Schlagwort: Amok

„Leider nicht wirklich eine Satire“

Hanno Zulla hat die Amok-Berichterstattung von ARD und ZDF gesehen und hinterher seinen Frust zu einem Blog-Eintrag gerinnen lassen:

Guten Abend, meine Damen und Herren, Sie sehen die Abendnachrichten.

Es hat einen Amoklauf an einer Schule gegeben. Schrecklich, schrecklich. Wir zeigen Ihnen nun grausame Bilder.

Im Anschluss daran eine Live-Schaltung zu unserem Reporter vor Ort. Wie grausam war es denn, Herr Kollege? „Oh, es war schrecklich. Hier ein paar weinende Mitschüler, die ich vor die Kamera gezerrt habe. Und hier spreche ich mit geschockten Eltern. Und jetzt ein Straßeninterview mit verschiedenen Anwohnern, die nichts zum Fall sagen können, aber alle sehr betroffen sind.“

(…)

„Ihre ganz eigene virtuelle Wirklichkeit“

Ich hab’s versucht. Ich wollte etwas schreiben über den gestrigen ARD-„Brennpunkt“ zum Amoklauf in Winnenden und insbesondere den Beitrag, den Moderator Fritz Frey mit den Worten anmoderierte:

Gelernt haben wir, dass das Internet eine wichtige Rolle spielt bei unserem Thema, und das beileibe nicht nur als Plattform für potentielle Täter. Andrea Bähner hat sich heute, am Tag danach, im Netz umgesehen und ist dabei auf eine Art virtuellen Wutausbruch gestoßen. Die, die sich dort ihr ganz eigenes Bild vom gestrigen Wutausbruch machen, können mit der Debatte um Schuld und Verantwortung wenig anfangen.

Und in dem der schöne Satz fiel:

Die Internetcommunity bei YouTube, Twitter oder FlickR baut sich ihre eigene virtuelle Wirklichkeit der Bluttat.

Ich hab’s versucht, aber diese Mischung aus Ahnungslosigkeit und bewusster Desinformation, dieses Konzentrat von Vorurteilen und Scheinheiligkeit, dieser Versuch der ARD-Journalisten, sich ihre ganz eigene virtuelle Wirklichkeit der Bluttat zu bauen, den man natürlich im Kontext mit vielen anderen Sendungen mit der gleichen Stoßrichtung sehen muss — sie macht mich gleichzeitig zu wütend und ratlos.

Lesen Sie also stattdessen bitte den Beitrag von Robin Meyer-Lucht auf Carta.

Was stern.de im Kleinen vorgemacht hat, setzen die professionellen Medien im Großen fort: All das, was man an ihrer Berichterstattung kritisieren muss, auf das Internet zu projizieren.

Pöbeljournalismus

Gerd Blank ist Profi. Er arbeitet als Redakteur im Ressort „Digital“ bei stern.de. Da weiß er natürlich besser als andere, wie man angemessen mit sowas wie Twitter umgeht. Als gestern die ersten Meldungen von einem Amoklauf einliefen, fand er gleich die richtigen Worte:

Mist, Amoklauf an einer Schule im baden-württembergischen Winnenden. Es gab wohl Tote.

Ja, Mist.

Nun dürfen bei Twitter leider nicht nur Profis wie Gerd Blank Kurznachrichten veröffentlichen, sondern jedermann. Sogar Nicht-Journalisten. Oder, wie Gerd Blank diese Leute nennt: der „Pöbel“. In einem Artikel auf stern.de klagt er:

Wenn der Pöbel gleichzeitig zum Nachrichtenempfänger und Versender wird, bleibt häufig viel auf der Strecke.

Und konkret:

Schnell wird klar, man weiß nichts und will darüber reden. Wo für so ein Geschwätz früher nur Hausflur oder Supermarkt blieben, erlaubt das Internet nun die ungefilterte Verbreitung. Natürlich stecken zwischen den unzähligen Informationen häufig auch Falsch- und Spaßmeldungen, es fällt schwer, den Unterschied zwischen echter Nachricht und Unsinn zu bemerken.

Selten ist stern.de so treffend beschrieben worden. Leider ist Twitter gemeint.

Blank weiter:

Doch das Problem ist häufig nicht alleine die Nachricht, sondern wie mit ihr umgegangen wird. Während ausgebildete Journalisten eigentlich wissen, wie mit Namen, Adressen und Bildern umgegangen werden darf, erfährt man bei Twitter schnell, wie der mutmaßliche Täter heißt. Das Elternhaus wird in aller Pracht gezeigt, und damit man es auch findet, gibt es den Link zur Adresse dazu. Der Pressekodex gilt halt für die Presse, und nicht für ein Medium, welches von vielen fälschlicherweise als die Zukunft des Journalismus betrachtet wird.

Ach: Der Pöbel zeigt im Internet einfach das Elternhaus des Amokschützen? Dieses Haus?

Und der Pöbel verrät im Internet gleich die Adresse dazu? Dieselbe Adresse, die heute unter anderem in der „Berliner Zeitung“ steht, in einem Artikel, der mit der Ortsmarke „Weiler zum Stein“ und den Worten beginnt: „Das Einfamilienhaus an der         straße 3 hat rote Dachziegel, beige Wände, schmutzige Dachfenster“?

Und der Pöbel nennt direkt den ganzen Namen des Amokläufers? Jenen Namen, der heute auf den Seiten eins, zwei und drei der „Süddeutschen Zeitung“ steht?

Immerhin schaffte es die Realität, für einen winzigen Moment ein Schlupfloch in die Wahrnehmung von Gerd Blanks ansonst vollständig mit der Verarbeitung der kognitiven Dissonanz beschäftigtem Gehirn zu finden und schmuggelte ein „eigentlich“ in den Satz: „Während ausgebildete Journalisten eigentlich wissen, wie mit Namen, Adressen und Bildern umgegangen werden darf … .“ Natürlich hätte er „wissen müssten“ schreiben müssen, aber dann wäre zu offensichtlich geworden, dass sein ganzer Text über den „Pöbel“ und wie die verfluchten Amateure unsere schöne Informationswelt kaputt machen und das „Jeder-kann-mitmachen-Internet seine Fratze zeigt“, eine einzige Heuchelei ist.

PS: Falls Sie zufällig auf der Suche nach der dümmsten Fotostrecke zum Thema sind, urteilen sie nicht, bevor Sie diese Galerie auf stern.de gesehen haben. Und wenn Sie sich fragen, ob stern.de sich wohl die Rechte an diesen Fotos besorgt hat — seien Sie unbesorgt: Für stern.de gilt ja eigentlich das Presserecht.

[via Spreeblick]

Tag der Trauer

Als ich das Haus verließ, war die Welt noch in Ordnung. Ich kann mich schon gar nicht mehr an die Netznachrichten von heute morgen erinnern. Unter vielen anderen Terminen war ich über Mittag auch bei einer Grundschule, deren friedliche, weltvergessene Offenheit nach allen Seiten mir jetzt unheimlich vorkommt.

Ein Amoklauf ist die Art von Nachricht, zu der mir keine Haltung gelingen will.

Unionsvize Werner Bosbach mutmaßt, die Sache werde „ein parlamentarisches Nachspiel“ haben, sogar der Europarat — dass es den noch gibt! — hat eine Erklärung abgegeben. Und auch noch das Europaparlament. An solchen Tagen wird der rituelle Charakter des öffentlichen Lebens deutlich. Die Kanzlerin sagt etwas. Der Bundespräsident. Was soll Ministerpräsident Oettinger an so einem Tatort, an dem noch die Leichen ungeborgen liegen? Und welcher Skandal, wenn er nicht gekommen wäre.

Der auch bei mir so brennende Wunsch nach einer präzisen politischen Äußerung, nach weiteren Details, nach Hinweisen zum Elternhaus, zum Freundeskreis, kommt mir immer vor wie ein sublimierter Hütehundimpuls: Man will das ausreißende Geschehen irgendwie rational oder moralisch einholen. Die Tat soll eine Botschaft, eine Lehre enthalten. Sie muss Gründe gehabt haben, jemand muss rote Ampeln überfahren haben — und wenn wir gedanklich an diese Weggabelung zurückkehren, dann ist es, als hätten wir es halb verhindert. Als könnte die Welt repariert werden.

In Wahrheit geht das nicht. Man kann nicht jedem seltsamen Teenager mit dem Amokpräventionskatalog begegnen. Man kann nicht jeden Ballerspieler und Soziopathen unter Beobachtung halten. Und mit welchem Recht? Die meisten sind völlig harmlose Zeitgenossen.

Amok ist ein sadistisches Verbrechen: Der Schütze maßt sich absolute Macht an, demütigt seine Opfer und indirekt seine Eltern. Sadisten kann man mit Regeln, Kontrollen und Gesetzen nicht fassen, sie freuen sich an ihrer Fähigkeit, in Systemen zu funktionieren und sie gleichzeitig auszutricksen.

Gegen Tragik von einer gewissen Dimension ist keine Vorkehrung zu treffen. Ein Politiker hat darauf hingewiesen, dass nach dem Erfurter Amoklauf doch das Jugendmedien- und das Waffengesetz verschärft worden sei. Das klingt für mich deplatziert. Und doch kann man solche Gesetzesnovellen auch nicht unterlassen. Im Colmar des frühen 16. Jahrhunderts gab es immer mal wieder Beschwerden wegen Seuchen und allerlei unerklärlichen Begebenheiten. Prompt hat der Rat der Stadt — übrigens lebenskluge, gebildete Männer — Zauberei und solche Sachen bei Strafe verboten. So ist es nach Amokläufen, nach Babymorden, nach den unvorstellbaren Fritzl- oder Kampuschfällen auch, hinterher. Man macht sich einen Reim: verschärft was, stockt vielleicht die Ämter auf, sucht eine Einhegung der wütenden Wirklichkeit.

In Wahrheit können wir mit einem permanenten Gefahrenbewusstsein gar nicht funktionieren. Wir müssen alltäglich davon ausgehen, dass der nette Nachbar kein Massenmörder ist. Hinterher stehen wir natürlich dumm da und auch das ist Teil jenes Vergnügens, das der Sadist sucht.