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Was Angela Merkel alles nicht weiß und deshalb auch nicht bewerten wird

Mir ist bewusst, dass das Interview, das die Bundeskanzlerin der „Zeit“ gegeben hat, jetzt schon ein paar Tage alt ist und dass sie in der Zwischenzeit längst ein weiteres gegeben hat. Aber ich kann das alte, das aus der „Zeit“, noch nicht ganz fassen.

Die Interviewer stellen ihr eine Reihe von Fragen zu dem Abhörskandal. Angela Merkel sagt daraufhin jeweils mehrere Sätze, die aus großer Ferne betrachtet fast wie so etwas ähnliches wie Antworten wirken könnten.

Antworten gibt sie nicht.

Zum Beispiel:

ZEIT: Sind Sie nicht überrascht über das Ausmaß, in dem uns ausländische Dienste offenbar ausspähen?

Merkel: Dass Nachrichtendienste unter bestimmten und in unserem Land eng gefassten rechtlichen Voraussetzungen zusammenarbeiten, entspricht ihren Aufgaben seit Jahrzehnten und dient unserer Sicherheit. Von Programmen wie Prism habe ich durch die aktuelle Berichterstattung Kenntnis genommen. Inwieweit die Berichte zutreffend sind, wird geprüft.

Testfrage: Ist Angela Merkel überrascht über das Ausmaß, in dem uns ausländische Dienste offenbar ausspähen, oder nicht?

Weiter:

ZEIT: Ist der Verzicht auf Privatsphäre in Ihren Augen der Preis für die Sicherheit?

Merkel: Freiheit und Sicherheit müssen immer in der Balance gehalten werden. Deshalb muss alles dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehorchen. Mit immer neuen technischen Möglichkeiten muss die Balance zwischen dem größtmöglichen Freiraum und dem, was der Staat braucht, um seinen Bürgern größtmögliche Sicherheit zu geben, immer wieder hergestellt werden. Die Diskussion darüber, was verhältnismäßig ist, müssen wir deshalb ständig führen und gleichzeitig alles tun, um uns vor terroristischen Anschlägen bestmöglich zu schützen, was ohne die Möglichkeit einer Telekommunikationskontrolle nicht ginge.

Merkel redet darüber, worüber man reden müsste, ohne darüber zu reden. Sie sagt, dass man die Diskussion führen muss, was verhältnismäßig ist, um nicht die Diskussion führen zu müssen, was verhältnismäßig ist. Das haben an dieser Stelle sogar die Interviewer von der „Zeit“ gemerkt und haken nach:

ZEIT: Was ist denn „verhältnismäßig“?

Merkel: Ein Vorgehen, das den Schutz der Privatsphäre mit dem Schutz vor Terror im Gleichgewicht hält und beiden Zielen bestmöglich dient. (…)

Ah: Verhältnismäßig ist, was verhältnismäßig ist.

ZEIT: Die Behauptung, 50 Anschläge seien verhindert worden, ist schwer überprüfbar. Können Sie den amerikanischen Aussagen vertrauen?

Merkel: Amerikanische Hinweise haben ohne jeden Zweifel im Ergebnis zu Verhaftungen geführt und damit nach menschlichem Ermessen großen Schaden verhindert. Jeder Anschlag wäre einer zu viel.

Keine Antwort auf die Frage.

Gut, vielleicht lässt sich das indirekt wenigstens als eine Antwort auf eine Frage weiter vorne lesen. Wenn jeder Tote im Straßenverkehr einer zuviel wäre, wären Autos womöglich verboten. Ganz sicher gäbe es viel strengere Geschwindigkeitsbegrenzungen.

Wenn jeder Anschlag einer zuviel wäre, dann müsste man alles tun, um auch den einen zu verhindern. Jede Aufgabe der Privatsphäre wäre dafür hinzunehmen. Dann heiligt der Zweck auch die Mittel. (In der ARD hat sie heute das Gegenteil gesagt, aber wer wäre überrascht, wenn sie übermorgen wieder das Gegenteil sagt und überübermorgen, dass wir unbedingt eine Debatte darüber führen sollten, unter welchen Voraussetzungen der Zweck die Mittel heiligen würden könnte; eine Debatte, an der sie natürlich selbst nicht teilnähme.)

ZEIT: Haben Sie nach Ihren Gesprächen mit dem amerikanischen Präsidenten den Eindruck, dass die Geheimdienstaktivitäten nach den Anschlägen auf das World Trade Center aus dem Ruder gelaufen sind?

Merkel: Nach meinem Eindruck nimmt der amerikanische Präsident die Sorgen in Europa ernst. Ich warte jetzt die Ergebnisse der Expertengespräche in Washington ab. Dann werden sie bewertet, dann folgen die nächsten Schritte.

Tja. Hat die Kanzlerin den Eindruck, dass die Geheimdienstaktivitäten aus dem Ruder gelaufen sind? Man weiß es nicht. Man wird es nie erfahren. Es ist aussichtslos, sie zu fragen.

ZEIT: Edward Snowden bekommt nun vermutlich Asyl in Venezuela. In Deutschland hat man das aus formalen Gründen abgelehnt. Es gäbe aber auch andere Begründungen, ihn nach Deutschland zu holen. Hätten Sie das nicht tun müssen, wenn Ihnen wirklich so viel an Aufklärung gelegen ist?

Merkel: Das Bundesinnenministerium und das Auswärtige Amt sind nach ihrer Prüfung zu dem Ergebnis gekommen, dass die Voraussetzungen für politisches Asyl oder eine Aufenthaltsgewährung aus anderen Gründen nicht vorlagen.

Andere Leute haben da geprüft und sind zu irgendwelchen Ergebnissen gekommen. Was soll Angela Merkel, die Bundeskanzlerin, da noch eine Haltung zu entwickeln?

ZEIT: Es gab in der Vergangenheit Fälle wie Lew Kopelew oder Alexander Solschenizyn, in denen Bundeskanzler aus übergeordneten Interessen oder humanitären Aspekten an formalen Kriterien vorbei anders entschieden haben.

Merkel: Ich kann nur wiederholen, dass nach Prüfung der beiden Ministerien die Voraussetzungen im aktuellen Fall nicht vorlagen.

Andere Leute haben da geprüft und sind zu irgendwelchen Ergebnissen gekommen. Was soll Angela Merkel, die Bundeskanzlerin, da noch eine Haltung zu entwickeln?

ZEIT: Was denken Sie über Edward Snowden?

Merkel: Ich erlaube mir kein persönliches Urteil über einen Mann, über den ich lediglich das eine oder andere lese.

Was für eine Wohltat, diese Antwort. Weil Angela Merkel, die Bundeskanzlerin, sich immerhin dazu herablässt, relativ unverschlüsselt zu sagen: Ich gebe Ihnen darauf keine Antwort. Ich sage Ihnen nicht, was ich von dem Mann halte.

Es ist natürlich völlig absurd anzunehmen, dass sich die Kanzerlin keine persönlichen Urteile erlaubt über Menschen wie Edward Snowden oder wenigstens eine Bewertung seiner Handlungen. Aber so anspruchslos bin ich inzwischen geworden: Ich freue mich, dass sie immerhin sagt, dass sie dazu nichts sagt, ohne dass man selbst das nur mühsam zwischen den Zeilen herauslesen oder aus ihren Nicht-Antworten-Antworten interpretieren muss.

ZEIT: Halten Sie es für verhältnismäßig, dass mehrere europäische Länder dem bolivianischen Präsidenten Evo Morales wahrscheinlich auf Betreiben der Amerikaner Überflugrechte verwehrt haben?

Merkel: Ich kenne die Hintergründe dieses Vorgangs nicht und werde ihn deshalb auch nicht bewerten.

Okay, ich nehm’s zurück. Ich bin raus. Da hilft jetzt auch nicht mehr die unverstellte Klarheit, mit der die Bundeskanzlerin sagt: Mir doch egal.

Mir doch egal, was da passiert ist.

Mir doch egal, ob Sie mir abnehmen, dass ich mich nicht über die Hintergründe dieses bizarren und empörenden Vorganges kundig gemacht habe.

Mir doch egal, ob ich gerade noch gesagt habe, dass wir über Verhältnismäßigkeiten reden müssen.

Mir doch egal, wie da mit Staatspräsidenten umgegangen wird und mit Whistleblowern und überhaupt.

Geht mir am Arsch vorbei, sagt die Bundeskanzlerin.

Natürlich würde man sich wünschen, dass die Interviewer an dieser Stelle sagen würden: „Wissen Sie was, Frau Bundeskanzlerin, bei allem Respekt: Aber wenn Sie sich nicht äußern wollen über diese Themen, wenn Sie uns Ihre konkrete Einschätzung dieser außerordentlichen Vorgänge nicht sagen wollen, dann brechen wir das Interview an dieser Stelle ab. Dann stellen wir fest: Die Bundeskanzlerin weiß nicht, was unsere Verbündeten so machen, und wenn sie es weiß, dann sagt sie es nicht. Und in jedem Fall weigert sie sich, ihre Haltung dazu der Öffentlichkeit mitzuteilen, weshalb ein Interview mit ihr sinnlos ist.“

Im Zweifel würde aber natürlich auch ein Interviewer von einer geringeren Geschmeidigkeit als Giovanni di Lorenzo nicht so reagieren. Und tatsächlich ist ja das Interview immerhin insofern sachdienlich, als es die fehlende Bereitschaft der Kanzlerin, Antworten zu geben, für jeden, der sie sehen will, sichtbar macht.

Vielleicht ist meine Empörung an dieser Stelle auch abwegig. Genauso gut hätte ich mich vermutlich auch beim vorletzten, vorvorletzten oder vorvorvorletzten Interview mit Angela Merkel empören können. (Tatsächlich habe ich auch vor drei Jahren schon über ihre bizarr blutleere, abstrakte Sprache geschrieben, mit der sie uns alle in die Besinnungslosigkeit redet.)

Aber dies war der Punkt, an dem mein Kragen geplatzt ist. Natürlich vermeiden viele Politiker klare Aussagen. Aber dass es so normal geworden ist, dass eine Kanzlerin sich systematisch und dreist der kleinsten inhaltlichen Festlegung verweigert, dass so ein Interview wie das in der „Zeit“ gar keinen Schluckauf in dieser Hinsicht mehr auslöst. Und dass diese Kanzlerin größte Zustimmungswerte im Volk genießt und mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, die zukünftige Regierung zu führen. Das bestürzt mich dann doch.

Schwieriges Auswärtsspiel für die TSG Merkel 09

Bundeskanzlerin Angela Merkel sollte den Satz vervollständigen: „Wer nicht weiß, was sich hinter dem Kürzel TSG verbirgt…“ Sie hatte sogar noch den Tipp bekommen, dass es um Wiesbaden geht. Aber sie schaute von einem Interviewer zum anderen, schwieg, schaute vom anderen Interviewer zum einen, schwieg immer noch und entschied sich schließlich kurzzeitig für diesen Ausdruck völliger Ratlosigkeit:

Thorsten Schäfer-Gümbel? „TSG hab ich, ehrlich gesagt, jetzt eher für ’nen Sportverein gehalten in diesem Zusammenhang.“

Gut, andererseits hatte sie auch weder vier Alternativen zur Auswahl, noch durfte sie jemanden anrufen. Überhaupt war es ein ungewöhnlicher Abend bei ARD und ZDF. Beide Sender hatten sich in einer spektakulären konzertierten Aktion entschieden, ein Einzelgespräch mit einem nicht unbedeutenden Politiker ausnahmsweise weder von Reinhold Beckmann noch von Johannes B. Kerner führen zu lassen, sondern Nachwuchskräften eine Chance zu geben: sogenannten politischen Journalisten. Anlässlich des irgendwie historischen Konjunkturpaketes tingelte Frau Merkel durch die Hauptstadtstudios und stellte sich unter anderem den Fragen von Thomas Baumann und Ulrich Deppendorf im Ersten (Video) sowie Bettina Schausten und Peter Frey im Zweiten (Video).

Verblüfft erinnerte sich der Zuschauer, dass es tatsächlich die alten Interviewformate noch gibt, die sogar schicke moderne Vorspänne haben, allerdings nur noch selten den Beginn des öffentlich-rechtlichen Unterhaltungsprogramms verschieben. 2002 lief „Was nun, …?“ noch etwa monatlich im ZDF – inzwischen sind es im Schnitt nur noch zwei Sendungen jährlich. Es ist zudem eine reine Kanzlerfragesendung geworden: Frau Merkel war jetzt das dritte Mal in Folge da. Alle anderen gehen wohl zu Kerner. Das ARD-Gegenstück „Farbe bekennen“ hatte ohnehin nie eine größere Präsenz im Programm.

Nun haben solche Programm-Entscheidungen immer zwei Seiten. Gut war, dass kein Beckmann Frau Merkel fragte, wie sich das „anfühlt“, so ein Konjunkturpaket beschlossen zu haben. Nicht so gut war, dass ARD-Chefredakteur Baumann stattdessen glaubte, das Interesse der Zuschauer am besten dadurch zu gewinnen, dass er die Monumentalität des Ereignisses in den ersten Satz gerinnen ließ: „Der zwölfte Tag des Jahres war politisch wahrscheinlich schon einer der wichtigsten.“ Von diesem Tonfall sollte sich die ganze Sendung nicht mehr berappeln, Kanzlerin und Moderatoren tauschten entschlossen bis grimmig technische Fachbegriffe und bürokratische Superwörter aus.

ZDF-Innenpolitikchefin Schausten hatte dagegen offenbar beschlossen, dass Nüchternheit und Details was für Weicheier sind, und schon mal Frank Plasberg im Fernsehen gesehen. „Sind Sie, Frau Merkel, eine Schuldenkanzlerin“, lautete ihre erste Frage, und die Angesprochene brauchte sichtlich eine Sekunde, bis ihr einfiel, dass sie die Frage natürlich nicht beantworten muss. Die ZDF-Leute hatten sogar einen Einspielfilm mit den markigen, nur wenige Monate alten Schuldenabbau-Zitaten Merkels und Peer Steinbrücks vorbereitet. Und tatsächlich sorgte ihr Wille zur Zuspitzung für das munterere und ergiebigere Gespräch – auch wenn sich die Kanzlerin vor lauter Bemühen um fluffige Volksnähe und Anschaulichkeit gleich am Anfang hübsch in ihrer eigenen Metapher verstrickte:

Peter Frey: Sie haben sich beim CDU-Parteitag als schwäbische Hausfrau präsentiert: sparsam, nur das ausgeben, was man wirklich hat. Jetzt ist es eine richtige Kehrtwende eigentlich, dieses Kulturpaket.

Angela Merkel: Ich hab das überhaupt nicht kehrtgewendet. Sondern die schwäbische Hausfrau ist das Modell für das Wirtschaften in der Welt. Und dass wir in diese Krise gekommen sind, ist der Ausdruck dessen, dass sich nicht alle wie die schwäbische Hausfrau verhalten haben. Jetzt sind wir aber in einer Ausnahmesituation. Und wenn Not am Mann ist, dann bin ich ganz überzeugt, dass auch eine kluge Hausfrau vielleicht beim Nachbarn fragt, ob man etwas tun kann, damit auch der Patient wieder aufgepäppelt werden kann.

Ob die schwäbische Hausfrau sich in diesem Bild beim Nachbarn Aspirin borgt oder ihm ihrerseits Schirme, Schals und Pakete vorbeibringt, blieb offen.