Verdammt: Jetzt habe ich so lange damit gewartet, eine Eloge auf das „Altpapier“ zu schreiben, dass es ein Nachruf wird. Heute erscheint die Medienkolumne — zumindest vorläufig — zum letzten Mal. Und das ist ein Verlust.
Vermutlich darf man sich nicht grämen. Es ist ein kleines Wunder, dass sie überhaupt neuneinhalb Jahre überlebt hat (und Onlinejahre sind bestimmt Hundejahre), wenn man bedenkt, wie überschaubar ihre Zielgruppe war: Medienjournalisten und Menschen, die sich für Medienjournalismus interessierten. Das „Altpapier“ sichtete täglich die Medienseiten des Tages und flocht daraus einen kommentierenden Überblick.
Nun könnte man sagen, dass der Bedarf daran heute mehr als gedeckt wird. Durch Angebote wie „turi2“, wo zweimal täglich längere Linklisten zu Medienartikeln veröffentlicht werden, oder „Meedia“, wo interessante Medienartikel anderer Seiten abgeschrieben und mit eigenen Fehlern angereichert werden.
Aber das „Altpapier“ war anders, speziell. Es funktionierte zwar als Service-Rubrik, aber es war im besten Sinne feuilletonistisch. Es lebte vor allem davon, Zusammenhänge herzustellen. Es verknüpfte Themen, die scheinbar (und oft auch tatsächlich) nichts miteinander zu tun hatten. Und es fand auch Verbindungen, die einer aktuellen Nachrichten einen klugen, überraschenden oder schlicht essentiellen Kontext gaben. An guten Tagen zeichnete das „Altpapier“ zweierlei aus: Die Lust am Schnörkel, am überraschenden gedanklichen oder sprachlichen Umweg. Und eine große Aufmerksamkeit in Verbindung mit einem guten Gedächtnis.
Als der „Spiegel“ gestern vermeldete, dass die Schweinegrippe doch nicht so schlimm war wie gedacht, und mit einer „Chronik einer Hysterie“ auch einen Rückzieher in eigener Sache machte, da zollte ihm „Altpapier“-Sortierer Klaus Raab zwar Respekt für diesen Rückzieher, aber nicht ohne mit gerechtem Zorn auf das Ausmaß der Desinformation durch das „Nachrichtenmagazin“ hinzuweisen:
Trotzdem ist der panne Aufmacher, der 2009 auf dem Höhepunkt der Panik an die Kioske kam, jeden Rückzieher wert. „Die neue Grippe aus Übersee scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein“, hieß es damals. Dann waberte eine böse Vorahnung durch den Artikel, um nach zehn Seiten (!) zu enden: „die normale Grippe erscheint bis auf weiteres noch als das größere Gesundheitsproblem“ (siehe auch Altpapier von damals). Was bedeutet: Die Redaktion wusste auch damals schon, dass sie übertreibt. Das wiederum steht in der aktuellen Chronik nicht.
Da steht nur ein Absatz zur Maßlosigkeit der Medien: „Auch die Medien befördern die Angst.“ Wachgehalten habe diese Angst aber vor allem die Pharmaindustrie. Wäre es, nur mal so ne Frage, nicht die Aufgabe von Journalisten gewesen, nicht eins zu eins darauf hereinzufallen? Wenn jedenfalls mal wieder jemand ein Beispiel für virales Marketing sucht: Der Fall Schweinegrippe ist ideal, die Pharmaindustrie hat ganze Arbeit geleistet.
Trotzdem: Danke für die Korrektur, Spiegel. Und bis zum nächsten Panik-Titel!
Manchmal waren es nur Kleinigkeiten, wie nach der ersten „Kerner“-Sendung auf Sat.1, als der diensthabende „Altpapier“-Schreiber Christian Bartels über folgende Formulierung von Medienredakteur Christopher Keil in der gedruckten „Süddeutschen Zeitung“ stolperte:
„Dass er jemals ’schlaksig‘ gewesen sein soll, wie nun geschrieben wurde nach seiner ersten Sendung als erster Journalist bei Sat.1 am Montagabend dieser Woche, ist wirklich falsch. Das würde selbst Kerner niemals behaupten, der in Hamburg beim Joggen um die Alster oft genug am mobilen Telefon erreichbar ist. Auch in besserer körperlicher Verfassung ist er eher das Gegenteil von schlaksig…“
Und wo zum Teufel stand, dass Kerner einmal „schlaksig“ gewesen sei? In der gestern um 7.34 Uhr veröffentlichten sueddeutsche.de-Kritik war es.
Nun kann man daraus vielleicht Rückschlüsse ziehen auf das Klima zwischen Print- und Online-Medien-Redaktion bei der „SZ“, man kann es auch lassen: Aber diese Lust, Verbindungen aufzuzeigen, allein aufgrund des veröffentlichten Materials und ganz ohne per Anruf auf „mobilen Telefonen“ gewonnene Insider-Kenntnisse, die hat das „Altpapier“ ausgezeichnet. Und die fehlt bei den Online-Aggregatoren, die im Zweifel nicht einmal merken, dass eine scheinbare Neuigkeit alt ist und denen die Fachkenntnis oft so sehr fehlt wie die Lust am Formulieren. Das „Altpapier“ war bissig und klug, böse und subtil, entspannt und überlegen.
Erfunden wurde die bis heute im wesentlichen unveränderte Form des „Altpapiers“ zum Start der „Netzeitung“ von einem gewissen Christoph Schultheis. Ich glaube, dass wir uns darüber auch kennen gelernt haben: Ich habe ihm irgendwann eine empörte Mail über eine total ungerechte Formulierung im „Altpapier“ geschrieben. (Der klassische Beginn einer wunderbaren Freundschaft.) Die Überschneidungen mit BILDblog sind noch größer: Auch Peer Schader und Heiko Dilk waren „Altpapier“-Autoren.
Die Deppen von DuMont Schauberg, denen die „Netzeitung“ vor kurzem in die Hände fiel, haben es geschafft, bei deren Abwicklung weite Teile des „Altpapier“-Archivs, das ein einzigartiges medienjournalistisches Dokument dargestellt hätte, zu löschen oder unbrauchbar zu machen. Immerhin lässt sich im Google-Cache noch eines der ersten „Altpapiere“ finden. (Und ein Rudiment des „Geschenkpapiers“ ist noch da, das ich in einer Reihe mit anderen Medienjournalisten zum ersten Geburtstag der Kolumne schreiben durfte.)
Vor einem Jahr fand die Kolumne ein neues Zuhause auf der niederländischen Nachrichtenseite dnews.de. Die Autoren Katrin Schuster, Christian Bartels, Matthias Dell und Klaus Raab brachten die Rubrik in dieser etwas unwirklichen Umgebung immer wieder zum Glänzen. Doch dass sich das in Klicks auszahlen würde, damit war nie zu rechnen, und ein eventueller Imagegewinn wäre vermutlich auch nicht messbar: Jedenfalls ist das heutige „Altpapier“ das letzte, das auf dnews.de erscheint. Die Zukunft ist ungewiss, aber immerhin scheint nicht ganz ausgeschlossen, dass diese schöne Medienkolumne, die jeden „Perlentaucher“ alt aussehen lässt, noch einmal eine neue Heimat findet.
Interessierte Investoren und Verleger können sich unter dasaltpapier@googlemail.com melden. Mein Dank wäre ihnen gewiss.