken Fußboden daneben, den man einfach abwischen könnte.

Ungefähr ein Jahr, nachdem er bei mir eingezogen war, fuhr ich für zwei, drei Wochen in den Urlaub und gab ihn in eine Hundepension auf dem Land, wo viele Hunde in zwei getrennten Bereichen tagsüber miteinander herumtobten. Das war das beste, was ihm passieren konnte. In dieser kurzen Zeit lernte er von den anderen Hunden die ganzen wichtigen Hunde-Skills. Vorher war er ein ungestümer Halbstarker gewesen, rüpelig, gelegentlich ein Mobber. Hinterher wusste er, wie man mit anderen Hunden kommuniziert, wie man Streit aus dem Weg geht, wie man Situationen deeskaliert.

Noch heute bin ich jedesmal stolz, wenn ich sehe, wie er sich einem fremden Hund vorstellt: Er bleibt mit ein bisschen Abstand stehen, wedelt sehr freundlich mit dem Schwanz und wartet, bis der andere die restliche Distanz überwindet. Vorbildlich, wie aus dem Hunde-Knigge. Oder wie er es regelmäßig schafft, doofe Situationen zu meiden: Wie er einen ängstlichen Hund oder einen Hund mit ängstlichem Besitzer komplett ignoriert. Oder um einen bedrohlichen Hund oder zwei Hunde, die irgendwie miteinander Stress haben, einfach einen Bogen macht. Zugegeben, das klappt nicht immer, es gibt Situationen, da ist auch mein Hund doof oder findet andere Hunde doof und zeigt ihnen das, aber das ist die Ausnahme.

Nur deshalb funktioniert es, dass er so oft ohne Leine unterwegs ist, und ich weiß schon, wie viele Leute trotzdem darüber empört sind, weil es nicht erlaubt ist und, wichtiger: nicht ungefährlich. Ich würde trotzdem sagen, dass mein Hund ohne Leine weniger Probleme macht als 99 Prozent aller Hunde an der Leine.

Meine Idealvorstellung von einem Leben als Hund ist die von Ice aus der Netflix-Doku-Reihe „Dogs“: Der hat einerseits den Job, einen Fischer bei der Arbeit zu begleiten, vor allem aber dreht er jeden Tag allein seine Runde durch den Ort San Giovanni am Comer See, pirscht durch die Straßen, begrüßt die anderen Einwohner, sieht nach dem Rechten. Schon klar, dass es selbst in einem abgelegenen Touristenörtchen ein kleines Wunder ist, dass das so funktioniert, und in einer Stadt wie Berlin undenkbar. Aber die Runde bei mir beim Büro um den Block, um sich jeden Tag zwei kleine Wurststicks am Quarkkeulchenstand abzuholen, die hätte er gut auch alleine drehen können, und, naja, je nachdem, wie eilig er am jeweiligen Tag gerade hatte, dort anzukommen, drehte er den letzten Teil der Runde tatsächlich alleine.

Unter den problematischen leinenlosen Situationen litt eigentlich fast immer nur ich. Wenn ich irgendwo am Waldrand stand und wartete, bis er endlich wieder da war. Oder auch in der Mitte des Waldes, bis er gemerkt hatte, dass ich gar nicht mehr die üblichen 100 Meter hinter ihm war, und er umdrehte und mit dem langsamstmöglichen Tempo zurückkam.

Der große Unterschied zwischen ihm und mir: Für ihn ist eigentlich nur die Welt draußen interessant, da wird alles beschnuppert, beobachtet, markiert, begrüßt, ausgebuddelt. Ich bin immer schon ein Drinnen-Typ gewesen. Das war auch der pädagogische Gedanke, oder jedenfalls die Rationalisierung des auf mich zutiefst irrational wirkenden Beschlusses, sich einen Hund zuzulegen: Dass es mir gut täte, mal häufiger an die sogenannte Frische Luft zu kommen.

So habe ich in den letzten 13 Jahren unendlich viele Parks, Heiden, Wälder und vor allem Seen in und um Berlin kennengelernt, die ich sonst vermutlich nie gesehen hätte. Mit dem Hund an meiner Seite (im weiteren Sinne) hatte es plötzlich einen besonderen Sinn, all diese Wege zu erkunden, Hügel zu erklimmen, Seen zu umrunden.

Einmal, da hatte ich ihn noch nicht lang, waren wir abends in der Dämmerung am Strand auf Usedom. Eine Freundin und ich saßen auf einer großen Treppe, der Hund stromerte irgendwo rum, ich hatte ihn aus den Augen verloren und war ein bisschen besorgt. Dann kam er zu meiner großen Erleichterung zu uns gelaufen und ich dachte begeistert: Na also, der Gute, er kommt schnell wieder zurück!

Dann drehte er um und begann erst richtig, allein die Gegend zu erkunden. Er hatte sich offenbar nur kurz versichert, dass wir noch da sind. Nach dem Motto: Ah, ihr bleibt hier, okay, dann hau ich nochmal ab.

Aber all das sind Geschichten aus seiner Sturm- und Drangzeit, inzwischen ist er für solche Eskapaden viel zu vernünftig (oder zu faul).

Vor ein paar Wochen ist 14 Jahre alt geworden. Er hat all das, was Hunde in dem Alter so an Leiden haben, er sieht nicht mehr ganz so gut, er hört gar nicht mehr gut (wobei ich den Verdacht habe, dass er das manchmal strategisch nutzt), er hat vermutlich Arthrose, sein Bart ist dünn geworden. Vor allem aber macht sein Herz schlapp.

Im Sommer 2021 wurde eine Herzklappenverdickung bei ihm festgestellt, was wohl eine häufige Erkrankung bei diesen Hunden ist.

Inzwischen ist daraus eine „hochgradige Mitralklappeninsuffizienz“ geworden; „es gibt Hinweise auf eine bevorstehende Dekompensation“, steht im Befund vom Januar 2023. Seitdem bekommt er vier verschiedene Medikamente; vor kurzem ist noch eins gegen eine Schilddrüsenunterfunktion dazugekommen.

Trotzdem ist er am vorletzten Wochenende noch fidel und, soweit ich es sagen kann, unbeschwert durchs geliebte Erpetal gelaufen. Dann hat sich sein Zustand plötzlich rapide verschlechtert, er ist extrem schwach, will nicht mehr laufen, muss zum Fressen überredet werden. Die Blutuntersuchung ergab: Die Zahl der roten Blutkörperchen ist viel zu niedrig, die Ursache ist unklar, viele Erklärungen kommen in Frage, fast alle sehr unschön. Selbst wenn man wüsste, woran es genau liegt, könnte man wenig tun: Eine Narkose kommt bei seinem Herzen nicht in Frage (abgesehen davon, dass grundsätzlich nicht viel dafür spricht, einen 14-jährigen Hund überhaupt operieren zu lassen).

Er bekommt jetzt ein Antibiotikum und Kortison, der Tierarzt sagte, es sei nicht auszuschließen, dass das hilft – das klingt nicht einmal so, als wäre es das wahrscheinlichste Szenario. Der Tierarzt betonte außerdem mehrmals, dass 14 Jahre wirklich sehr, sehr alt sei für so einen Hund, und er ließ keinen Zweifel, dass es Zeit sein könnte, langsam Abschied zu nehmen, mit etwas Pech sogar schnell.

Und jetzt sitze ich hier und schreibe das alles auf und ertappe mich dabei, dass ich größere Teile dieses Textes zuerst schon in der Vergangenheitsform formuliert hatte. Er scheint im Moment keine Schmerzen zu haben, aber es bricht mir das Herz, wenn ich sehe, dass es ihn die letzten Kräfte kostet, im kleinen Park direkt um die Ecke noch schwanzwedelnd und schnuppernd andere Hunde zu begrüßen.

Es ist eine sehr schlechte Kombination: Sein Herz schafft es ohnehin kaum, frisches Blut durch den ganzen Körper zu pumpen, und nun enthält dieses Blut auch noch viel weniger Sauerstoff als normal.

Das Leben im dritten Stock ist jetzt ein Fluch. Auf dem Rückweg von jeder kleinen Runde verlangsamt er schon ein gutes Stück vor der Haustür und muss überredet werden weiterzugehen. Ich bilde mir ein, dass er das macht, weil es ihn vor dem Treppensteigen graut. (Das Leben unten im Hof, neben dem Hintereingang der Pizzeria, wo es oft so gut riecht, und neben den Mülltonnen, wo es womöglich für ihn auch oft gut riecht – es muss ihm jetzt noch attraktiver erscheinen als sonst schon.)

Neulich hat er nach exakt zweieinhalb von drei Stockwerken beschlossen, dass das wirklich nicht zu erklimmen ist. Er hat daraufhin, wie in einer billigen Komödie, einfach kehrt gemacht und ist alles wieder runter gelaufen bis ins Erdgeschoss. Ich habe ihn dann hochgetragen, das mache ich inzwischen immer, er mag das eigentlich nicht, aber oben angekommen ist der Unterschied in seiner Verfassung eindeutig. Immerhin werd ich so fitter. Er wiegt knapp 25 Kilo.


Cartoon: Johannes „Beetlebum“ Kretzschmar

Seit Jahren haben Leute mich, wenn sie ihn gesehen haben, gefragt, ob der Hund schon alt ist. Ich hab dann wahrheitsgemäß immer, leicht genervt, geantwortet: Nein, der ist einfach grau. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich diese Antwort ändern musste. Und jetzt merke ich, was das wirklich bedeutet.

Auch der Satz der Tierärztin vor gut eineinhalb Jahren, dass dieses eine Herz-Medikament die Lebenszeit durchaus um ein Jahr verlängern könne, klingt plötzlich ganz anders: Damals war das so eine abstrakte und sehr hypothetisch klingende Rechnung. Jetzt erst wird mir klar, wie sehr dabei schon mitschwang, dass womöglich die letzten Monate angebrochen waren.

Und ich frage mich, was der Hund mir bedeutet, was er mit meinem Leben angestellt hat, welche Lücke er reißt, wenn er nicht mehr da ist. In diesen Tagen wünschte ich mir, er wäre ein bisschen anschmiegsamer, weil ich das Bedürfnis habe, ihn in irgendeiner Form in den Arm zu nehmen. Aber er ist so zurückhaltend wie immer und schiebt seinen Kopf nur manchmal so unter meine Hand, dass ich seine Stirn richtig gut kraulen kann oder diese eine gute Stelle hinter dem Ohr.

Bei einem Hund, der so sparsam ist damit ist, seine Zuneigung zu zeigen, ist jedes kleine Zeichen ganz besonders toll.

Sein Hundefutter will er nicht mehr, erstaunlicherweise egal in welcher Geschmacksrichtung, aber Würstchen liebt er immer noch. Am vergangenen Samstag habe ich beschlossen, nicht mehr zu versuchen, ihm irgendwie doch noch das Dosenfutter schmackhaft zu machen. Fuck it, habe ich mir gedacht, als ich zufällig vor einer Riesenfamilienpackung Würstchen im Supermarkt stand. Es gibt wirklich keinen Grund mehr dafür, darauf zu achten, dass er sich gesund ernährt: Wenn ihn Würstchen noch glücklich machen, kriegt er halt Würstchen ohne Ende.

Er ist unglaublich behutsam, wenn er einem Futter aus der Hand nimmt.

Er hat keine Lust, Stöckchen zurückzuholen, es sei denn, man wirft sie ins Wasser.

Sein allergrößtes Hobby ist das Buddeln. Er liebt den Schnee und hasst den Sommer. Er liebt es zu schwimmen und hasst es gebadet zu werden. Er liebt es, mit Vollgas über den Sandstrand zu jagen, und hasst diese offenen Metallgitter, über die man bei Brücken oder Treppen laufen muss. Er liebt das Erpetal, den Plänterwald, die Königsheide, Käse, Leberwurst, harte, kalte Fußböden, den großen Sitzsack, den meine Mutter ihm genäht hat, Ute und Martina.

Bei seinen Abneigungen scheut er kein Klischee: Er lehnt Eichhörnchen ab, Katzen und Postboten. Oder genauer: Postbotenfahrräder. Ich wüsste wirklich gerne, was er in seiner Kindheit mal Schlimmes mit einem Postbotenfahrrad erlebt hat, das dazu führt, dass er auch nach fast 13 Jahren in Deutschland und garantiert ohne ein einziges problematisches Postbotenfahrraderlebnis an diesen Dingern nicht entspannt vorbeigehen kann, sondern sie im Vorbeilaufen wütend ankläffen will. (Ja, das ist nicht gut.)

Ach, und Schweineohren. Er hat panische Angst vor Schweineohren. Und vor Schweinen, wie wir mal in der Nähe eines Bauernhofes in meiner Heimat herausfinden mussten, aber in Berlin begegnet man denen ja nicht so oft.

Er hat jeden Tag Menschen, an denen er vorbeischlurfte, zum Lächeln gebracht. Und die Verzücktheit, die er bei manchen auslöst, ist mit zunehmendem Alter eher noch gewachsen. Und fast jeder sagt etwas originelles wie: „Oh, ein Wolf!“

Er ist unabhängig und souverän, entspannt und skeptisch, eigensinnig und cool. Er ist ein richtig guter Hund, ich bin glücklich und ein bisschen stolz, dass ich ihn meinen Hund nennen durfte, und ich vermisse ihn jetzt schon.

Griechenland will den Euro verlassen oder nicht oder ist auch egal.

Ich fürchte, dass selbst Sisyphos den Auftrag ablehnen würde, all die Fehler, Irrtümer, Boshaftigkeiten, Unterstellungen, Voreingenommenheiten, Verdrehungen und Ressentiments in der Berichterstattung deutscher Medien über die neue griechische Regierung richtigzustellen, aus Sorge, die Aufgabe könnte ihn zu einem unglücklichen Menschen machen. Und natürlich wäre es komplett absurd, damit ausgerechnet bei einem Medium von der Seriosität von „Focus Online“ anzufangen.

Aber aus irgendeinem Grund bin ich über ein Video dort gestolpert und fand es auf noch mal besondere Art ekelhaft. Die „Focus Online“-Redakteurin Antonia Schäfer belehrt darin in einem Tonfall großer Herablassung den griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tispras, dass er ein Idiot ist. Die Pläne der neuen Regierung seien

in etwa so, als würde ich zu meinem Bankberater gehen und sagen: Sie sind ein mieses Arschloch, ich behalte ihr Geld aber trotzdem und will noch mehr haben.

Sie erklärt, was ein „Dirty Grexit“ sei, ein „schmutziger Austritt Griechenlands“ aus dem Euro, und sagt:

Das bezieht sich darauf, dass der griechische Finanzminister angekündigt hat, die Eurozone verlassen zu wollen und nicht mehr mit der Troika zu kooperieren. Sollte Griechenland aber wirklich aus dem Euro austreten wollen, schadet das Griechenland. Und nicht dem Rest Europas.

Dem ließe sich nun einiges entgegnen. Ich möchte es bei dem Offensichtlichsten belassen: Der griechische Finanzminister hat nicht angekündigt, die Eurozone zu verlassen. Er wird, im Gegenteil, nicht müde, zu betonen, dass er die Eurozone nicht verlassen will.

Ich habe Daniel Steil, den Chefredakteur von „Focus Online“ gefragt, wie Frau Schäfer darauf kommt. Er antwortete mir, „Focus Online“ sei hier ein „Fehler unterlaufen“:

Die Aussagen des Finanzminsters wurden am Wochenende zwar dahingehend interpretiert, im O-Ton hat er das aber nicht gesagt. Wir ändern das ab.

Und tatsächlich: „Focus Online“ hat den ersten Satz unauffällig aus dem Video herausgeschnitten. Nun sagt Frau Schäfer folgendes:

Das bezieht sich darauf, dass der griechische Finanzminister angekündigt hat, die Eurozone verlassen zu wollen und nicht mehr mit der Troika zu kooperieren. Sollte Griechenland aber wirklich aus dem Euro austreten wollen, schadet das Griechenland. Und nicht dem Rest Europas. Direkt nach dem Vorstoß seines Finanzministers wendete Tsipras sich an die Führer der EU.

Nun ist also von einem „Vorstoß seines Finanzministers“ die Rede, von dem nicht mehr die Rede ist. „Focus Online“ hat aus einem grotesk falschen ein komplett unverständliches Video gemacht. Mehr kann man von diesem Angebot aus dem Hause Burda nicht verlangen.

Und die Frau, die einen Austritt aus dem Euro nicht von keinem Austritt aus dem Euro unterscheiden kann, erklärt dem Publikum weiter kindgerecht, was da gerade (nicht) passiert.

(Kann es eigentlich sein, dass Burda seine rein werbefinanzierten Online-Angebote „Focus Online“ und „Huffington Post“ in Wahrheit heimlich im Auftrag von Springer betreibt, um täglich anschaulich für Paid Content zu werben?)

Flausch am Sonntag (62)




Im Lake District, ganz im Nordwesten Englands, leben die tollsten Schafe: Herdwicks. Sie sind außerordentlich selbstständig, robust und hart im Nehmen, so dass man sofort die These glauben will, dass die Wikinger sie vor tausend Jahren hierhin mitgebracht haben. Und andererseits sind sie hinreißend niedlich mit ihren Knopfaugen im glatten, raureiffarbenen Gesicht und dem zotteligen marmorfarbenen Flauschkörper — als wären sie von oder für Kinderbuchillustratoren entwickelt worden.

Ich war vor zehn Tagen dort und habe es auch geschafft, den @HerdyShepherd1 zu treffen. Mein Bericht (und eine Art Liebeserklärung an diese Schafe) steht heute in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.

Der Fotograf Ian Lawson hat ein Buch gemacht mit grandiosen Bildern von der Landschaft und den Tieren, die sie geprägt haben (und umgekehrt). Durch viele Seiten kann man sich hier blättern:

Flauschige Ostern!

Das „Stern“-Interview als wohldefinierte Methode zur genussreichen Onanie

Dass Leute etwas schaffen, das finden Sie toll, oder?

Ja. Das finde ich toll. Leistung finde ich toll.

Sie sind Kapitalismus pur.

Es ist mir nicht ganz leicht gefallen, mich zu entscheiden, aber ich glaube, das ist dann doch meine Lieblingsstelle. Die Moderatorin Sylvie Meis, bekannt geworden als Sylvie van der Vaart, erzählt dem „Stern“, was sie an ihrer RTL-Show „Let’s Dance“ mag. Dass das „richtiges Entertainment“ sei, „kein Trash“, sondern „tolle Shows, bei denen sich die Leute fragen: ‚Wow, wie schaffen die das?'“ Und die „Stern“-Interviewer halten ihr dann vor: „Sie sind Kapitalismus pur.“

Darauf muss man erst einmal kommen. Aber die „Stern“-Leute sind noch auf ganz viel anderes gekommen. Man erfährt in diesem Interview nicht so wahnsinnig viel über Sylvie Meis. Aber darüber, wie toll die „Stern“-Interviewer Nora Gantenbrink und Stephan Maus sich und ihre Einfälle finden. Sie sind offenkundig ganz besoffen davon.

Frau Meis, Ihre letzte Chance: Steigen Sie aus. Nie wieder Werbung für Zahnzwischenraumreiniger, nie wieder Tanzshows, nie wieder Paparazzi. Züchten Sie Schafe in Neuseeland.

Nein.

Bienen in Südfrankreich.

Nein.

Ein norwegischer Bauer. Echte Liebe. Ein Fjord. Natur gucken, knarrende Holzkojen.

Nein.

Das wahre Leben, das echte.

Nein.

Oder weiter vorne die Frage:

Es gibt drei ungelöste Rätsel in der Bundesrepublik Deutschland: Wer hat Kohl die Spenden überreicht? Wer saß neben Margot Käßmann, als sie angetrunken Auto fuhr? Und was geschah Silvester 2012 bei den van der Vaarts?

Nun könnte man da natürlich mit viel Wohlwollen annehmen, dass es sich um einen Witz oder gar etwas Ironieähnliches handeln könnte. Dagegen spricht allerdings, dass die „Stern“-Leute die Frage, was Silvester 2012 bei den van der Vaarts passierte, ja damit Sylvie van der Vaart tatsächlich stellen. Deren Antwort lautet übrigens:

Das ist etwas, das wir niemals sagen werden. Das braucht kein Mensch zu fragen. Das ist privat.

Diese Antwort könnte nun Leute überraschen, die die Titelseite des „Stern“ gesehen haben und das dortige Versprechen: „SYLVIE VAN DER VAART – So offen hat sie noch nie gesprochen“. Tatsächlich sollte man als Leser immer stutzig werden, wenn Journalisten nicht mit etwas werben, was jemand gesagt hat, sondern bloß damit, dass jemand etwas gesagt hat. (Andererseits ist es natürlich passend, weil die ganze Berichterstattung über die Van-der-Vaart-Sache im Wesentlichen aus „Bild“-Schlagzeilen wie „Jetzt spricht die Mutter!“ zu bestehen schien.)

Jedenfalls hört sich das Offen-Sprechen von Sylvie Meis im „Stern“ konkret so an:

Ich habe nichts Schlechtes über Rafael und Sabia zu sagen. (…)

Bestimmte private Sachen sollen auch privat bleiben. (…)

Ich habe alles dazu gesagt und werde mich nicht mehr wiederholen.

Und so:

Wie viele Berater schrauben am Image von Sylvie Meis?

Ich habe keinen PR-Berater und auch keine PR-Strategie.

In Ihrem Kopf auch nicht? Da ist doch ein PR-Berater? Zwei?

Jetzt schon zwei?

Mindestens. Sie haben eine ganze PR-Firma im Kopf.

Nein.

Sie sind wirklich so?

Ich habe keine PR-Firma im Kopf.

Und so:

Mattel hat eine Barbie nach Ihnen gestaltet. (…) Ist es nicht peinlich, wenn man Barbie-Vorbild ist?

Selbst Angela Merkel hat eine eigene Barbie. Liz Mohn hat eine eigene Barbie. Ganz viele Powerfrauen haben eine Barbie.

Manche Eltern verbieten ihren Töchtern, mit Barbies zu spielen.

Muss jeder selbst wissen.

Verstehen Sie, warum?

Ich werde nicht eingehen auf Barbie-Diskussionen.

(…) Was ist so schlimm an einer Barbie-Diskussion?

Ich stehe nicht für Barbie.

Sind Sie verletzt, wenn man Sie eine Barbie nennt?

Ob Barbie oder eine andere Marke: Ich bin keine Puppe. Ich bin ein Mensch.

Diese beiden letzten Sätze, ihres Kontextes entkleidet, fand der „Stern“ dann spektakulär genug, um damit die ganze Geschichte zu überschreiben.

Nein, Sylvie Meis sagt nicht viel. Muss sie aber auch nicht. Tun ja ihre Interviewer.

Kann es sein, dass sich die Welt in Ihnen täuscht: Man hält Sie für eine nette, hübsche, etwas einfältige Blondine. Dabei sind Sie eine gerissene Spielerin, die im Krieg um Aufmerksamkeit jede Woche eine Schlacht gewinnt und auf diese Weise Millionen verdient.

Und was muss ich darauf antworten?

Ob das zutrifft?

Nein.

Schön, dass wir drüber geredet haben, wobei mich schon interessieren würde, was die Interviewer dachten, was Frau Meis darauf antworten könnte.

Würden Sie manchmal lieber für Frieden und Freiheit kämpfen, statt zu moderieren?

Nein. Möchten Sie lieber für Frieden und Freiheit kämpfen, statt Artikel zu schreiben?

Würden Sie lieber für Arte arbeiten als für RTL?

Nein.

Hier war ich ein bisschen enttäuscht, dass Frau Meis nicht zurückgefragt hat: „Würden Sie lieber für eine richtige Trash-Zeitschrift arbeiten statt bloß für den ‚Stern'“, obwohl die Interviewer darauf vermutlich, wenn sie offen gesprochen hätten wie noch nie, geantwortet hätten: „Nein, wir können uns keinen anderen Arbeitsplatz vorstellen, wo man sich auf seine eigenen Interviews so gut einen runterholen kann.“

In diesem Sinne konfrontieren sie die RTL-Moderatorin dann noch mit einem 25 Jahre alten Enzensberger-Zitat:

Der Dichter Hans Magnus Enzensberger schreibt: „Das Fernsehen wird primär als eine wohldefinierte Methode zur genussreichen Gehirnwäsche eingesetzt; es dient der individuellen Hygiene, der Selbstmeditation. Das Nullmedium ist die einzige universelle und massenhaft verbreitete Form der Psychotherapie.“ Hat er recht?

Und fragen schließlich bündig:

Ist Fernsehen böse?

Sie hat darauf leider nicht geantwortet: „Nicht im Vergleich zum ‚Stern'“, aber immerhin gesagt:

(…) Ich finde es schade, dass man andere Menschen so fertigmacht, nur weil man sich selbst so intelligent findet.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Interviewer gemerkt haben, dass das gegen sie ging.