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Die „Tagesthemen“ machen die besten „Tagesthemen“ aller „Tagesthemen“

Berlin. Das Kollektiv des FAZ.net-Fersehblogs hat auf seiner jährlichen Vollversammlung eine positive Bilanz des abgelaufenen Blogjahres gezogen. Bei der Zusammenkunft, die in diesem Jahr erstmals an einem historischen Ort stattfand, in einer Gartenlokalität der Nähe der ehemaligen Berliner Grenze zwischen den Stadtteilen Treptow und Kreuzberg, wurde bei zunehmend besserer Stimmung auch wieder das begehrte Bier ausgeschenkt. Die beiden Anwesenden gratulierten sich gegenseitig zu ihren gelungenen Beiträgen und zitierten Lieblingspointen aus ihren eigenen Texten. Die hohe Qualität der Einträge sei auch in Zukunft eine zentrale Voraussetzung für die Qualitätssicherung, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Nur so könne die Position des FAZ.net-Fernsehblogs als führendes Fernsehblog auf FAZ.net gewährleistet werden. „Der überragende Erfolg zeigt, dass es richtig war, den Forderungen nach einer stärkeren Berücksichtigung von Koch-Themen oder gar Hochkultur nicht nachzugeben“, betonten die Verantwortlichen und wiesen darauf hin, dass man so jung vermutlich auch nicht mehr zusammenkommen werde.

Und damit zu einem ganz anderen Thema.

In Hamburg fand gerade das jährliche ARD-Inlandskorrespondententreffen statt, bei dem erneut die „Tagesthemen-Awards“ für die besten Nachrichtenbeiträge verliehen wurden. Die besten Nachrichtenbeiträge der ARD, natürlich, wobei aus Sicht des Senderverbundes vermutlich das eine mit dem anderen eh identisch ist. Nun ist so eine interne Preisverleihung sicher eine schöne Sache, als Ansporn und Anlass, über die eigene Arbeit nachzudenken. Für die ARD scheint es aber auch so etwas wie die jährlichen Ernte- und Produktionssoll-Erfüllungsmeldungen der „Aktuellen Kamera“ des DDR-Fernsehens zu sein.

In einer Pressemitteilung des NDR heißt es:

Die Chefredakteure von ARD-aktuell, Dr. Kai Gniffke und Thomas Hinrichs, lobten das große Engagement der Kolleginnen und Kollegen in den Landesrundfunkanstalten und den Auslandsstudios. Die hohe Qualität der Beiträge seien Grundvoraussetzung für den erfolgreichen Kurs der letzten Jahre.

Das ist keine Selbstverständlichkeit. Im Vorjahr zum Beispiel musste Herr Gniffke noch auf seinen Doktortitel und die weibliche Belegschaft auf ihre Erwähung ganz verzichten. Damals verlautbarte der NDR:

Die Chefredakteure von ARD-aktuell, Kai Gniffke und Thomas Hinrichs, lobten das große Engagement der Kollegen in den Landesrundfunkanstalten und den Auslandsstudios. Durch die hohe Qualität der Beiträge seien die Tagesthemen auch weiterhin erfolgreichem Kurs.

Nun gibt es aber nicht nur ARD-aktuell-Chefredakteure, sondern auch einen ARD-Chefredakteur. Was mag der sagen zur Qualität der Arbeit der „Tagesthemen“?

ARD-Chefredakteur Thomas Baumann würdigte die herausragende Qualität insbesondere der politischen Berichterstattung, die mehr als zwei Drittel der täglichen Sendezeit ausmache und die für die Glaubwürdigkeit der ARD von fundamentaler Bedeutung sei.

Oh, Verzeihung, das war seine Einschätzung im vergangenem Jahr. In diesem Jahr fällt sein Urteil wie folgt aus:

ARD-Chefredakteur Thomas Baumann würdigte die herausragende Qualität insbesondere der politischen Berichterstattung, die mehr als zwei Drittel der täglichen Sendezeit ausmache, und die für die Glaubwürdigkeit der ARD von fundamentaler Bedeutung sei.

Nun täte man den mehreren Dutzend Verantwortlichen in der ARD-Chefredaktion in München, bei ARD-aktuell in Hamburg, bei der ARD-Generalsekretärin in Berlin, in der NDR-Pressestelle und in der NDR-Intendanz, von denen die Erfolgsmeldung vermutlich abgesegnet werden musste, unrecht, wenn man so täte, als hätte da jemand einfach die Leerfloskeln vom letzten Jahr wiederholt (als Fanal gegen sinkende Gebühreneinnahmen, womöglich). Nein, im vergangenen Jahr erklärte der Zweite Chefredakteur Hinrichs den angeblichen Quotenerfolg seiner Sendung noch so:

„Gerade wenn man an einer seriösen Berichterstattung festhält, die Abstand nimmt vom süßen Gift der Boulevardisierung, ist man angewiesen auf erstklassig gestaltete Filmbeiträge“, so Thomas Hinrichs.

Der Einsatz einer Metapher galt angesichts des Legitimationsdrucks, unter dem die Öffentlich-Rechtlichen stehen, in diesem Jahr offensichtlich als zu kontrovers. Deshalb heißt es diesmal nur:

„Die Zuschauer haben Interesse an fundierten, seriösen Informationen. Eine Boulevardisierung von Nachrichten lehnen wir daher ab. Öffentlich-rechtlicher Informationsjournalismus muss erklären, einordnen und Orientierung geben,“ so Hinrichs.

Und darf, das fügen wir hinzu, keine Angst haben, sich zu wiederholen, prawdaeske Pressemitteilungen zu veröffentlichen und sich vollständig lächerlich zu machen. Übrigens: „Mit Witz und Charme führte die ARD-Moderatorin Linda Zervakis durch den Abend.“ Aber auch das wussten Sie ja schon.

Nachtrag, 5. Juli. Die Erfolgsmeldung ist heute nun auch – vermutlich entsprechend dem Fünf-Jahres-Jubel-Plan – im „Tagesschau“-Blog veröffentlicht worden. Dort kann man sich auch die ausgezeichneten Beiträge ansehen.

Vielleicht geht es Ihnen auch so

Ich möchte die ARD mögen.

Ich bin ein großer Freund der Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die ARD hat mir einen tollen Preis verliehen. Ich verdanke ihr die „Sesamstraße“, Loriot, Eberhard Fechners „Prozess“, „ZAK“, Wiwaldi und Jörg Thadeusz.

Aber manchmal, wenn ich Pech habe und gefragt werde, was an der ARD eigentlich so toll ist, fällt mir nichts ein, weil mir nur Reinhold Beckmann, Alois Theisen, „In aller Freundschaft“ und Hansi Hinterseer einfallen.

Anscheinend bin ich nicht der einzige, dem es so geht. Anscheinend haben auch und gerade ARD-Mitarbeiter dieses Problem. Deshalb hat der SWR an seine Leute jetzt Spickzettel verschickt mit „10 guten Gründen für die ARD“.

SWR-Intendant Boudgoust schreibt ihnen:

Liebe Mitarbeiterin, lieber Mitarbeiter,

„Ach, du arbeitest beim SWR?“ — diesen Satz kennen Sie sicher, und vielleicht geht es Ihnen auch so, dass Sie zunehmend darauf angesprochen werden, warum es den öffentlich-rechtlichen Rundfunk überhaupt noch braucht.

Dass die GEZ keinen guten Ruf hat, ist klar. Wer zahlt schon gerne Gebühren? Dass sich das negative Image aber auch auf die Sender überträgt, ist relativ neu. Und auch wenn Sie sicher davon überzeugt sind, dass der SWR und der öffentlich-rechtliche Rundfunk wichtig sind, fällt es Ihnen vielleicht nicht immer leicht, dies auch konkret zu begründen.

Da möchte ich Ihnen gerne helfen, denn schließlich gehört es zu meinem Job, jeden Tag vielen Leuten zu erklären, dass wir uns in Deutschland auch in Zukunft den öffentlich-rechtlichen Rundfunk leisten sollten, weil wir es uns nicht leisten können, darauf zu verzichten.

„9 von 10 guten Gründen für die ARD“ haben wir auf dem kleinen Kärtchen, das diesem Brief anhängt, für Sie aufgeschrieben. Kurz und knackig formuliert, vom Kinderprogramm bis zur Kulturarbeit. Manches davon soll provozieren und bewusst zum Nachdenken anregen. Es handelt sich hier nicht um in Stein gemeißelte „10 Gebote“, sondern um einen Anstoß für die Diskussion in unserem Haus. Denn die Gründe gelten natürlich nicht nur für die ARD insgesamt, sondern auch für den SWR im Besonderen. Zusätzliche Infos, Zahlen und Beispiele zu den einzelnen Punkten finden Sie im SWR-Intranet unter >Der SWR>Gebühren. Dort können Sie auch weitere Gründe selbst beisteuern, die Ihnen besonders wichtig sind.

Und vielleicht möchten Sie ja das kleine Kärtchen in Ihren Geldbeutel stecken, damit Sie ganz schnell noch einen Blick darauf werfen können, wenn Sie das nächste Mal jemand auf Ihren Arbeitgeber anspricht. Denn Sie und Ihre gute Arbeit sind der zehnte und beste Grund, warum es uns geben muss! Seien Sie Fürsprecherin und Fürsprecher für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Er hat es verdient.

Viele Grüße,
Ihr
Peter Boudgoust

Hach. Wird einem da nicht warm ums Herz?

Freundlicherweise hat mir ein SWR-Mitarbeiter sein Kärtchen zur Verfügung gestellt. Das leg ich mir jetzt neben den Fernseher, für wenn die Zweifel wieder kommen.

Dann schauen wir mal:


Ooo-kay.

Das ist ja nicht alles falsch, und vermutlich muss man schon froh sein, dass sich nur der letzte Punkt reimt. Und Boudgousts Worte in der Gebrauchsanweisung, dass „manches davon provozieren und bewusst zum Nachdenken anregen soll“, sind vermutlich auch als eine Art Warnung gemeint, nicht jedes Wort beim Wort zu nehmen, oder eine Entschuldigung, dass die Verfasser selbst es mit dem Nachdenken nicht übertrieben haben.

Aber das wüsste ich dann doch gerne: Inwiefern die Tatsache, dass die öffentlich-rechtlichen Programme nur 60 Cent am Tag kosten, die ARD „unverzichtbar“ macht. Wäre sie verzichtbarer, wenn es mehr wären? Weniger?

Und die ARD hat „die meisten Zuschauer und Hörer“? Die Rechnung würde ich dann doch gern mal im Detail sehen. Vermutlich muss man dazu beim Fernsehen das Erste und die diversen Dritten zusammenzählen, darf aber andererseits nicht die Sender der RTL-Gruppe addieren.

Inwiefern sind die Fußballübertragungen, für deren Rechte die ARD absurd viel Geld ausgibt, „for free“, wenn der Zuschauer doch Rundfunkgebühren zahlt? Und kommt die „Pisa-Versicherung“, die Deutschland braucht, auch dafür auf, wenn dieser schiefgestapelte Argumententurm einstürzt?

Das liest sich beim besten Willen (und der steckt sicher dahinter) sehr angestrengt. Gibt es nicht eine psychologische Regel, dass es schwer ist, jemanden zu mögen, der sich selbst nicht mag?

Ich mache mir jetzt noch ein bisschen mehr Sorgen um die ARD.

Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten

Heute lernen wir etwas über die Kriterien professioneller Medien bei der Nachrichtenauswahl. Und über als Journalismus getarnten Lobbyismus in eigener Sache.

Vor zwei Monaten hatte die FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin eine Idee, wie sich die Welle der hysterischen Berichterstattung über eine geplante iPhone-Anwendung von tagesschau.de noch weiter verlängern ließ — und sie auf ihr reiten könnte: Sie stellte eine parlamentarische Anfrage an die EU-Kommission, ob sie in dieser Sache „Handlungsbedarf“ sehe.

Die Medien, von denen einige wie „Spiegel Online“ und „Bild“ ohnehin längst publizistische Kampagnen gegen die ungeliebte neue Konkurrenz im Netz führten, nahmen die Vorlage begeistert auf.

„Bild“, 18.2.2010:

FDP bringt das „Tagesschau“-App vor EU-Kommission

Brüssel – Neuer Wirbel um das geplante „Tagesschau“-App der ARD. Auf Antrag der Vizepräsidentin des Europa-Parlaments, Silvana Koch-Mehrin (FDP), prüft jetzt die EU-Kommission, ob die umstrittene Internetanwendung fürs Handy gegen EU-Recht verstößt.

In einer Beschwerde bei EU-Kommissarin Neelie Kroes moniert Koch-Mehrin, die ARD könne einen solchen Dienst „offensichtlich nur deswegen kostenlos bereitstellen, weil sie durch obligatorische Rundfunkgebühren finanziert wird“. Dagegen müssten private Anbieter „ein solches Angebot kostenpflichtig machen“.

Aus ihrer Sicht nutze „die ARD ihr staatlich garantiertes Recht auf ein hohes Gebührenaufkommen aus, um sich gegenüber privaten Konkurrenten einen nicht gerechtfertigten Vorteil zu verschaffen“, so Koch-Mehrin. (…)

ddp, 18.02.2010:

FDP bringt „Tagesschau“-App vor EU-Kommission

Brüssel/Berlin (ddp). Neuer Wirbel um die geplante «Tagesschau»-Applikation (App) der ARD. Auf Antrag der Vizepräsidentin des Europa-Parlaments, Silvana Koch-Mehrin (FDP), prüft die EU-Kommission, ob die Internetanwendung fürs Handy gegen EU-Recht verstößt, schreibt die „Bild“-Zeitung (Donnerstagausabe). (…)

dpa, 18.2.2010:

FDP kritisiert iPhone-Pläne der ARD

Brüssel (dpa) – Die FDP warnt bei einer von der ARD geplanten Anwendung für das iPhone vor Wettbewerbsverzerrungen. In einer Anfrage der FDP-Europaabgeordneten Silvana Koch-Mehrin an EU- Medienkommissarin Neelie Kroes hieß es, die ARD wolle ein kostenloses „App“ für iPhone-Nutzer zur Verfügung stellen, für das private Anbieter Kosten erheben müssten. Kroes solle klären, ob dies gegen die EU-Wettbewerbs- und Binnenmarktregeln verstoße.

„Die ARD kann dieses Angebot offensichtlich nur deswegen kostenlos bereitstellen, weil sie durch obligatorische Rundfunkgebühren finanziert wird“, hieß es zudem in einem persönlichen Schreiben Koch-Mehrins an Kroes, das am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur dpa vorlag. Auch die „Bild“-Zeitung hatte davon berichtet.

Die EU-Kommission muss innerhalb von drei Wochen antworten, oder eine Verzögerung begründen. (…)

„Der Westen“, 18.2.2010:

FDP schwärzt ARD wegen Tagesschau-App bei der EU an

„Meedia“, 18.2.2010:

Der ARD bläst in Sachen Tagesschau-App der Wind aus allen Richtungen ins Gesicht. Jetzt schaltet sich auch die Politik in die heftig umstrittene Debatte über Online-Kompetenzen der Öffentlich-Rechtlichen ein. Nach Informationen der Bild-Zeitung hat die FDP-Politikerin und Vizepräsidentin des Europaparlaments Silvana Koch-Mehrin einen Antrag bei der EU-Kommission durchgesetzt, wonach geprüft werde, ob die mobile Online-Expansion der Nachrichtensendung mit europäischem Recht vereinbar ist. (…)

„Spiegel Online“, 18.2.2010:

FDP-Politikerin schaltet EU-Kommission ein

„Berliner Zeitung“, 19.2.2010:

Jetzt eben auch Silvana Koch-Mehrin. In der hitzigen Debatte über den Digitalisierungsdrang des gebührenfinanzierten Rundfunks hat sich gestern die Europa-Abgeordnete der FDP zu Wort gemeldet. Die Politikerin rief die EU-Kommission an, um von höchster Stelle prüfen zu lassen, ob die „Tagesschau“ mit einer eigenen Anwendung (App) auf internetfähigen Mobiltelefonen wie dem iPhone unterwegs sein darf, wie sie es von diesem Frühjahr an nach eigenem Bekunden tun will. (…)

„Tagesspiegel“, 19.2.2010:

„Tagesschau“-App fürs iPhone beschäftigt EU-Kommission

Der Streit um die geplante iPhone-Anwendung von tagesschau.de beschäftigt auch die Europäische Union. Silvana Koch-Mehrin, FDP-Abgeordnete und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, will von der Kommission prüfen lassen, ob eine Wettbewerbsverzerrung vorliegt. (…)

„RP-Online“, 21.2.2010:

(…) Verleger mit eigenen Nachrichtenangeboten im Netz warnen seit Monaten vor einer Wettbewerbsverzerrung durch einen unbeschränkt agierenden Online-Auftritt der „Tagesschau“, der sich aus Rundfunkgebühren finanziert. Mit den ARD-Vorhaben, eine kostenlose Variante von tagesschau.de speziell für das iPhone von Apple bereitzustellen, beschäftigt sich dem [„Focus“] zufolge inzwischen auch EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia. (…)

„Der Spiegel“, 22.2.2010:

(…) Die bisher nur angekündigte „Tagesschau“-App beschäftigt indes auch die Politik. Die FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin hat bei der EU-Kommission eine Prüfung des ARD-Angebots gefordert. (…)

„Der Focus“, 22.2.2010:

(…) Währenddessen beschäftigt sich auch die EU-Kommission in Brüssel mit den Internet-Aktivitäten der „Tagesschau“. Dabei geht es um das ARD-Vorhaben, eine kostenlose Variante von tagesschau.de speziell für das iPhone von Apple bereitzustellen, einer sogenannten App. Die FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin hatte in einem Brief an EU-Medienkommissarin Neelie Kroes vor Wettbewerbsverzerrung durch diese App gewarnt.

Kroes‘ Behörde hat den Fall inzwischen an den neuen EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia weitergereicht, der drei Wochen Zeit für die Prüfung hat.

(„Welt Online“ kopierte übrigens einfach die Meldung aus ihrem Schwesterblatt „Bild“ fast wörtlich und ergänzte sie um den sachdienlichen Hinweis: „Die kostenpflichtigen iphone-Apps von WELT und ‚Bild‘ sind seit ihrem Start im Dezember schon von mehr als 100.000 Nutzern gekauft und herunter geladen worden. Neueinsteiger können die WELTApp für 1,59 Euro einen Monat lang testen.“ Dazu stellte „Welt Online“ eine 16-teilige Bildergalerie mit Fotos von dem eigenen Angebot und Informationen wie: „Willkommen in der WELTApp. So haben Sie noch nie mobil gesurft.“)

Vor gut einer Woche bekam Frau Koch-Mehrin Antwort auf ihre Fragen. Sie fiel vernichtend aus. Wettbewerbskommissar Almunia schrieb ihr, dass die EU-Kommission keinen Anlass sieht, gegen die geplante App vorzugehen. Grundsätzlich sei es zulässig, mithilfe von Rundfunkgebühren neue Verbreitungsplattformen wie das iPhone zu erschließen. Ob die geplanten Dienste die Bedingungen dafür erfüllen, werde vorab im Drei-Stufen-Test geprüft, der aber „nur für tatsächlich ’neue‘ und ‚relevante‘ Dienste durchgeführt“ werden müsse. Für Beschwerden, was den Ablauf dieses Verfahrens angehe, sei die EU-Kommission nicht zuständig, erklärte der Kommissar der FDP-Politikerin. Das sei Sache der Bundesländer.

Almunias Antwort trägt das Datum vom 8. April. Eine Woche später, am vergangenen Donnerstag, veröffentlichte die ARD eine Erklärung, in der sie die „Zurückweisung“ der Anfrage Koch-Mehrins begrüße. Am selben Tag berichtete die Nachrichtenagentur epd über die Antwort der EU-Kommission und die Genugtuung der ARD.

Und so haben die oben zitierten Online- und Print-Medien, Boulevardzeitungen und Nachrichtenagenturen, Fach-Medien und Nachrichtenmagazine über diesen Ausgang der Sache berichtet, deren Anfang sie so eifrig begleiteten:

 

 

 

 

 

 

 

 

(Vollständige Übersicht.)

Der sechzigste Geburtstag, oder: Der ARD geht’s wohl zu gut

Schauen Sie sich bitte vorab einmal dieses Video an. Die BBC hat es 1997 produziert, um für sich zu werben. So unterschiedliche Künstler wie David Bowie, Elton John, Heather Small, Suzanne Vega und der Baritonsänger Thomas Allen sangen mit verschiedenen Instrumentalisten, Chören und dem BBC-Sinfonieorchester „Perfect Day“ von Lou Reed. Am Ende stand die Botschaft: Die BBC hat für jeden Musikgeschmack etwas zu bieten. Und sie kann sich das leisten, weil sie durch Rundfunkgebühren finanziert wird: BBC. You make it what it is.

Natürlich ist es ungerecht, die ARD mit der BBC zu vergleichen – nicht nur wenn es um das Reservoir an Weltklasse-Künstlern geht, aus dem man für einen solchen Spot schöpfen kann. Die Bedeutung der BBC als identitätsstiftende Institution einer Nation ist ungleich größer. Aber genau deshalb muss sie sich – bei allen Anfeindungen, denen sie sich ausgesetzt sieht – auch weniger vor der Zukunft fürchten. So sehr die Briten auf die BBC schimpfen, so sehr wissen sie, was sie an ihr haben.

Wissen die Deutschen, was sie an der ARD haben? Wäre so ein runder Geburtstag, wie ihn die ARD in diesen Tagen feiert (sie feiert cirka jedes zweite Jahr ein rundes Jubiläum, weil sie sich mal auf den Gründungstag der ARD und mal auf den ersten Sendetag des gemeinsamen Fernsehprogramms bezieht), wäre ein solcher 60. Geburtstag nicht ein guter Termin, die Menschen daran zu erinnern?

Es muss ja nicht gleich eine Produktion werden, die sich die Menschen noch 13 Jahre später massenhaft auf YouTube ansehen. Aber wenn man schon einmal auf dem letzten verbliebenen Primetime-Sendeplatz im Ersten, der theoretisch zumindest gelegentlich noch für so etwas ähnliches wie Dokumentationen verwendet wird, 45 Minuten lang für sich werben kann – sollte man diese 45 Minuten nicht dafür nutzen, für sich zu werben?

Die ARD findet das nicht. Als würde da draußen nicht gerade eine durchaus existenzbedrohende Debatte toben, ob wir uns in Zukunft überhaupt noch einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk leisten müssen und wollen, verzichtete sie darauf, einen Film zu machen, der den Zuschauern und Gebührenzahlern das Einzigartige, das Unverzichtbare an der ARD in Erinnerung ruft (mal vorausgesetzt, dass jemandem im Senderverbund dafür noch Beispiele einfallen würden). Der eigene Film zum 60. Geburtstag hätte streitbar sein können, amüsiert, selbstbewusst, selbstkritisch, natürlich unterhaltsam, zur Not defensiv. Stattdessen begab sich der Gratulant Benjamin Cors ganz in die Perspektive eines staunenden kleinen Kindes: Wahnsinn, Fernsehen. Was da alles passiert! Und wir können zugucken! Ist das nicht unglaublich?

Das Fernsehen ist in weiten Teilen über die Phase der Boulevardisierung hinaus. Es geht längst um Infantilisierung. Die Sendung „Glückwunsch, ARD!“ ist ein Dokument dieses Trends, und das beunruhigendste ist, wie sehr sie es genießt, sich mal ganz blöd zu stellen.

Fünf Schauplätze hat Cors sich ausgesucht, um jeweils eine Facette der ARD zu zeigen. Er beginnt bei Dreharbeiten zu einem Kölner „Tatort“. Der Off-Sprecher erzählt mit der Stimme eines Gute-Nacht-Geschichten-Erzählers:

So viel Hektik, so viele Menschen hinter der ARD-Kommissaren. Es geht um Mord. 22 Drehtage für 90 Minuten Film. Die haben hier keine Zeit zu verschwenden. (…) Die Festnahme wurde mehrmals aus unterschiedlichen Perspektiven gedreht. Und wie auf Knopfdruck werden aus Schauspielern Kommissare!

Das muss man sich einmal vorstellen: Wie auf Knopfdruck werden aus Schauspielern Kommissare! Doch in der ARD gibt es nicht nur Schauspieler, die, nun ja: schauspielern. Hier laufen zum Beispiel auch Nachrichten.

In diesem Raum werden die „Tagesthemen“ geplant. Das klingt so spannend, da wollen wir dabei sein! Dürfen wir auch. Die ARD hat schließlich Geburtstag. Und Caren Miosga nimmt uns einfach mal mit durch ihren Tag. Erst mal redet sie über einen Bankenskandal. Das ist uns zu kompliziert. Wir reden lieber mit ihr – über ihr erstes Mal.

Die Welt ist voller Dinge, die man als ARD-Dokumentarfilmer nicht versteht. Bankenskandale sind nicht das einzige.

Es gibt hier viele Uhren und viele Zeitungen. Da kann einem schon ein bisschen wirr werden.

Uuuuh, Uhren! Buchstaben!

Das Jackett von Caren Miosga ist übrigens blau. Viele interessieren sich ja vor allem dafür.

Während der Sprecher das erklärt, ist exakt Folgendes im Bild zu sehen (Beschriftung von uns):

Die ARD hält ihre Zuschauer nicht nur für blöd, sondern auch für blind.

Manchmal fühlt man sich an die „Sendung mit der Maus“ erinnert. Aber deren Macher würden vermutlich nicht so sprechen, weil sie wüssten, dass die Kinder das als zu kindisch ablehnen würden. Zu Besuch bei der SWR-Jugendwelle Das Ding heißt es:

Der Mann mit der Mütze macht, dass es nachher laut wird im Radio.

Und wieder im „Tagesthemen“-Studio:

Caren Miosga schaut auf den Tisch – beziehungsweise: in den Tisch. Da ist nämlich ein Bildschirm eingebaut. Jan Hofer ist der Mann an Miosgas Seite. Für den hat sie aber keinen Blick übrig. Denn der nächste Einsatz wartet.

(An dieser Stelle war ich ein bisschen enttäuscht, dass nicht wenigstens erklärt wurde, was ein „Tisch“ ist.) Und ewig dieses Staunen, diese alberne Glücksangeberei, dabei sein zu dürfen, als ARD-Kamerateam hinter den Kulissen einer ARD-Fernsehsendung…

Und dann stehen wir direkt neben Ihm, während Florian Silbereisen um Beistand bittet. Florian Silbereisen – mit dem dürfen nur wir hinter die Kulissen!

…oder einer ARD-Radiosendung:

Wir sind aufgeregt. Denn: Schließlich dürfen wir umsonst ins Stadion! Mit Sabine Töpperwien. Ganz oben unters Dach! Auf die besten Plätze! Wir wollen ja auch wirklich alles mitbekommen.

Sprache und Haltung sind aber natürlich nur das eine. Das andere ist das völlige Fehlen eines Bewusstseins, dass die ARD, mehr denn je, eine Legitimation für die Milliardengebühren braucht, dass die Menschen sie für unverzichtbar halten müssen, dass es nicht reicht, irgendetwas Fluffiges zu senden, selbst wenn die Quoten stimmen. Wenn der Sprecher sagt: „Irgendwo hier müssen auch die ganzen jungen Leute sein, die Das Ding so spannend machen“, dann feiert die ARD in ihrer Jubiläums-Dokumentation allen Ernstes ein Programm als Vorzeige- und Zukunfts-Projekt, das zumindest nach dem, was man in der Sendung davon sieht, eine schlichte Kopie der privaten Dudel- und Quatschfunksender darstellt. Dass nicht auszuschließen ist, dass Das Ding seine Hörer zur Not auch informieren will, lässt sich nur aus folgendem Off-Text schließen:

Es ist kein leichter Morgen für Frederik Peters. Das Thema des Tages ist nämlich – eher unsexy: Der Tarifstreit. Bei der Bahn. Aber auch damit müssen die beiden [Moderatoren] versuchen, junge Hörer zu erreichen!

Es scheint echt ein Fluch zu sein, öffentlich-rechtliche Mindeststandards zu erfüllen. Und dann sehen wir Peters, wie er das macht, mit dem Thema, das eher unsexy ist, junge Hörer zu erreichen. Er sagt als eine Art Überleitung: „Nach dem Motto, eben war ich noch blau, und jetzt fährt keine Bahn.“

Ganz klein hat sich die ARD mit dieser Geburtstagsdokumentation gemacht. So klein, dass sie sich selbst riesig finden musste, schon wegen der vielen Leute! Und der ganzen Mikrofone! Und der blinkenden Lichter! Womöglich glaubt sie, das reicht schon, wenn das Publikum denkt: Mensch, von unseren Gebühren kaufen die aber tolle Tische mit Löchern drin. Und lassen den Silbereisen über heiße Kohlen geben. Und machen Dokumentationen, die man zusammen mit der sechsjährigen Nichte und der dementen 117-jährigen Großmutter gucken kann, und keiner fühlt sich überfordert.

Das Elend der Debatte um ARD und ZDF

Es ist wie ein schlimmer Tinnitus. Ein nerviges Klingeln, das nie wieder aufhört. Seit Monaten läuten Verleger und Privatsender ununterbrochen irgendwelche Alarmglocken. Jeden Tag beschwert sich irgendein Lobbyist wieder lautstark über irgendeine Ungerechtigkeit, beklagt irgendeine Ungeheuerlichkeit, kündigt Eingaben, Klagen, Proteste an. Und jedesmal steht damit alles auf dem Spiel: Die Existenz von tausenden Arbeitsplätzen. Die Zukunft des Journalismus. Die Grundlage unserer Medienordnung. Das Funktionieren der Demokratie.

Wenn morgen die Meldung käme, dass die Verlegerverbände jetzt mit Selbstmordanschlägen drohen, wenn nicht sofort alle tun, was sie sagen — ich wäre nicht überrascht.

Sprachlich sind die Eskalationsmöglichkeiten längst erschöpft. WAZ-Geschäftsführer Christian Nienhaus hat eine Beschlussvorlage des NDR-Rundfunkrates, die dem Angebot tagesschau.de großen Bestands- und Entwicklungsschutz gewähren will, den „größtmöglichen Super-GAU in der deutschen Medienpolitik der vergangenen 20 Jahre“ genannt (und niemand verrät ihm, wofür das „G“ in „GAU“ steht).

Die Logik hat bereits vor einer Weile einen Ausreiseantrag aus der Diskussion gestellt, der offenbar jetzt genehmigt wurde. Der Verlag Gruner+Jahr fordert, den Rundfunkstaatsvertrag zu ändern, weil der NDR die darin nach Ansicht des Verlages enthaltene Beschränkungen nicht versteht. Das ist der eingesprungene Rittberger der Lobbyarbeit: Man behauptet einerseits, dass die gesetzlichen Vorgaben jetzt schon eindeutig sind und der NDR dagegen zweifelsohne verstoßen habe, und andererseits, dass die gesetzlichen Vorgaben verschärft werden müssen, weil sie nicht eindeutig sind, und tut so, als sei das gar kein Widerspruch.

Wenn man aus Verlogenheit Energie machen könnte, ließe sich dank dieser Debatte ein Atomkraftwerk abschalten. Die Verlegerverbände fordern, dass endlich die Politik etwas tun muss. Der oberste Zeitschriftenlobbyist Wolfgang Fürstner hat den niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff gebeten, gegen die „Pläne des NDR“ einzuschreiten. Als aber Wulffs Hamburger Kollege Ole von Beust vorübergehend im Verdacht stand, das Vorgehen des Rundfunkrates gutzuheißen, maßregelte das „Hamburger Abendblatt“ sofort den Politiker, er dürfe sich nicht in ein „laufendes Verfahren“ einmischen.

Nun bin ich kein Experte dafür, was die richtige Strategie ist, um auf Politiker Eindruck zu machen. Immerhin hatten die Verleger mit ihrer Kampagne für ein Leistungsschutzrecht bei der schwarz-gelben Koalition Erfolg, obwohl auch die fast ausschließlich auf die Strategie setzte, möglichst laut und langanhaltend zu brüllen, und bis heute niemand erklären kann, wie genau ein entsprechendes Gesetz aussehen soll und auf welche wundersame Weise es die Verlage retten würde.

Ich frage mich aber, welche Wirkung das ununterbrochene Geheule auf die interessierte Öffentlichkeit hat. Die Verleger schlagen wild um sich wie ein Ertrinkender. Die Botschaft, die sie damit aussenden, lautet: Wir sind nur dann noch in der Lage, genügend Geld zu verdienen, um die Menschen vernünftig zu informieren, wenn alle Rahmenbedingungen zu unseren Gunsten verändert und jeder störende Konkurrent ausgeschaltet wird. Die Geschäftsgrundlage ist offenbar so fragil, dass es schon tödlich sein kann, wenn es einem öffentlich-rechtlichen Anbieter erlaubt wäre, seine Inhalte auf einem beliebten Smartphone in etwas attraktiverer Form als bisher anzubieten. Der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer AG, Mathias Döpfner, hat (mutmaßlich) allen Ernstes die geplante „Tagesschau“-App für das iPhone mit dem Verlust von „Tausenden Arbeitsplätzen in der Verlagsbranche“ in Verbindung gebracht und ist trotzdem nicht aus dem Land gelacht worden. WAZ-Co-Geschäftsführer Bodo Hombach will in diesem Zusammenhang nun sogar anderen Verlagen das Geschäftsmodell vorschreiben und geißelt eine App der „Financial Times Deutschland“ als Sünde, weil sie nichts kostet. (Vielleicht hat ihm niemand gesagt, dass es sich beim konkreten Angebot nur um die Aufbereitung auch sonst frei verfügbarer Inhalte handelt und nicht etwa um eine Art E-Paper wie bei den kostenpflichtigen Apps von „Bild“, „Welt“ und „Spiegel“.)

Es spricht nicht für den Glauben an die Einzigartigkeit und Hochwertigkeit der eigenen Produkte, wenn Verlagsleute den Eindruck erwecken, die Leser würden im Internet oder auf ihrem Telefon die erstbeste Gelegenheit nutzen, die kostenpflichtige Zeitung nicht mehr zu lesen, weil sie die „Tagesschau“ umsonst kriegen. (Was ja bisher auch schon so war, sich aber in zwei verschiedenen Medien abspielte.) Rührend ist auch, wenn im Kampf gegen den Konzern Google, dem die Verleger die Einnahmen neiden, anklagend Studien zitiert werden, wonach sich ein größerer Teil der „Google News“-Leser damit zufrieden gibt, dort die Schlagzeilen zu lesen, und gar nicht mehr die eigentlichen Artikel der verlinkten Online-Medien anklickt. Mit derart anspruchslosen Lesern werden Qualitätsmedien ohnehin kein Geld verdienen können — im Zweifel sind die auch jetzt schon zufrieden damit, einen flüchtigen Blick auf die Titelseite der Zeitung am Kiosk zu werfen.

Wenn ich das Getöse richtig verstehe, verhält es sich also ungefähr so: Die Verlage müssen von der (ohnehin schon reduzierten) Mehrwertsteuer befreit werden, Google muss verboten oder zur Zahlung von Lizenzgebühren verpflichtet werden, ARD und ZDF müssen das Internet verlassen, das Zitatrecht muss drastisch eingeschränkt, das kostenlose Anbieten von Informationen untersagt und die Gratis-Kultur im Internet insgesamt vernichtet werden — dann, ja dann könnten die Verlage vielleicht, möglicherweise, wenn das Wetter stimmt, in der Lage sein, auch in Zukunft Qualitätsjournalismus anzubieten, und womöglich sogar im Netz. Sonst können sie für nichts garantieren.

Vielleicht merken Print- und Privatfernsehlobbyisten gar nicht, dass sie damit den öffentlich-rechtlichen Sendern eine neue Legitimationsgrundlage schaffen.

Denn wenn das Geschäft mit der Information für private Medien wirklich so schwierig ist, gibt es für den Staat zwei Möglichkeiten, um dafür zu sorgen, dass seine Bürger gut informiert werden. Die eine ist die, alles dafür zu tun, um den Verlagen und Privatsendern das Leben zu erleichtern, in der Hoffnung, aber ohne Gewähr, dass es reicht. Die andere ist die, die öffentlich-rechtlichen Sender zu stärken und ihnen ein Leben in der digitalen Welt zu erlauben.

Man kann nicht oft genug referieren, wie das Bundesverfassungsgericht, das die deutsche Medienlandschaft mit seinen Rundfunkurteilen maßgeblich geprägt hat, den Begriff der „Grundversorgung“ verstand, die ARD und ZDF zu leisten hätten. Er geht davon aus, dass man sich u.a. aufgrund ihrer Werbefinanzierung nicht darauf verlassen könne, dass die Programme der privaten Sender immer hohen Ansprüchen zum Beispiel an Meinungsvielfalt genügen. Man dürfe die öffentlich-rechtlichen Sender deshalb nicht darauf beschränken, die jeweiligen Lücken zu füllen, die private Anbieter aus wirtschaftlichen Gründen hinterlassen, sondern ARD und ZDF müssten all das bieten, was eine Gesellschaft an Information, Bildung, Unterhaltung brauche — und wenn Private es schaffen, das zu ergänzen, ist es schön und wenn nicht, ist es nicht schlimm. (Gegner von ARD und ZDF missverstehen den Begriff gerne als Minimalversorgung, das Schwarzbrot: Dokumentationen, Nachrichten, hochwertige Filme, die keiner guckt. So ist er nicht gemeint.)

Ähnlicher Schindluder wird mit dem Begriff des „Dualen Systems“ getrieben, insbesondere wenn angesichts wegbrechender Werbeerlöse der Privaten und konstanter oder gar steigender Einnahmen der Öffentlich-Rechtlichen beklagt wird, es sei aus dem „Gleichgewicht“ geraten. Aber die Idee dieses Dualen Systems war nicht, dass Öffentlich-Rechtliche und Private gleich stark sein sollen. Die Idee war, die Öffentlich-Rechtlichen so auszustatten, dass sie uns auch dann gutes Fernsehen liefern, wenn die Bedingungen bei den Privaten einmal dafür nicht ausreichen. Zu argumentieren, dass wenn die Privaten leiden, auch ARD und ZDF weniger kriegen sollen, ist bizarr — zeigt aber, wie sehr die Debatte nicht die Interessen der Zuschauer, sondern die der Privatsender im Blick hat.

Nun sind all diese Grundlagen maßgeschneidert für das Medium Fernsehen, dem ein außerordentlicher Einfluss auf die Zuschauer zugeschrieben wurde und dessen Verbreitung exorbitant teuer war, so dass große Macht zwangsläufig in den Händen weniger liegen würde. Man kann mit gutem Grund fragen, ob dieses System angesichts der digitalen Revolution noch zeitgemäß ist. Man könnte zum Beispiel fragen, ob ARD und ZDF im Internet noch benötigt werden, wenn Verlage, Privatsender und andere dort doch täglich beweisen, dass sie hochwertigen, vielfältigen Qualitätsjournalismus anbieten, der trotz seiner Abhängigkeit von Werbung keine Wünsche offen lässt.

Bis zur aktuellen Wirtschafts- und Werbekrise haben Verlage und Privatsender genau diesen Eindruck erweckt, um den Spielraum von ARD und ZDF im Internet gesetzlich so weit wie möglich einzuschränken. Doch nun zeigt sich plötzlich, dass keineswegs klar ist, ob und wie sich guter Journalismus im Internet finanzieren lässt. Damit bekommen die Öffentlich-Rechtlichen eine neue mögliche Legitimation auch für dieses Medium, genau genommen die alte: durch verlässlich und von allen gemeinsam finanzierte Medien eine umfassende Grundversorgung sicherzustellen, die eine rundum gut informierte Gesellschaft ermöglicht, selbst wenn die privaten Anbieter in schlechten Zeiten oder aus grundsätzlichen Problemen das nicht in befriedigendem Maße tun können.

Wohlgemerkt: Es sind die Verlags- und Privatsenderleute selbst, die diesen Eindruck gerade erwecken, dass sie unter den herrschenden Bedingungen nicht für Qualität im Internet bürgen können.

Springer-Chef Döpfner erregt sich darüber, dass die ARD ihre Nachrichten kostenlos iPhone-gerecht anbieten will und damit die Versuche seines Hauses erschwert, Inhalte auf verschiedenen Plattformen nur noch gegen Geld anzubieten. Das ist aus seiner Sicht konsequent. Natürlich wäre es für alle Verlage besser, wenn es niemanden gäbe, der journalistische Inhalte umsonst anböte, und alle Leser also gezwungen wären, dafür zu bezahlen. Ich glaube nur nicht, dass das auch im Interesse der Gesellschaft wäre.

Wolf-Dieter Ring, der Präsident der Bayerischen Landesmedienanstalt, ist natürlich niemand, der im Verdacht steht, das Interesse der Gesellschaft im Blick zu haben. Er spielt schon lange eine lustige Doppelrolle als Aufseher über die Privatsender und ihr Lobbyist. Im vergangenen Herbst rief er die Verlage dazu auf, geschlossen auf Paid-Content-Konzepte zu setzen, und forderte von der Politik, die Öffentlich-Rechtlichen in Zaum zu halten: Kostenlose Angebote wie tagesschau.de unterliefen die möglichen neuen Erlösmodelle der Verlage im Netz.

Warum soll es gesellschaftlich erstrebenswert sein, journalistische Inhalte nur denen zugänglich zu machen, die dafür zahlen können? Inwiefern ist es gut, wenn Menschen ohne Geld schlecht informiert werden? Wäre es nicht gerade dann, wenn die Verlage ihre Online-Angebote kostenpflichtig machen (müssen), erstrebenswert, ein kostenloses, aber dennoch zuverlässiges Angebot zu haben? „Kostenlos“ ist natürlich der falsche Ausdruck, denn ARD und ZDF werden ja von uns bezahlt, aber Leute ohne Einkommen sind von der Gebühr befreit — eine solidarische, soziale Konstruktion, diese Rundfunkgebühr, die zudem dafür sorgt, dass nicht nur das produziert und finanziert wird, was eine Mehrheit sehen will.

Die Konkurrenten der öffentlich-rechtlichen Sender haben durchgesetzt, dass ARD und ZDF viele Inhalte aus dem Netz löschen müssen — und keineswegs nur zweifelhafte Angebote wie Kochrezepte oder Kontaktbörsen. Seitdem sind diverse Leute in den Anstalten mit etwas beschäftigt, das den schönen Namen „Depublizieren“ trägt. Inwiefern dient es dem Gemeinwohl, wenn ARD und ZDF teuer produzierte Inhalte nur für eine begrenzte Zeit (in der Regel sieben Tage) zugänglich machen dürfen? Inwiefern ist es in meinem Interesse, dass Inhalte, die ich mit meinen Gebühren bezahlt habe, mir nur vorübergehend und nicht auf allen Plattformen angeboten werden?

Eine der lächerlichsten Äußerungen im Zusammenhang mit der geplanten iPhone-Anwendung der „Tagesschau“ war die der Springer-Pressesprecherin Edda Fels, die im vergangenen Advent pikiert formulierte: „Wir gingen davon aus, dass die vorhandenen Gebühren schon nicht mehr zur Finanzierung des bestehenden Angebots ausreichen. Deshalb wundern wir uns, dass im Vorfeld der geplanten Gebührenumstellung das Angebot sogar erweitert werden soll.“ Was wäre es für ein Quark, wenn die ARD erst teure Inhalte produzierte und dann an den im Vergleich lächerlich winzigen Kosten sparen würde, um diese Inhalte möglichst vielen Leuten möglichst bequem zugänglich zu machen? Wie sehr muss man die Welt durch eine eigene PR-Brille sehen, um nicht zu merken, dass ein zickiges „Ach dafür ist also noch Geld da?“ völlig an der Realität vorbeigeht?

Neben der iPhone-Anwendung ist ein Interview von tagesschau.de mit Kathrin Passig zum unwahrscheinlichen Symbol für den ungehemmten Expansionsdrang der Öffentlich-Rechtlichen geworden, der uns alle unter sich begraben wird. Das nette Gespräch (als bekennender Passig-Fan bin ich natürlich nicht objektiv) lief nämlich nicht im Fernsehen und bezog sich auch auf kein bestimmtes Programm, sondern war einfach nur informativ, verstieß damit also gegen die nur in bestimmten Fälllen aufgehobene Pflicht von ARD und ZDF, im Internet ausschließlich sendungsbezogene Inhalte zu veröffentlichen. Bei anderen Web-Formaten wie „Deppendorfs Woche“ (auf das ich persönlich gut verzichten könnte, aber das ist ja nicht die Frage) umgeht die ARD diese Vorgabe dadurch, dass sie sie auch in einem ihrer Digital-Kanäle ausstrahlt. Aber, Verzeihung, was ist das alles für ein Irrsinn?

Was den Tinnitus, der über der Diskussion liegt, noch unerträglicher macht, ist die Parteilichkeit der Medien. In vielen Redaktionen scheinen als Journalisten getarnte PR-Leute in eigener Sache zu arbeiten. Bei „Bild“ als Kampagnenorgan blieben natürlich als erstes die Fakten auf der Strecke. Zur Zeit findet sie fast jeden Tag Platz auf ihrer Seite 2 für einen kleinen Bericht, in dem irgendein üblicher Verdächtiger (im Zweifel auch nur der automatische Anrufbeantworter von Jürgen Doetz) sagt, wie schlimm die iPhone-Anwendung ist. Am vergangenen Montag reichte schon die Tatsache, dass, Zitat: „eine FDP-Kommission für Internet und Medien sich am Wochenende einstimmig gegen die Einführung eines Apps ausgesprochen hat“ für eine größere Meldung. Eine FDP-Kommission, holla!

„Spiegel Online“ kämpft ebenfalls an vorderster Front. Dort werden die öffentlich-rechtlichen Internetangebote schon seit Jahren bösartig als „GEZ-Web“ oder „GEZ-Netz“ bezeichnet. Seit Monaten ergänzt „Spiegel Online“ seine Artikel zum Thema mit einer Tabelle über die meistgenutzten deutschen Medienangebote, in denen ARD.de mit 34,5 Mio Visits auf Platz 3 liegt und tagesschau.de mit 20,2 Mio Visits auf Platz 6 — was höchst irreführend ist, weil die tagesschau.de-Visits in den ARD.de-Visits schon enthalten sind. ARD-aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke hat das schon vor über sechs Wochen öffentlich moniert. Irgendwann vergangene Woche muss „Spiegel Online“ die Tabelle endlich korrigiert haben. Klammheimlich, natürlich. Nachtrag/Korrektur: Stimmt gar nicht. Steht immer noch so da.

Leider hat auch die ARD noch nicht verstanden, dass es nicht nur ihre Pflicht ist, in eigener Sache ganz besonders korrekt zu berichten, sondern auch eine Chance darin läge, sich unangreifbar zu machen und von der Pro-Domo-Berichterstattung anderer Medien abzusetzen, wenn sie ihren Kritikern breiten Raum geben würde. Die BBC demonstriert regelmäßig, wie das geht. Über Kritik an der BBC kann man sich zuverlässig im Online-Nachrichtenangebot der BBC informieren. Nicht so in Deutschland. Dass die „Tagesschau“ kürzlich aus Anlass des KEF-Berichtes anstelle eines journalistischen Beitrages einen PR-Bericht in eigener Sache sendete, war ein Skandal und nicht nur frech, sondern dumm.

Denn das muss man von den Öffentlich-Rechtlichen verlangen, wenn sie von uns viele Milliarden Euro jährlich bekommen: Dass sich dieser Vorteil gegenüber der privaten Konkurrenz auch in entsprechender Qualität zeigt — und dazu gehört zu allererst vorbildlicher Journalismus.

Das einzig Gute an der hysterischen Debatte ist, dass sie sich langsam dem Kern der Auseinandersetzung nähert. Früher haben sich die Konkurrenten von ARD und ZDF an irgendwelchen Kochrezept-Seiten und Kontaktbörsen der Öffentlich-Rechtlichen abgearbeitet. Nun lenkt nur noch die scheinheilige Fixierung auf die iPhone-Application davon ab, dass die Verleger auch grundsolide Angebote wie tagesschau.de nicht hinnehmen wollen. „Tagesschau“-Chef Gniffke hat Recht, wenn er schreibt:

Seit 15 Jahren gibt es tagesschau.de, seit vielen Jahren auch mobil. Soll das jetzt zurückgedreht werden? Das wäre der Tod der Tagesschau auf Raten, da muss man kein Medienexperte sein. Dann soll man aber offen sagen: Die Tagesschau soll weg, weil wir sie 60 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik nicht mehr brauchen. Diese Diskussion kann man ehrlich führen. Aber sie hinter einer Diskussion um eine Tagesschau-App zu verstecken, damit habe ich ein Problem.

Kai Biermann hat es bei „Zeit Online“ auf die schlichte, treffende Formel gebracht: Matthias Döpfner will die Öffentlich-Rechtlichen abschaffen.

Ich wünsche mir starke, freie Öffentlich-Rechtliche im Netz. Ich glaube, dass sie der Qualität und der Vielfalt des Online-Journalismus gut tun können. Und ich glaube, anders als offenbar die Verleger selbst, dass gute private journalistische Angebote trotz dieser Konkurrenz bestehen können.

Vor allem aber wünsche ich mir, dass dieser Tinnitus wieder weggeht.

[Offenlegung: Ich arbeite nicht nur für Verlage, sondern gelegentlich auch für ARD und ZDF.]

 

Sterne, die nicht gleich verglühen

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Ab Dienstag sucht Stefan Raab den deutschen Vertreter beim Eurovision Song Contest. Aber will überhaupt noch jemand eine Castingshow sehen, der es ernsthaft darum geht, Talente zu entdecken?

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So standen sie im Nobelrestaurant oben im Berliner Reichstag, die Chefs von Pro Sieben und der ARD und der eigentliche Gastgeber, Stefan Raab, und sprachen relativ unironisch davon, dass es eine „nationale Aufgabe“ sei, den richtigen Vertreter Deutschlands beim Eurovision Song Contest zu finden. Raab hatte darauf bestanden, dass die Pressekonferenz hier stattfindet, selbst als sich herausstellte, dass der früheste freie Termin eigentlich viel zu knapp vor dem Sendestart lag und die Programmzeitschriften darüber gar nicht mehr berichten könnten. Aber auf dieses Symbol wollte er nicht verzichten.

Natürlich hätte Raab solche Pressekonferenzen auch vor zehn Jahren schon vor ähnlich historischer Kulisse veranstalten können. Damals hätte der Reiz im Kontrast zwischen der Bedeutung des Ortes und der Albernheit des Moderators bestanden. Heute liegt der Witz darin, dass Raab tatsächlich zu einem unwahrscheinlichen Symbol für Ernsthaftigkeit, Seriosität und Nachhaltigkeit geworden ist – jedenfalls was Musik angeht.

„Nachhaltigkeit“ ist das Wort, das Thomas Schreiber, der Unterhaltungskoordinator der ARD und deutsche Grand-Prix-Chef, benutzt, um den zentralen Wert des diesjährigen Vorentscheids und einen Grund für die Zusammenarbeit mit Raab zu beschreiben. Natürlich hofft die ARD darauf, dank Raab und Pro Sieben auch ein paar junge Zuschauer zu gewinnen, aber die hat der Song Contest aus nicht immer leicht zu erklärenden Gründen meist eh. Raab hat sich Vertrauen erarbeitet. Aus seinem eher als Quatsch entstandenen „Bundesvision Song Contest“ ist etwas geworden, das Raab ganz unbescheiden die „Leistungsschau der deutschen Musikbranche“ nennt. Es ist eine Plattform, auf der sich Stars, Newcomer und Möchtegern-Newcomer präsentieren, und die Teilnahme ist attraktiv auch für die, die nicht gewinnen.

Bereits zweimal hat er in seiner Sendung „TV Total“ Sänger gecastet. Es war der programmatische Gegenentwurf zu „Deutschland sucht den Superstar“: Es ging darum, dass junge Musiker zeigen, was sie können. Nicht darum, zuzusehen, wie sie zu dem gemacht werden, was von einem Superstar vermeintlich erwartet wird. Max Mutzke, der 2004 gewann, musste sich nicht die Brauen rasieren und konnte die Augen beim Singen zulassen. Und Stefanie Heinzmann, die Siegerin von 2008, sieht auch heute noch nicht aus wie ein Popstar, sondern wie sie selbst (und schon das Piercing im Gesicht hätte ihr Dieter Bohlen sicher nicht durchgehen lassen).

Wenn am Dienstag der Show-Marathon beginnt, in dem in sechs Wochen und nicht weniger als acht Shows aus zwanzig Kandidaten der deutsche Vertreter beim Grand-Prix in Oslo herausgemendelt wird, soll es in einem erstaunlichen Maße um Musik gehen. Die lustigen oder „lustigen“ Ausschnitte, in denen sich erfolglose Bewerber für die Show blamiert haben, wurden vollständig nach „TV Total“ ausgelagert. Es gibt keine Homestorys über tragische Kindheitserlebnisse oder verarmte Familienangehörige, nur Kandidaten, die vorgestellt werden, live auftreten und von einer prominenten Jury aus Raab und wechselnden Musik- und Show-Kollegen halbwegs seriös bewertet werden.

Nun ist angesichts der Protagonisten nicht damit zu rechnen, dass „Unser Star für Oslo“ ein Hochamt gediegener Hochkultur wird. Aber der Purismus ist dennoch erstaunlich – und mutig: Denn es ist keineswegs sicher, dass es überhaupt eine große Zahl von Fernsehzuschauern gibt, die gerade das sehen will: eine Musiksendung, in der es um Musik geht. Einen Wettbewerb, in dem sich die Teilnehmer nur in der Disziplin beweisen müssen, in der sie bei einem Erfolg auch glänzen sollen.

Der Erfolg der Castingshows beruht zu einem Großteil auf dem gegenteiligen Effekt. Die erfolgreichsten Sendungen von „Deutschland sucht den Superstar“ sind die Pannenshows mit den unfähigen Kandidaten als Kanonenfutter und Witzvorlage. Auch die späteren Sendungen hat RTL immer mehr zu einer Art Soap mit Reality-Elementen ausgebaut; im vergangenen Jahr mussten die Mädchen im sogenannten „Recall“ mit einer Schlange um den Hals singen, die Jungs kopfüber an einem Seil hängend.

Um Talent und gute Musik geht es auch beim Pro-Sieben-Produkt „Popstars“ nur noch am Rande: Es ist eher eine „Big Brother“-Variante mit verschärfter Psychofolter in Form von Detlef D. Soost.

Diese Uneigentlichkeit der Castingshows ist nicht verwerflich: Das wichtigste Ziel der Sender ist es nicht, echte Superstars, Popstars oder Topmodels zu kreieren, sondern möglichst hohe Einschaltquoten zu generieren. Und wenn das Zweite nur auf Kosten des Ersten geht, fällt die Entscheidung leicht. Bemerkenswert ist allerdings, dass auch das Publikum offenbar längst nicht mehr auf die Illusion, die diesen Shows eigentlich zugrunde liegt, hereinfällt. Sie gucken diese Sendungen offenkundig allein für den flüchtigen Unterhaltungswert, nicht aus einem Glauben, dass hier echte, gar dauerhafte Stars gemacht werden.

Das zeigt sich schon daran, wie erfolglos die jeweiligen Gewinner inzwischen sind. Daniel Schuhmacher, dessen Sieg bei „DSDS“ gerade einmal acht Monate zurückliegt, muss heute um jedes bisschen Aufmerksamkeit kämpfen; der Terminkalender auf seiner Homepage ist wochenlang leer. Vanessa Meisinger und Leo Ritzmann, die vor wenigen Wochen das Finale von „Popstars“ gewannen und nun unter dem unfreiwillig treffenden Namen „Some & Any“ auftreten müssen, hatten sogar nicht einmal einen kurzen gleißenden Moment an der Spitze, bevor ihr Stern verglühte. Schon ihre erste Single kam nicht in die Top Ten; ihr Album erreichte einen miserablen 47. Platz.

Vielleicht ist es auch bezeichnend, dass das Publikum bei RTL zuletzt einen sympathischen jungen Mann zum „Supertalent“ wählte, der mit seinem Hund lustige Tricks vormachte. Das war nettes Entertainment für einen Abend oder zwei, ohne die Aussicht, dass der Mann nun gleich seinen Tagesjob aufgeben musste. Auf das Versprechen einer großen Karriere konnten die Leute offenbar verzichten. Sie wollten ein „Supertalent“ für einen Tag.

Umso erstaunlicher ist es, dass die ARD und Pro Sieben sich anscheinend trauen, die Sendung als Talentsuche ernst zu nehmen. Raab hat in seinen beiden größeren Casting-Aktionen bei „TV Total“ gezeigt, dass er einen Rahmen bietet, in dem das gelingen kann: Stefanie Heinzmann schaffte mit ihren Soul-Pop-Stücken zwar keinen bohlesken Nummer-Eins-Hit. Aber ihre erste Platte erreichte Platin, sie gewann Preise, sang live Duette mit Lionel Richie und ihrem Idol Joss Stone – und es spricht viel dafür, dass ihr Erfolg vielleicht unspektakulär, aber nachhaltig ist. Es ist ein Erfolg als Sängerin, nicht als Fernsehstar. Der Wettbewerb bei Raab, den sie gewann, war ein seltenes Beispiel dafür, dass sich das Fernsehen auch für etwas anderes interessieren kann als sich selbst. Aber das Finale begann um 23.20 Uhr und endete gegen kurz vor zwei – und hatte am Schluss keine halbe Million Zuschauer mehr.

Um 20.15 Uhr wird ein Vielfaches davon einschalten müssen. Thomas Schreiber hofft, dass sich die Quote über die Wochen aufbaut, und setzt darauf, dass „die Ernsthaftigkeit als Ernsthaftigkeit erkannt wird“. Das wäre als Erfolgsrezept im Fernsehen ganz was Neues.

Mit CDU/CSU und SPD sitzen Sie in der ersten Reihe

Womöglich hätte er es gemacht. Womöglich hätte sich Guido Westerwelle schnell noch, wie schon einmal 2002, zum „Kanzlerkandidaten“ seiner Partei küren lassen. Und womöglich hätten Grüne und Linke es geschafft, die Funktion ihrer „Spitzenkandidaten“ kurzfristig ebenfalls entsprechend umzuwidmen. Und die ARD hätte sich was einfallen lassen müssen.

Ulrich Deppendorf, der Leiter des ARD-Hauptstadtstudios, hatte den drei Oppositionsparteien im Bundestag nämlich am Dienstagabend in der ARD-Sendung „Klartext“ einen verführerisch einfachen Weg angeboten, wie sie doch noch am „Duell“ am 13. September zwischen der Kanzlerin und ihrem Stellvertreter teilnehmen könnten. „Herr Westerwelle“, sagte Deppendorf süffisant, „Sie hätten das schnell ändern können. Sie hätten sich bloß zum Spitzenkandidaten auch fürs Kanzleramt aufstellen lassen können. Dann wären Sie zu dritt dabei. Sie haben ja noch eine Woche Zeit.“ Deppendorf sah dabei nicht aus, als hätte er einen Witz gemacht. Westerwelle wirkte nicht, als fände er es lustig.

Aber es stellt sich heraus: Deppendorfs Wort gilt nicht. Es reicht nicht, sich „Kanzlerkandidat“ zu nennen – obwohl das eine irgendwie dem Wahlkampf und seiner Inszenierung im Fernsehen angemessen absurde Regel gewesen wäre und die interessante weitere Frage aufgeworfen hätte, ob dann nicht auch Helga Zepp-LaRouche mitdiskutieren dürfen müsste, die „Kanzlerkandidatin“ der durchgeknallten „Bürgerrechtsbewegung Solidarität“.

ARD-Chefredakteur Thomas Baumann jedenfalls erklärt auf Nachfrage des Fernsehblogs, welche Voraussetzungen der Spitzenkandidat einer Partei, die nicht SPD oder CDU heißt, erfüllen müsste, um zum Fernseh-„Duell“ zugelassen zu werden:

„Wenn er eine echte, reale Chance hätte, nach der Wahl tatsächlich zum Bundeskanzler gewählt zu werden. In Deutschland werden traditionsgemäß bei Koalitionsregierungen jene Spitzenkandidaten zum Kanzler gewählt, deren Partei die meisten Mandate erzielt hat.“

Nun weiß man weder, wer diesen Test mit der „echten, realen Chance“, Bundeskanzler werden zu können, durchführt, noch warum Frank-Walter Steinmeier ihn offenbar bestanden hat. Aber ein „Duell“ mit einer einzigen Teilnehmerin wäre womöglich sogar den Fernsehleuten, die sonst gar kein Gefühl für die Absurdität ihres Tuns haben, merkwürdig vorgekommen. Und wer weiß, ob Angela Merkel zugesagt hätte, gegen sich selbst anzutreten.

Sie mag ja offenbar auch der Einladung des ZDF zu einem Gespräch aller Spitzen- und Kanzlerkandidaten nicht folgen. Chefredakteur Nikolaus Brender hat seinen Frust darüber jetzt öffentlich gemacht, dass die Kanzlerin immer etwas Besseres zu tun habe, als sich mit den ganzen anderen vor Fernsehkameras auseinanderzusetzen. „Mit Händen und Füßen, scharfem Timbre in der Stimme und auch gutem Zureden“ versuche man, alle zusammen zu bekommen – dabei fragt man sich, wo das Problem liegt. Wenn Frau Merkel nicht mag, findet die Veranstaltung eben ohne sie statt. Aber nicht so, dass sie einfach fehlt und es wirkt, als stünde sie über dem Zank der Parteipolitiker. Sondern mit einer Papp-Merkel an ihrem Platz, die schweigend in der Redezeit, die der Kanzlerin eigentlich zustünde, eingeblendet wird. Oder alternativ mit Kanzlerkandidatin Zepp-LeRouche an ihrer Stelle.

Mag sein, dass es naiv ist anzunehmen, dass ARD und ZDF (und im Zweifelsfall auch RTL und Sat.1) sich trauen würden, die CDU-Vorsitzende in dieser Weise vor den Kopf zu stoßen. Aber natürlich könnte man es tun. Man müsste es nur wollen. Und dann würde man schon sehen.

Jedenfalls war es ein bemerkenswerter Moment in der Diskussionsendung „Klartext“ mit Deppendorf und Sandra Maischberger am Dienstagabend, als die Vertreter der Oppositionsparteien die ersten Minuten der Sendung dazu nutzten, den Vorwurf des langweiligen Wahlkampfes an die Fernsehleute zurückzugeben. „Wie soll denn da Spannung aufkommen“, fragte Gregor Gysi angesichts des „Kanzlerduells“. „Wenn Sie wenigstens einen kleinen Oppositionspolitiker wie mich einlüden, damit da ein bisschen was los wäre.“ Westerwelle gab ihm Recht und sagte an die Adresse der Moderatoren: „Beklagen Sie sich nicht darüber, dass der Wahlkampf Ihnen nicht spannend genug ist, wenn Sie ihn im Wesentlichen auf eine Auseinandersetzung beschränken zwischen der Regierungschefin und ihrem Stellvertreter.“

Die Schuldfrage um die empfundene Langeweile des Wahlkampfes war nicht der einzige schwarze Peter, um den es an diesem Abend ging. Der andere heißt mit Nachnamen Ramsauer, ist Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag und hätte in der Runde eigentlich nichts zu suchen gehabt. Angekündigt war eine Diskussion der „Fraktionsspitzen“ im Deutschen Bundestag, und die CSU bildet bekanntlich eine Fraktionsgemeinschaft mit der CDU. Auf Nachfrage erklärt der für die Sendung verantwortliche WDR, dass im Untertitel genau deshalb die Rede nicht von „Fraktions-„, sondern von „Polit-Spitzen bei Maischberger und Deppendorf“ gewesen sei – die vage Formulierung umfasst natürlich nach Belieben auch weitere (semi)prominente Gäste, also auch Ramsauer.

Die Redaktion lässt verlauten, dass die CSU zwar keine Fraktion im Bundestag bilde, aber immerhin „in Fraktionsstärke“ vertreten sei. Außerdem hätte das Verwaltungsgericht schon bei den traditionellen Fernsehrunden der Parteivorsitzenden am Wahlabend entschieden, dass es rechtens sei, einen Vertreter der CSU einzuladen. Aber so absurd schon bei der „Berliner Runde“ nach Landtagswahlen außerhalb Bayerns die Präsenz eines CSU-Vertreters ist – dort sitzen wenigstens die Parteivorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien. Bei „Klartext“ saßen die Fraktionsvorsitzenden – und einen solchen kann die CSU nicht bieten.

Dass die Union doppelt vertreten war, sei eine redaktionelle Entscheidung, keine Vorgabe der Parteien gewesen, sagt der WDR. De facto konkurrierten die beiden Schwesterparteien in diesem Wahlkampf miteinander, und auch angesichts der Kabbeleien zwischen CSU und FDP habe man die Anwesenheit des Landesgruppenchefs für nötig gehalten: „Man kann es der CDU nicht überlassen, die CSU mit zu vertreten.“ Aha.

Deppendorf hätte vermutlich gesagt, „Sie können ja selber schnell noch den ein oder anderen Landesverband abspalten und wären auch doppelt mit dabei“, aber darauf hätte man sich natürlich auch wieder nicht verlassen können.

Und der MDR zeigt heute, zufällig drei Tage vor den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, eine viertelstündige Sondersendung „Wie weiter im Osten, Frau Merkel?“ mit der Bundeskanzlerin. Den Fragesteller spielt der CDUMDR-Chefredakteur Wolfgang Kenntemich. Kein Wunder, dass Frau Merkel da gerne zugesagt hat.

Und es wird keiner im Studio sein, der Kenntemich vor laufender Kamera die entscheidende Frage stellen könnte: Geht’s noch?

Nachtrag, 12.55 Uhr: Der MDR hat das Merkel-Interview abgesagt. Intendant Udo Reiter sagte, die Terminwahl sei unglücklich gewesen.

Eine für alle

Machen Sie doch kommende Woche mal ganz was Verrücktes: Schalten Sie um 18:50 Uhr die ARD ein und schauen sich eine Folge der Daily Soap „Eine für alle — Frauen können’s besser“ an. Sie bekommen nicht nur das aufregende Gefühl, etwas zu tun, was sonst keiner tut. Sie werden auch in ein paar Tagen noch etwas zu kichern haben: Wenn die ARD die Serie vorzeitig einstellt und erklärt, dass das deutsche Fernsehpublikum für so realitätsnahe Fiktion leider doch nicht zu haben sei, obwohl man sich doch alle Mühe gegeben habe, zeitgemäß und hochwertig zu produzieren…

Sie werden auch den Witz besser verstehen, dass sich jemand beschwert haben soll, dass die Werbung für die Serie Männer diskriminiere. Dabei stammen die Frauen in ihr direkt aus einem Fünfziger-Jahre-Film – außer dass sie nicht Näherinnen, sondern Schweißerinnen sind, und die lebensklugen Sprüche jetzt lauten wie: „Männer kann man sich schönsaufen, Arbeitslosigkeit nicht.“ Ununterbrochen schmachten sie irgendwelchen anbetungswürdigen Traummännern hinterher. Der revolutionäre emanzipatorische Akt der ersten Folge besteht darin, dass eine Frau sich einmal nach der Arbeit weigert, noch die Probleme ihrer Familie zu lösen („Ach wisst ihr was, klärt doch einfach mal was ohne mich“, hoho!). Dass dieselbe kleine Arbeiterin dann für einen Euro die Firma kauft, die von bösen Heuschrecken ausgesaugt werden soll, hat auch nichts mit Klugheit zu tun, im Gegenteil: Frauen sind doch so impulsiv!

Jeden Moment erwartet man, dass Doris Day zur Tür rein kommt und die anderen mit ihrer Modernität überfordert — außer, dass man schon nach Minuten aufhört, überhaupt etwas zu erwarten. Der alte Firmenbesitzer sagt: „In jeder Muffe steckt mein Herzblut und das meiner 463 Angestellten.“ Und die Frauen stehen beim Streik auf dem Hof: „Es kann kein Zufall sein, dass die Schwalben schon so früh aus dem Süden zurückgekommen sind.“ — „Hoffentlich sind’s keine Geier.“ — „Oder schräge Vögel.“

Machen Sie sich nichts draus, wenn Sie die ersten sechs Folgen verpasst haben: Die Geschichte ist so zäh erzählt, dass in jedem Fernsehfilm zum Thema erst eine Viertelstunde vergangen wäre. Als Zeitvertreib können Sie versuchen, das Wetter in der jeweils nächsten Szene zu erraten. Faustregel: Wenn die Sonne richtig durch die Studiofenster zu knallen scheint, kommt garantiert gleich jemand aus einem Schneesturm rein.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

„Leider nicht wirklich eine Satire“

Hanno Zulla hat die Amok-Berichterstattung von ARD und ZDF gesehen und hinterher seinen Frust zu einem Blog-Eintrag gerinnen lassen:

Guten Abend, meine Damen und Herren, Sie sehen die Abendnachrichten.

Es hat einen Amoklauf an einer Schule gegeben. Schrecklich, schrecklich. Wir zeigen Ihnen nun grausame Bilder.

Im Anschluss daran eine Live-Schaltung zu unserem Reporter vor Ort. Wie grausam war es denn, Herr Kollege? „Oh, es war schrecklich. Hier ein paar weinende Mitschüler, die ich vor die Kamera gezerrt habe. Und hier spreche ich mit geschockten Eltern. Und jetzt ein Straßeninterview mit verschiedenen Anwohnern, die nichts zum Fall sagen können, aber alle sehr betroffen sind.“

(…)

„Ihre ganz eigene virtuelle Wirklichkeit“

Ich hab’s versucht. Ich wollte etwas schreiben über den gestrigen ARD-„Brennpunkt“ zum Amoklauf in Winnenden und insbesondere den Beitrag, den Moderator Fritz Frey mit den Worten anmoderierte:

Gelernt haben wir, dass das Internet eine wichtige Rolle spielt bei unserem Thema, und das beileibe nicht nur als Plattform für potentielle Täter. Andrea Bähner hat sich heute, am Tag danach, im Netz umgesehen und ist dabei auf eine Art virtuellen Wutausbruch gestoßen. Die, die sich dort ihr ganz eigenes Bild vom gestrigen Wutausbruch machen, können mit der Debatte um Schuld und Verantwortung wenig anfangen.

Und in dem der schöne Satz fiel:

Die Internetcommunity bei YouTube, Twitter oder FlickR baut sich ihre eigene virtuelle Wirklichkeit der Bluttat.

Ich hab’s versucht, aber diese Mischung aus Ahnungslosigkeit und bewusster Desinformation, dieses Konzentrat von Vorurteilen und Scheinheiligkeit, dieser Versuch der ARD-Journalisten, sich ihre ganz eigene virtuelle Wirklichkeit der Bluttat zu bauen, den man natürlich im Kontext mit vielen anderen Sendungen mit der gleichen Stoßrichtung sehen muss — sie macht mich gleichzeitig zu wütend und ratlos.

Lesen Sie also stattdessen bitte den Beitrag von Robin Meyer-Lucht auf Carta.

Was stern.de im Kleinen vorgemacht hat, setzen die professionellen Medien im Großen fort: All das, was man an ihrer Berichterstattung kritisieren muss, auf das Internet zu projizieren.