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Der Weihnachtsskandal von 9Live (2)

Erinnern Sie sich noch an das Geschenk, das 9Live seinen Zuschauern am zweiten Weihnachtstag gemacht hat, als der Sender über 13 Stunden lang keinen Anrufer ins Programm durchstellte, aber alle halbe Stunde so tat, als sei die Sendung nun zuende? (Hier anzusehen.)

Ich hatte ja damals nicht nur 9Live um eine Stellungnahme gebeten (die für solche Fälle eigens einen Presseanfragenbeantwortungsroboter aus dem Nachlass des sowjetischen Informationsministeriums erworben zu haben scheinen), sondern auch einige, zugegeben: schlecht gelaunte Fragen an die Bayerische Landeszentrale für neue Medien (BLM) geschickt.

Am vergangenen Freitag erreichten mich nach über fünf Wochen die Antworten:

1. Ist der BLM der Fall bekannt?

Ja, der BLM ist der Fall bekannt.

2. Ist die BLM in diesem Fall bereits tätig geworden?

Ja, die BLM ist bereits tätig geworden. Wir haben zu dem Fall eine schriftliche Anhörung von 9Live durchgeführt. Die Stellungnahme des Senders ist inzwischen eingegangen und wird von uns derzeit geprüft.

3. Ist dieses Vorgehen vereinbar mit den Gewinnspielregeln der Landesmedienanstalten?

Wir gehen davon aus, dass durch die Moderation selbst sowie durch die Moderation unterstützenden Crawls, insbesondere durch die mit unterschiedlicher Bedeutung belegten Begriffe „Sendungsende“, „Sendeende“, und „Spielende“, irreführende bzw. falsche Aussagen über die Spieldauer sowie über die Beendigung des Spiels getroffen wurden (Nr.5.2 Satz 1 GewinnSpielRegeln). Ferner gehen wir davon aus, dass nicht vorhandener Zeitdruck aufgebaut wurde (Nr. 5.2 Satz 5 GewinnSpielRegeln). Die GewinnSpielRegeln enthalten keine ausdrücklichen Bestimmungen darüber, innerhalb welchen Zeitraums Anrufer spätestens durchgestellt werden müssen. Ungeachtet dessen prüfen wir die Möglichkeit eines rechtlichen Vorgehens.

4. Angenommen, 9Live würde ab sofort überhaupt keinen Anrufer mehr ins Studio durchstellen: Wann schätzen Sie, würde die BLM das bemerken?

Die Programmbeobachtung der BLM mit einem erprobten System aus Stichproben, Anlass bezogenen und Routinekontrollen entspricht anerkannten Standards und führt erfahrungsgemäß zur Feststellung von Verstößen in angemessener Zeit. Die BLM verfügt aber nicht über das Personal, die Programme lückenlos zu beobachten. Dennoch würde uns das von Ihnen geschilderte Szenario schnell auffallen.

5. Und was würden Sie dann tun?

Wir würden, wie es die Verfahrenregeln vorsehen, den Sender anhören und im Anschluss ein rechtliches Vorgehen prüfen.

6. Täuscht mein Eindruck, dass die zweifelhaften Praktiken von 9Live für die BLM eine extrem niedrige Priorität haben?

Ihr Eindruck täuscht Sie in der Tat. Die BLM hat in der Vergangenheit zahlreiche Beanstandungen gegen 9Live und andere Sender, die Gewinnspiele veranstalten, ausgesprochen. Wie Sie wissen, handelt es sich bei den GewinnSpielRegeln um freiwillige Vereinbarungen zwischen den Landesmedienanstalten und den Sendern, deren Nicht-Einhaltung keine unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen zeitigt. Es waren die Landesmedienanstalten und im Besonderen die BLM, die bei den gesetzgebenden Ländern darauf gedrängt haben, Verstöße gegen die GewinnSpielRegeln als Ordnungswidrigkeitstatbestand in den Runkfunkstaatsvertrag aufzunehmen. Dies wurde im 10. Rundfunkänderungsstaatsvertrag umgesetzt, der am 1. September 2009 in Kraft treten soll.

7. Warum ist das so?

Siehe Antwort zu Frage 6.

8. Würden Sie sagen, dass es eine Medienaufsicht in Deutschland gibt, die das Programm von 9Live kontrolliert?

Die BLM als zuständige Landesmedienanstalt kontrolliert das Programm von 9Live wie alle anderen Programme, die von ihr genehmigt wurden.

Zum Vergleich: Seit 23. Januar strahlt der Sender RTL (für den die niedersächsische Landesmedienanstalt NLM zuständig ist) die aktuelle Staffel von „Deutschland sucht den Superstar“ aus. Bereits am 31. Januar gab die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) bekannt, erneut ein Prüfverfahren gegen die Sendung eingeleitet zu haben. Wolf-Dieter Ring, der Vorsitzende der KJM und Chef der BLM, nahm am selben Tag das Urteil schon vorweg: RTL habe aus der Beanstandung im Vorjahr keine Konsequenzen gezogen. Darüber sei er „schwer verärgert“. Äußerungen von Dieter Bohlen, der die Verantwortung für die Bloßstellung eines Jugendlichen durch Bohlen und RTL dessen Vater gab, nannte Ring „verlogen und scheinheilig“. Gegenüber der „Super-Illu“ sagte er zwei Wochen später: „Die Wortwahl, die Häme, das Lächerlichmachen, das Bloßstellen — ich habe den Eindruck, dass das jetzt sogar noch zugenommen hat.“ Heute entschied die KJM erwartungsgemäß, mehrere Ausstrahlungen zu beanstanden und ein Bußgeldverfahren einzuleiten.

Richtig ist: Mangels gesetzlicher Grundlage könnte die BLM 9Live momentan gar kein Bußgeld aufbrummen. Aber bin ich der einzige, der die drastischen Worte von Wolf-Dieter Ring über die an der Grenze zum Betrug angesiedelten Praktiken von 9Live in den letzten Jahren überhört hat? Liegt es daran, dass es bei 9Live, anders als bei RTL, um bayerische Arbeitsplätze geht? Oder sind Dieter Bohlens Sprüche einfach ein Thema, mit dem sich nicht nur RTL und die „Bild“-Zeitung, sondern auch vermeintliche Medienwächter wunderbar profilieren können?

Der Weihnachtsskandal von 9Live

Folgendes trug sich am 2. Weihnachtstag im Programm von 9Live zu:


Link: sevenload.com

Das wirft doch Fragen auf, und ein paar davon habe ich Sylke Zeidler, der Unternehmenssprecherin von 9Live gestellt:

  • Ist es richtig, dass 9Live am Nachmittag und Abend dieses Tages über 13 Stunden lang keinen einzigen Anrufer ins Programm durchgestellt hat?
  • Wenn ja: Warum war das so?
  • Plant 9Live weitere Sendungen dieser Art?
  • Gibt es Überlegungen, nur noch alle paar Tage einen Anrufer ins Programm durchzustellen? Oder einfach gar keine Anrufer durchzustellen? Wäre das nicht konsequent?
  • Warum haben die verschiedenen Moderatoren immer wieder falsche Angaben über das Ende der Sendung und des Rätsels gemacht?
  • Inwiefern sind diese falschen Angaben in Verbindung mit diversen Countdowns, darunter auch einem „Finalen Countdown“, vereinbar mit den Gewinnspielregeln der Landesmedienanstalten? [pdf]
  • Zu den „9Live-Qualitäten“ gehört nach Angaben von 9Live, „dass die Zuschauer über die maximale Spieldauer informiert werden“. Gelten diese „Qualitäten“ nur an bestimmten Wochentagen? Oder warum hat 9Live die Zuschauer nicht über die tatsächliche maximale Spieldauer informiert?
  • Inwiefern hat die Sendung dem Wunsch des Zuschauers in Hinblick auf Orientierung sowie Transparenz in besonderer Weise Rechnung getragen?

Frau Zeidler war so nett zu antworten, und der Fairness halber möchte ich die Stellungnahme von 9Live ungekürzt veröffentlichen:

9Live stellt durch einen technischen Mechanismus sicher, dass zu jedem Zeitpunkt in jeder Sendung für die anrufenden Zuschauer eine Gewinnchance besteht. Dieses technische System ist einzigartig im deutschen Call-TV Markt. Darüber hinaus garantieren wir fortlaufend Zusatzgewinne außerhalb des Liveprogramms, die direkt über unser Service-Center abgewickelt werden. So hat 9Live an dem von Ihnen angefragten 26. Dezember 2007 insgesamt 788 Anrufer zu Geldgewinnern gemacht, davon 41 on Air und 747 off Air. Im Übrigen zählte 9Live allein im Dezember vorigen Jahres insgesamt 48.894 Gewinner, davon 2.673 on Air-Gewinner.

Weil ich ahnte, dass die Antwort von 9Live in manchem Wortsinne erschöpfend sein könnte, hatte ich auch der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) geschrieben, die theoretisch für die Aufsicht über das Programm von 9Live zuständig wäre, und sie unter Hinweis auf das Video oben gefragt:

  • Ist der BLM dieser Fall bekannt?
  • Ist die BLM in diesem Fall bereits tätig geworden?
  • Ist dieses Vorgehen vereinbar mit den Gewinnspielregeln der Landesmedienanstalten?
  • Angenommen, 9Live würde ab sofort überhaupt keinen Anrufer mehr ins Studio durchstellen: Wann, schätzen Sie, würde die BLM das bemerken?
  • Und was würde sie dann tun?
  • Täuscht mein Eindruck, dass die zweifelhaften Praktiken von 9Live für die BLM eine extrem niedrige Priorität haben?
  • Warum ist das so?
  • Würden Sie sagen, dass es eine Medienaufsicht in Deutschland gibt, die das Programm von 9Live kontrolliert?

Eine Antwort habe ich noch nicht bekommen, was daran liegen kann, dass der zuständige Pressereferent gerade im Urlaub ist — oder natürlich, zugegeben, am Tonfall meiner Anfrage.

Es gibt Sachen, die gibt es gar nicht (2)

Ich hatte sie schon eine Weile, die Excel-Dateien mit den höchst detaillierten Programmbeobachtungen, die die Firma Callactive von ihrem Konkurrenten 9Live angefertigt hat. (Callactive produziert im Auftrag von MTV zweifelhafte Call-TV-Sendungen.) Ich fand diese Akribie bemerkenswert, aber natürlich an sich nicht verwerflich. Geschrieben habe ich über diese Auswertungen erst, als ich las, dass die Anwälte von Callactive ihre Existenz angeblich bestreiten.

Inzwischen hat Frank Metzing, der Anwalt des Forums call-in-tv.de, einen Einblick in die Listen gegeben, die ihm vorliegen und die direkt von Callactive-Geschäftsführer Stephan Mayerbacher stammen sollen. Es handele sich um eine Tagesauswertung des 1. April 2007 und eine vollständige Auswertung Auswertung des Monats Mai 2006 — inklusive einer Zusammenfassung der gravierendsten Regelverstöße von 9Live und dem Hinweis auf entsprechendes „Beweis“-Material.

Einen Tag, bevor ich die Auszüge aus den mir vorliegenden Listen veröffentlichte, habe ich bei Herrn Mayerbacher nachgefragt, ob er die Aussage seiner Anwälte bestätige, dass solche Listen nicht existieren. Ich habe keine Antwort von ihm bekommen.

Stattdessen wurde der Eintrag von jemandem, der sich „Journalist“ nennt, erstaunliche 41-mal kommentiert. Vieles spricht dafür, dass es sich bei dem Absender um Stephan Mayerbacher selbst handelt. Der „Journalist“ bestreitet dies. Und derjenige, der die Kommentare abgegeben hat, war schlau genug, seine IP-Adresse (die automatisch festgehalten wird und anhand man der man erkennen kann, von welchem Rechner ein Kommentar abgegeben wurde) jedesmal zu anonymisieren.

Äh, halt: fast jedesmal. Einer der Kommentare von „Journalist“ hat die gleiche (nicht öffentliche) E-Mail-Adresse, aber eine andere IP: 62.245….

Es handelt sich… richtig: um eine IP-Adresse der Firma Callactive.

Aber vermutlich bereiten die Anwälte von Herrn Mayerbacher in diesen Minuten schon ein Schreiben vor, in dem sie bestreiten, dass die Firma Callactive überhaupt existiert.

Es gibt Sachen, die gibt es gar nicht

Man stellt sich das so einfach vor, das Geschäft mit den Anrufsendungen. Einfach ein Rätsel aus dem Archiv holen, drei Stunden niemanden durchstellen, 700 Countdowns starten, doch noch jemanden durchstellen und ihm einen Bruchteil der Einnahmen plus Plasmafernseher geben.

So einfach ist das nicht. Die Firma Callactive jedenfalls, die für drei MTV-Sender täglich den „Money Express“ produziert, gibt sich da schon ein bisschen mehr Mühe. Sie beschäftigt nicht nur Anwälte, die sich um nervige Kritiker kümmern, sondern offenbar auch Menschen, die sich intensiv mit der Konkurrenz auseinandersetzen. Mutmaßlich, um von ihr zu lernen. Vielleicht auch, um Material gegen sie in der Hand zu haben. Man weiß es nicht.

Es sind eindrucksvolle Excel-Tabellen, die auf diese Weise entstehen. Oben angegeben sind darauf jeweils zwei „Watcher“ — vermutlich die beiden bemitleidenswerten Menschen, die das 9Live-Programm des jeweiligen Tages genau verfolgen mussten, um es minutiös zu dokumentieren. Interessant ist anscheinend ungefähr alles. Es gibt eine Tabelle, in der notiert ist, wann genau 9Live auf die Mitmachregeln oder den Ausschluss Minderjähriger hingewiesen hat:

Es gibt eine Aufstellung der Gewinnsummen, die 9Live pro Tag, pro Woche, pro Monat ausgespielt hat, Sachpreise inklusive:

Notiert wird, wer von wann bis wann moderiert, welche Fragen gestellt werden, wie die Antworten lauten, in welchem Modus gespielt wird, ob es Trostpreise gab. Da stehen die Namen derjenigen, die gewonnen haben, mitsamt ihres Gewinns — und die Namen derjenigen, die nicht gewonnen haben:

Jede Erhöhung der Gewinnsumme ist mit genauer Sendezeit protokolliert, und wenn „ein Pflegeset zusätzlich zum Fixpreis“ ausgelobt wird oder Moderator Max „tanz und turneinlagen einlegt“, wird auch das vermerkt. Anscheinend hat am 15. April um 11.40 Uhr ein „Hr. Foss (Arzthelfer)“ angerufen und von Jürgen 20 Euro Trostpreis bekommen, weil er das Spiel nicht verstanden hat. Am 20. April um 18.09 Uhr notierten die „Watcher“ aufgeregt: „Countdowns onhe Evetn!!!! unerlaubter Zeitdruck Trommelwirbel/Ticken/ Sirene“ (als sei das nicht Alltag bei ihrem eigenen Sender). Und am 24. April um 20.46 Uhr stöhnen sie über „ewige stressalarme“.

„Verstöße/Besonderheiten“ werden in einer eigenen Spalte erfasst, und schlimme Dinge scheinen noch einmal rot oder kursiv hervorgehoben zu werden:

Als Autorin ist in den Excel-Dateien Nadine Rumpf angegeben, die Leiterin der Callactive-Redaktion, die selbst von 9Live kommt und laut Callactive „als eine der erfahrensten Führungskräfte in der Produktion von interaktiven Formaten in Europa gilt“.

Vielleicht sind solch detaillierte Konkurrenzbeobachtungen üblich in dieser Branche, ich weiß es nicht. Verboten oder irgendwie schlimm sind sie sicher nicht. Aber die Excel-Dateien von Callactive mit den Auswertungen des Programms und / oder der Gewinnsummen sind etwas ganz besonderes. Es sind Zauber-Dateien. Man kann sie zwar ansehen, kopieren, bearbeiten, ausdrucken, weiterschicken. Aber es gibt sie gar nicht. Die Rechtsanwälte von Callactive teilten dem Rechtsanwalt des kritischen Call-TV-Forums call-in-tv.de jedenfalls nach dessen Darstellung auf Nachfrage mit:

„(…) eine Auswertung des Programms und / oder der Gewinnsummen bei 9live hat die Callactive GmbH nicht.“

9Live erklärt erstmals den „Hot Button“ (2.Update)

9Live hat in einer langen und schwer verständlichen Presseerklärung auf die Vorwürfe geantwortet. Der Sender räumt dabei (soweit mir bekannt) erstmals öffentlich ein, dass der „Hot Button“, der einen Anrufer ins Studio durchstellt, kein reines Zufallssystem ist, sondern wesentlich davon abhängt, wann der verantwortliche Redakteur diesen Mechanismus auslöst. Das genaue Verfahren sei der Aufsichtsbehörde BLM ebenso bekannt wie der Staatsanwaltschaft München, behauptet 9Live.

Damit steht nun Aussage gegen Aussage. Wolfgang Flieger, Sprecher der BLM, sagte der „Berliner Zeitung“: „Wir wissen nicht im Detail, wie diese Technik funktioniert.“

Darüber hinaus stelle ein Zufallsmechanismus sicher, so 9Live, dass gelegentlich auch vor dem vom Redakteur bestimmten Zeitpunkt Anrufer ins Studio durchgestellt werden können. Deshalb habe jeder Anrufer jederzeit eine Gewinnchance. Wenn das stimmt, muss dieser Zufallsmechanismus auf extrem kleine Gewinnchancen eingestellt sein. Anders ließe es sich nicht erklären, warum oft über Stunden kein Anrufer ins Studio gestellt wird.

Dass es der Redakteur ist, der maßgeblichen Einfluss darauf hat, wann der „Hot Button“ „zuschlägt“, scheint auch 9Live endlich nicht mehr wirklich zu bestreiten. Der Sender erklärt, es sei „ganz offensichtlich, dass es allein der Redakteur“ (und nicht der Moderator) „der eigenverantwortlich und nach strengen Maßstäben die Entscheidung über die Aktivierung des Zufallsmechanismus ‚Hot Button‘ trifft“. Und hier zum Vergleich die Aussage von 9Live-Moderator Robin Bade am 18. Mai live auf 9Live:

„Auf den Hot-Button hat niemand Einfluss. Und wer das behauptet, der lügt und hat keine Ahnung, glauben Sie mir.“

Oder in den Worten von 9Live-Sprecherin Sylke Zeidler: „9Live (…) ist (…) auch im Hinblick auf die Verantwortung gegenüber seinen Zuschauern Marktführer im Bereich des Mitmachfernsehens.“

Nachtrag, 25. Mai, 9.40 Uhr. Keine Frage, die 9Live-Erklärung wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Mindestens in einem entscheidenden Punkt scheine ich sie missverstanden zu haben. Gelegentlich scheint man beim Anrufen bei 9Live, wenn der „Hot Button“ noch nicht „zugeschlagen“ hat, nicht die übliche Ansage zu bekommen, nicht gewonnen zu haben, sondern etwa folgenden Satz: „Noch hat der Hot Button nicht zugeschlagen. Sie haben die Möglichkeit, sich zu registireren und die Chance, später zurückgerufen zu werden und Ihre Lösung zum laufenden Spiel dennoch zu nennen. Sind sie damit einverstanden wählen Sie die 1.“ Auf diese Weise würde ein Redakteur zwar ganz alleine entscheiden, ob zum Beispiel drei Stunden lang niemand durchgestellt wird. Aber wenn nach drei Stunden jemand durchgestellt wird, könnte es auch jemand sein, der schon zwei Stunden früher angerufen hatte. Insofern wäre die 9Live-Behauptung richtig, dass jeder Anrufer zu jeder Zeit gewinnen könne. Wie groß diese Wahrscheinlichkeit ist, sagt 9Live nicht.

Nachtrag, 25. Mai, 18.05 Uhr. 9Live hat mir gegenüber diesen Ablauf mit dem Rückruf bestätigt. Die Ansage, die einzelne, zufällig ausgewählte Mitspieler hören, die vor dem „Zuschlagen“ des „Hot-Button“ angerufen haben, laute genau:

„Noch hat der Hot Button nicht zugeschlagen. Gleich noch mal versuchen. Außerdem haben Sie nun die Möglichkeit, sich zu registrieren. Mit etwas Glück rufen wir Sie zurück. Sie erhalten dann eine neue Chance, die aktuelle Gewinnspielfrage zu beantworten. Wenn Sie damit einverstanden sind, dann drücken Sie jetzt bitte die 1.“

Wie hoch die Chance ist, diese Ansage zu hören, wollte 9Live nicht sagen.

BLM kapituliert vor 9Live

Die Bayerische Landesmedienanstalt (BLM) hat 9Live nichts vorzuwerfen.

Dass Alida live on Air zu hören war, wie sie offenbar dem Redakteur empfahl, den Hot Button noch nicht auszulösen, stelle keinen Verstoß gegen die Gewinnspielregeln dar:

Zum aktuellen Fall, bei dem der Eindruck erweckt wurde, dass eine Moderatorin von 9Live direkt Einfluss nimmt auf das Auslösen des sog. Hot Buttons, erklärte Ring, dass der Sender diesen Eindruck in seiner Stellungnahme plausibel widerlegt hätte. Da nach den Äußerungen der Moderatorin, den Hot Button nicht auszulösen, kurze Zeit später eine Anruferin in die Sendung gestellt wurde, muss die Landeszentrale davon ausgehen, dass der Redakteur die Entscheidung über die Aktivierung des Zufallsmechanismus eigenverantwortlich getroffen hat und insoweit kein Verstoß gegen die Gewinnspielrichtlinien vorliegt.

Nochmal langsam zum Mitdenken: Die BLM erklärt, weil nicht die Moderatorin, sondern der Redakteur den „Hot Button“ auslöst, ist das Verfahren in Ordnung. Als spiele das irgendeine Rolle. Die Frage ist nicht, ob die Moderatorin oder der Redakteur oder die Schwippschwägerin von Edmund Stoiber den Hot Button auslösen. Die Frage ist: Ist der „Hot Button“ ein Zufallsmechanismus, der jederzeit „zuschlagen“ kann, wie die Moderatoren auf 9Live und den anderen Sendern quasi ununterbrochen suggerieren. Oder wird der Zeitpunkt, zu dem er „zuschlägt“, von einem Menschen bestimmt, wie es ehemalige Mitarbeiter, langjährige Beobachter, sämtliche Kenner behaupten.

Die BLM ist entweder noch weniger kompetent, als ich bisher angenommen habe. Oder sie hat sich in ihrer Doppelrolle, die Privatsender sowohl zu kontrollieren, als auch ihre Interessen zu vertreten, klar für das zweite entschieden.

Selbst die Kollegen vom Medienmagazin DWDL, übertriebener Polemik unverdächtig, nennen die BLM-Entscheidung „unerklärlich“. Ihre Stellungnahme gehe „völlig am Thema vorbei“.

Lesetipp in eigener Sache: Schafft die Landesmedienanstalten ab!

Nachtrag, 16.50 Uhr. Laut DWDL hat die BLM wirklich nicht kapiert, worum es ging, und dass es auch ein Problem darstellt, wenn nicht der Moderator, sondern ein Redakteur den „Hot Button“ „eigenverantwortlich“ auslöst:

Dr. Wolfgang Flieger, Pressesprecher der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien, räumt auf Anfrage des Medienmagazins DWDL.de ein, dass man dieser Frage nicht nachgegangen sei und dies Anlass einer neuen Prüfung werden müsse.

Hilfe.

Der Heilige Gral von 9Live

Allmählich glaube ich wirklich, dass es mit 9Live zu Ende geht. Mit 9Live-„Moderator“ Robin Bade allemal. Ich habe schon viele Stunden in meinem Leben 9Live gesehen. Aber dieser Monolog vom vergangenen Freitag schlägt alles:

Über eine Million Euro gehen hier Monat für Monat raus. (…) Und trotzdem versuchen es Leute schlechtzureden. Das geht nicht, liebe Zuschauer. Das geht nicht! Die Leute, die das hier schlechtreden wollen, sind dumm. So isses. Vollidioten. So sieht’s aus. Ernsthaft. Früher haben auch Vollidioten gemeint, die Welt ist eine Scheibe, aber meinten natürlich, sie wären im Recht. Bis dann einer kam, die Welt ist rund, und der wurde ausgelacht. Ja. Aber gut, mein Gott, was soll man machen, liebe Zuschauer. Was soll man machen? Ganz ehrlich: Wie willste mit nem Vollidioten reden? Ich weiß es nicht. Ich weiß es echt nicht. Was sollste da sagen? (…)

Rufen Sie mich jetzt an und holen Sie sich das Geld. Ich kann Sie bis zu einem gewissen Grad an die Hand nehmen. Und wir können zusammen den stolprigen Weg des Erfolges gehen. Aber den Griff an den Heiligen Gral, den müssen Sie alleine machen. (…)

Man kann alles im Leben schlecht reden, aber nicht 9Live. (…)

Ich weiß, dass 9Live wirklich funktioniert. Wenn Sie’s nicht erkennen, kann ich Ihnen nicht helfen. Will ich Ihnen auch gar nicht helfen. Weil, wenn man selber seinen Lebensweg so verhunzt, dann verhunzen Sie ihn halt, das ist mir egal. (…)

Ich hab’s satt, dass schlecht über 9Live geredet wird. Dafür gibt’s keinen Grund. Über mich redet sowieso keiner schlecht, weil sich gar keiner traut. Weil mich die Leute nämlich kennen. Da werden Sachen behauptet, noch und nöcher, und mit mir spricht keiner. Das ist unfassbar, liebe Zuschauer, da fasst man sich doch an den Kopf. Da diskutieren Leute, die wirklich keine Ahnung haben, und fragen nicht mal — es ist unfassbar. Da fass ich mir an den Kopf. (…)

Auf den Hot-Button hat niemand Einfluss. Und wer das behauptet, der lügt und hat keine Ahnung, glauben Sie mir. (…)

Es sind die Lügen, die Glücksversprechen, der Wahnsinn einer Sekte.

(via call-in-tv.de, DWDL)

9Live: Die Lügen und die Wahrheit

Pressestellen von Unternehmen haben naturgemäß ein eher taktisches Verhältnis zur Wahrheit. Die (hier bereits gewürdigte) Unternehmenskommunikation des Anrufsenders 9Live aber spielt in einer ganz eigenen Liga.

Das ist vielleicht kein Wunder, wenn das eigene Geschäftsmodell grundsätzlich darauf aufgebaut ist, die Zuschauer über den Ablauf des „Geschäfts“ gezielt in die Irre zu führen. Aber wie routiniert der 9Live-Pressestelle die Verdrehung von Tatsachen selbst dort von der Hand geht, wo es nicht nötig wäre, ist beeindruckend.

Gegenüber dem ARD-Magazin „Plusminus“ erklärte Sendersprecherin Sylke Zeidler schriftlich:

„Sicherlich haben Sie anlässlich des Gesprächs der Medienaufsicht mit Fernsehveranstaltern und -produzenten am 3. Mai zur Kenntnis genommen, dass auf unsere Initiative hin die Richtlinien für TV-Gewinnspiele fortgeschrieben und weiterentwickelt werden.“

„Auf unsere Initiative hin“? Geladen zu dem Treffen hatte die Gemeinsame Stelle Programm Werbung, Medienkompetenz (GSPWM) der Landesmedienanstalten am 12. März. In der Einladung hieß es wörtlich:

„Dabei soll nicht nur die in der Vergangenheit vereinzelt ausgesprochenen Beanstandungen, die aktuellen Entwicklungen in diesem Bereich und die nicht abnehmende Zuschauerresonanz thematisiert werden, sondern u.a. auch eine modifizierte Version der genannten Gewinnspielrichtlinie erörtert werden. Ein Entwurf … liegt diesem Schreiben zu Ihrer Information bei.“

Und wir merken uns, wie 9Live mit der Wahrheit umgeht — selbst wenn es wirklich nicht so entscheidend ist, selbst wenn die Wahrheit leicht zu beweisen ist, selbst wenn es die eigenen Aufsichtsbehörden betrifft.

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Es gibt viele Täuschungen im Spielablauf von 9Live und seinen Nachahmern und Konkurrenten wie CallActive (MTV-Gruppe) oder DSF. Aber eine zentrale Täuschung ist der systematisch erweckte Eindruck, ein technischer Zufallsmechanismus entscheide bei all den „Hot-Button“- oder „Leitungs“-Spielen darüber, wann der nächste Anrufer ins Studio durchgestellt wird. In Wahrheit ist es in aller Regel, die Redaktion, die entscheidet, ob man die Zuschauer noch ein paar Minuten oder, keine Ausnahme: Stunden warten lässt, bis einer der Anrufer eine Gewinnchance erhält.

9Live veranstaltet quasi nicht nur eine Lotterie, sondern behält sich selbst die Entscheidung darüber vor, wann die nächste Ziehung stattfinden wird. Und während in Wahrheit alle Beteiligten beim Sender wissen, dass man erst am Ende der Sendung wieder einen Anrufer durchstellen wird, lügt vorne der Moderator ununterbrochen: „Sie müssen jetzt anrufen / der Hot Button kann jede Sekunde zuschlagen / es liegt an Ihnen, dieses Spiel zu beenden /beeilen Sie sich“ etc.

Dass es sich dabei in aller Regel um eine Lüge handelt, ist aus vielerlei Gründen klar:

  1. Erkennt man es, wenn man nur lange genug die Sendungen schaut und Spielabläufe vergleicht.
  2. Geben es Call-TV-Veranstalter unter der Hand zu.
  3. Haben es eine ehemalige 9Live-Redakteurin und ein ehemaliger 9Live-Moderator gegenüber dem ARD-Magazin „Plusminus“ bestätigt.
  4. Sieht man es sehr schön an zwei Ausschnitten, die die unermüdlichen 9Live-Gucker und Aufzeichner des Forums Call-In-TV.de in den vergangenen Wochen aufgenommen haben. In beiden Fällen scheinen die Moderatoren zu glauben, sie seien nicht mehr zu hören, und bestätigen indirekt, dass der Zeitpunkt des „Zuschlagens“ vom Redakteur gewählt wird:

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Mir gegenüber beschreibt ein ehemaliger 9Live-Mitarbeiter den genauen Ablauf und die „Machenschaften“, wie er es nennt, wie folgt:

„In der Regie und zum Beispiel auch bei 9Live-Geschäftsführer Marcus Wolter steht ein Monitor, der alle 15 bis 30 Sekunden anzeigt, wie viele Anrufe eingehen. Es gibt eine klare Ansage, bei hohem Aufkommen von Anrufern, zu ‚ziehen‘.

Ich war dabei, wie Regie und Redakteur den Raum verlassen, ‚komm‘, geh’n wir eine rauchen‘, während der Moderator sich abzappelt: ‚jeden Moment kann er zuschlagen!“. Nein, kann er nicht. Nur der fahrende Redakteur öffnet das Zeitfenster (wenige Sekunden), in denen dann der Hot Button zuschlägt. Das ist dann in der Tat zufällig.

Würde die Landesmedienanstalt auch nur einmal ein paar Stunden in der Regie sitzen, würde das Geschäftsmodell platzen wie eine Seifenblase.

Interne Zahlen von 9Live haben übrigens mal gezeigt, dass ein Großteil des Umsatzes mit einer winzigen Anzahl ‚Zocker‘ gemacht wird. Ich erinnere mich an Zahlen, in denen es etwa hieß: Die immer gleichen Vierzigtausend Leute machen achtzig Prozent des Umsates einer Woche. Was steht auf den Lottoplakaten? Glücksspiel macht süchtig…“

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Und damit schalten wir zurück in die Unternehmenskommunikation von 9Live, wo Geschäftsführer Marcus Wolter seiner Sprecherin Sylke Zeidler inzwischen eine Gebetsmühle installiert hat. Wer dort nachfragt, wie das denn nun ist mit dem Zufallsmechanismus, bekommt folgende Antwort:

„9Live stellt über unterschiedliche — auch technlsche — Systeme sicher, dass für Anrufer in unseren Gewinnspielen jederzeit die Chance besteht, ausgewählt und ins Studio gestellt zu werden.“

Das ist ein hübsch schillernder Satz, der unschärfer wird, je genauer man hinguckt. Denn dass es „auch“ technische Systeme sind, die beteiligt sind, schließt ja nicht aus, dass menschliche Entscheidungen hinzukommen. Und den Begriff „jederzeit“ kann man so missverstehen, dass man als Zuschauer ja nicht weiß, wann der Redakteur den Hot-Button auslöst, es aber theoretisch jederzeit der Fall sein könnte.

Noch ein bisschen abenteuerlicher ist der Satz, den Frau Zeidler sich zurechtgelegt hat, um Alidas Worte „… noch ein bisschen mitzunehmen. Lasst das doch Max übernehmen. Bei solchen Peaks, schlagt doch später zu…“ zu erklären. Sie sagt:

„Die Aussage der Moderatorin hat keine Relevanz für den technischen und inhaltlichen Verlauf der Sendung.“

Nun ja, genau genommen stimmt das: Denn der technische und inhaltliche Ablauf der Sendung mit all seinen Täuschungen und dem Zuschauerbetrug ist ja in der Tat unabhängig davon, ob und wie Alida sich in der Sendung verplappert. Insofern (und nur insofern) hat ihre Aussage wirklich „keine Relevanz“ für den Verlauf der Sendung.

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Ich weiß nicht, wie die Geschichte mit 9Live und den anderen weitergeht. Ob das wirklich der Anfang vom Ende des ungetrübten Abzockens im deutschen Fernsehen sein sollte. Und sich Leute wie der genauso unbekümmert die Wahrheit verdrehende CallActive-Geschäftsführer Stephan Mayerbacher demnächst neue dubiose Einnahmequellen erschließen müssen. Ich weiß ja nicht einmal, ob diesen Leuten und den Max Schradins dieser Welt manchmal nachts im Traum spielsüchtige Menschen erscheinen, die sie in den Ruin getrieben haben.