Ich weiß, wie Josef Joffe sich fühlt. Als Kind hatte ich immer das Bedürfnis, den internationalen Gästen, die bei „Wetten, dass“ auf dem Sofa gesessen hatten, hinterher zu erkären, was da gerade passiert ist und warum man uns Deutsche trotzdem nicht alle für verrückt erklären sollte.
Joffe macht sowas beruflich.
Vor zwei Wochen erklärte er den Lesern der „Zeit“, wie schwer es sei, unseren Freunden zwischen Washington und Warschau zu erklären, dass die Deutschen mit großer Mehrheit für einen Ausstieg aus der Atomenergie sind. „Sie wundern sich, unsere Freunde zwischen Washington und Warschau“, weiß Josef Joffe, der sicher viele Freunde zwischen Washington und Warschau persönlich kennt und vermutlich regelmäßig über Artikel in Publikationen zwischen Washington und Warschau mit ihnen kommuniziert.
Jedenfalls wundern sich also unsere Freunde zwischen Washington und Warschau laut Joffe, dass wir Deutschen gegen Atomkraft sind, obwohl es bei uns im Land doch bislang keine Kernschmelze und noch nicht einmal einen Atombombenabwurf gab. Zwei Erklärungen fallen ihm ein: Entweder ist Atomangst eine Art Religion (warum ausgerechnet wir Deutschen ihre Anhänger sein sollen, lässt er offen). Oder uns Deutschen geht’s einfach zu gut. Weil bei uns nichts ernsthaft Schlimmes passiert und wir sonst keine Sorgen haben, flüchten wir uns ersatzweise in Atompanik.
Nun finde ich, anders als Joffe, dass es sehr viele rationale Gründe gibt, die dagegen sprechen, Atomenergie einzusetzen, und dafür, auch aus Dingen, die am anderen Ende der Welt passieren, eigene Schlüsse zu ziehen. Aber Joffe war nicht der einzige Journalist, der mir als Leser in den vergangenen Wochen das Gefühl gegeben hatte, dass die Reaktion auf die Katastrophe in Fukushima und die breite Ablehnung von Atomenergie überhaupt ein weltweit einzigartiger deutscher Sonderweg sei.
Entsprechend überrascht war ich, als in Italien eine Mehrheit der Wähler und der Wahlberechtigten in Italien gegen die Einführung der Atomkraft in ihrem Land stimmte.
Es kann natürlich sein, dass die Italiener in Wahrheit gar nicht so viel gegen Atomkraftwerke haben wie gegen ihren Premierminister und das die eigentliche Erklärung für den Ausgang des Referendums ist. (Eine alternative Erklärung wäre, dass Josef Joffe einfach keine Freunde zwischen Werona und Wenedig hat.)
Aber dann veröffentlichte Ipsos MORI in der vergangenen Woche eine Meinungsumfrage, die das Institut in 24 Ländern auf der ganzen Welt durchgeführt hat. Danach sind 62 Prozent der Menschen gegen Atomkraft; ein Viertel davon sagt, sie hätten ihre Meinung nach dem Unglück von Fukushima geändert.
In 21 der 24 Länder sind die meisten Menschen gegen Atomenergie; am stärksten ist die Ablehnung in Mexiko, Italien, Deutschland, Argentinien und der Türkei. Nur in drei der 24 Länder gibt es eine Mehrheit für Atomenergie: in Indien (61 Prozent), Polen (57 Prozent) und den Vereinigten Staaten (52 Prozent).
Falls sich unsere oder Josef Joffes Freunde zwischen in Washington und Warschau also tatsächlich über uns Deutsche wundern, dann womöglich also auch über ungefähr den ganzen Rest der Welt. Vielleicht haben die Polen und Amerikaner einfach so viele andere Sorgen, dass sie gar keine Zeit haben, sich noch berechtigte Gedanken über die Gefahren einer Technologie wie der Atomkraft zu machen. Andererseits frage ich mich, ob sie dann realistischerweise ihre knappen Sorgenrestkapazitäten ausgerechnet darauf verwenden, sich über uns Deutsche zu wundern.