Schlagwort: Baku

Der aserbaidschanische Regierungssender TV.Berlin

Es tun sich so viele aufregende Dinge in der Hauptstadt, es gibt ambitionierte Bauvorhaben, Reformen in der Verwaltung, große internationale Veranstaltungen, die viele Besucher anziehen. Der lokale Fernsehsender TV.Berlin widmet sich ihnen beispiellos ausführlich – den aufregenden Dingen in der Hauptstadt Aserbaidschans.

Die Homepage von TV.Berlin sieht schon seit Wochen aus, als stünde die Umbenennung in TV.Baku unmittelbar bevor. Prominenter als jedes andere Format wird die vielteilige Reportagereihe beworben, in der der Sender vor den ersten Europäischen Spielen, die hier im Juni stattfinden werden, über Aserbaidschan berichtet.

Es ist, kurz gesagt, ein beneidenswertes Land, geführt von einer großartigen, modernen Regierung, die unter nicht immer ganz leichten Umständen viele gute Dinge tut und an deren Spitze ein weiser Präsident steht. Aber warum sollte man das kurz sagen, wenn es so viele beeindruckende Details gibt, die Freunde der Regierung gern in die Kamera von TV.Berlin sprechen! Und die Menschen auf der Straße in Baku, aber das ist ja letztlich kein Unterschied. Ein älterer Mann sagt gleich in der ersten Folge:

„Es war eine gute politische Entscheidung vom Präsidenten, dass Aserbaidschan die Spiele austrägt. Ich finde, Baku ist eine der schönsten Städte, und ich muss sagen, dass die Regierung in den vergangenen 20 Jahren viel für den Sport und das Land getan hat.“

Sicherheitshalber fragt Aileen Waurick, die junge TV.Berlin-Reporterin aber nochmal bei der Vize-Präsidentin des (angenehmerweise weitgehend oppositionsfreien) aserbaidschanischen Parlamentes nach. Die ist begeistert.

„Selbstverständlich ist Aserbaidschan in der Lage, dieses Sportereignis auszutragen. Nicht umsonst haben wir uns beworben und den Zuschlag erhalten. Und das war nicht unsere Entscheidung, sondern das Europäische Olympische Kommitte hat Aserbaidschan für würdig empfunden und bringt uns das Vertrauen entgegen, die Spiele auszurichten. Deswegen ist es ganz offensichtlich, dass das IOC weiß, wo die Stärken unseres Landes liegen.

Gut, da ließe sich jetzt einiges zu sagen. Andererseits, wenn man schon mal Gelegenheit hat, mit der Vizepräsidentin der aserbaidschanischen Nationalversammlung ein Interview zu führen, drängen sich natürlich andere Fragen auf. Konkret zum Beispiel diese:

Sind Sie denn selbst auch vor Ort und welche Sportarten finden Sie persönlich ganz spannend?

(Sie schaut mal, was ihr Terminkalender zulässt, ist jetzt nicht Fan irgendeiner bestimmten Sportart, hält sich aber selbst mit Fitnessübungen in Form.)

Die TV.Berlin-Reportagen aus Baku sind Werbefilme für das Land und seine Regierung. Mit der Ausrichtung der European Games will sich das neototalitäre Regime der Weltöffentlichkeit in bester Form präsentieren, und diese Filme wirken, als seien sie Teil der Kommunikationsstrategie. Gezeigt wird nicht nur, wie wunderbar das erstaunlich moderne Land die Ausrichtung eines solchen Großereignisses schultert. Eine ganze Folge lang werden die diese fantastischen neuen Bürgerzentren gerühmt, die es im ganzen Land gibt. Blenden wir uns ein in den faszinierenden Bericht über die Asan-Service-Zentren!

„Dieses mal führt uns uns unser Entdeckungsreise direkt in das Zentrum von Baku“, sagt die Sprecherin. „Genauer gesagt in die Heysan-Aliyew-Straße im Westen der Stadt. Unser Ziel: Eines von insgesamt acht Asan-Service-Zentren in Aserbaidschan. Fasst man es mit zwei Worten zusammen, dann trifft es die Bezeichnung ‚Innovatives Bürgerzentrum‘ wohl am besten.“

Früher habe es bei den Behörden im Land häufig Korruption gegeben. Dieser Willkür habe die aserbaidschanischen Regierung vor zwei Jahren ein Ende gesetzt.

TV.Berlin-Reporterin Waurick konfrontiert den Asan-Direktor Inam Kerimov mit der Feststellung, dass das Projekt ja noch neu, aber doch sehr erfolgreich sei. Er kann das sehr bestätigen, zeigt der jungen Reporterin und uns ausführlich alles und erzählt:

Das Asan-Projekt ist Teil eines umfassenden Modernisierungsprozesses, den unser Präsident ins Leben gerufen hat. Selbstverständlich ist ein Ziel, alle negativen Effekte zu eliminieren.

Die Sprecherin ergänzt:

Die Asan-Center in Aserbaidschan sind Bürgerzentren ganz besonderer Art. Zeitraubende Wege zu mehreren Behörden, wie es in Deutschland üblich ist, entfallen. Denn die Zentren bündeln jeweils 30 Dienstleistungen wie die Ausstellung von Dokumenten, Steuer- und Rentenbescheiden unter einem Dach.

Und die Menschen in Aserbaidschan, sind die dankbar für diese Einrichtungen? Und wie!

Wie groß der Zuspruch der Bürger ist, lässt sich an folgender Zahl erkennen: Allein innerhalb des ersten Jahres nahmen eine Million Männer und Frauen den Asan-Service in Anspruch.

Zu dem Erfolg haben auch maßgeblich die vielen ehrenamtlichen Helfer beigetragen. Von 2013 an bis heute unterstützen mehr als 2000 Freiwillige die Bürger in acht Service-Zentren. Eine von ihnen ist Müjgan Haciyeva. Die 23-jährige musste keine Sekunde nachdenken, als sich die Möglichkeit eines Ehrenamtes bot. Sie ergriff die Chance sofort.

Haciyeva sagt dann, wie glücklich sie ist, und dass sie im Anschluss an ihre ehrenamtliche Tätigkeit sehr gern dort …

(Neinnein, bleiben Sie dran, das kann jetzt wirklich nicht mehr lange gehen. Der Mann von der Verwaltung hat schon über elf Minuten am Stück gesprochen, was deutlich mehr ist als die Gesamtlänge der täglichen Nachrichtensendung auf TV.Berlin, jetzt sind wir sicher gleich durch.)

… weiterarbeiten würde. „Denn ich stehe voll hinter dem Asan-Projekt“, sagt sie. „Ja, deshalb wäre es eine Ehre für mich.“

Natürlich gibt es nicht in allen entlegenen Regionen des Landes solche tollen Zentren. Aber dorthin fahren dann Busse, in denen Bürger ebenfalls ihre staatlichen Angelegenheiten erledigen können. „Der mobile Service erfreut sich großer Beliebtheit“, weiß TV.Berlin. Kein Wunder:

Beamter: Hier ist der Vertrag für Sie.
Bürger: Damit ist alles erledigt, ja?
Beamter: Ja, alles fertig. Sie können gehen.

Geschafft.

Folge 4 widmet sich dem Konflikt mit dem Erzfeind Armenien um die umstrittene Region Berg-Karabach und die angrenzenden, von armenischen Truppen besetzten Gebiete Aserbaidschans. TV.Berlin schildert die langjährigen blutigen Auseinandersetzungen sowie die komplexen Hintergründe des verfahrenen Streits ganz aus aserbaidschanischer Sicht. Die Reporterin besucht eine vertriebene aserbaidschanische Familie, die ihr tragisches Schicksal beklagt, aber gleichzeitig auch die Regierung rühmt, sich so gut um sie zu kümmern. Der aserbaidschanische Parlamentsabgeordnete Azay Goliyew, dem TV.Berlin bescheinigt, „um eine friedliche Lösung (des Konfliktes) bemüht“ zu sein, schildert in langen Monologen die Regierungsposition, kritisiert Armenien und die sogenannte Minsk-Gruppe, die sich um eine Vermittlung zwischen den verfeindeten Ländern kümmert. Sicherheitshalber wiederholt auch die stellvertretende Parlamentspräsidentin noch einmal die Position des Regimes, wobei ihr die TV.Berlin-Reporterin zusieht. Andere Positionen und Haltungen zu dem Konflikt kommen nicht vor.

Nun könnte man den Gedanken abwegig finden, dass sich ein Land, das hinter dem Kaukasus liegt, ausgerechnet den Kleinsender TV.Berlin für solche PR-Aktionen aussucht. Andererseits ist Aserbaidschan bekannt dafür, auf vielfältigen Wegen in ganz besonderer Weise in Deutschland und Europa sein Image zu polieren, auch mit Hilfe von PR-Agenturen wie der Berliner Firma Consultum. Und die freundliche Berichterstattung von TV.Berlin ist wiederum Thema in den aserbaidschanischen Medien.

Der Sender interessiert sich auch sonst auffallend für Aserbaidschan. Also, jetzt weniger für das Schicksal von Bürgerrechtlern, die dort eingeschüchtert, verfolgt, verhaftet und verurteilt werden. Sondern eher für die Bodenschätze und die rasant wachsende Wirtschaft. Als im Januar der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew zum Staatsbesuch in der Stadt war und Bundeskanzlerin Angela Merkel traf, war das für TV.Berlin die Aufmachermeldung in den Nachrichten, mit der aufregenden Information:

Beide sprachen über die bilaterale Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Aserbaidschan. Das Gespräch und das gemeinsame Mittagessen verliefen harmonisch.

(Die dpa-Meldung über das Treffen begann mit den Worten: „Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat von Aserbaidschan die Einhaltung der Menschenrechte verlangt. Bei einem Treffen in Berlin erinnerte sie Staatspräsident Ilham Aliyev am Mittwoch daran, dass sich die ehemalige Sowjetrepublik als Mitglied des Europarats auch zum Schutz der Menschenrechte verpflichtet habe. Zudem müssten deutsche Stiftungen und andere Organisationen die Gewissheit haben, dass sie ‚auf sicherem rechtlichen Grund‘ arbeiten können.“)

Im März zeigte TV.Berlin in einem zweiteiligen „Spezial“ lange Ausschnitte aus einem „Symposium“ über „Perspektiven Deutsch-Aserbaidschanischer Zusammenarbeit“, zu dem der aserbaidschanische Botschafter Freunde des Landes geladen hatte.

Mehrere Anfragen bei der Redaktion von TV.Berlin, wer die Filme produziert und finanziert hat und ob es eine Unterstützung zum Beispiel durch die aserbaidschanische Regierung gab, blieben unbeantwortet. Die Sendungen haben keinen Abspann. Der Vorspann besteht aus Bildern, die bereits in einem früheren Dokumentarfilm verwendet wurden. TV.Berlin wird nach diversen Insolvenzen seit 2013 von der Firma Godd Media Broadcast von Seyhan Yigit betrieben.

Aserbaidschan und die Pflicht zu hassen

Keine guten Nachrichten aus Aserbaidschan.

Der aserbaidschanische Schriftsteller Akram Ajlisli hat Ende vergangenen Jahres in einer russischsprachigen Zeitschrift die Novelle „Steinträume“ veröffentlicht. Sie spielt während der anti-armenischen Pogrome in Aserbaidschan zum Ende der Sowjetunion und schildert, wie zwei aserbaidschanische Männer versuchen, ihren armenischen Nachbarn zu schützen.

Armenien ist der Erzfeind Aserbaidschans und hält nach dem Krieg vor 20 Jahren die Region Bergkarabach besetzt. Eine freundliche Darstellung von Armeniern ist in Aserbaidschan eine Unmöglichkeit.

Ajlisli sagt, er hätte damit gerechnet, dass sein Werk Aufregung provozieren würde, aber die Heftigkeit des Aufruhrs habe ihn schockiert. Vor seinem Haus versammelte sich ein Mob, rief Beschimpfungen und verbrannte sein Portrait. Ein Präsidentschaftskandidat setzte eine Belohnung von umgerechnet 10.000 Euro aus für jeden, der Ajlislis Ohr abschneidet. Während einer Debatte im Parlament empfahl einer der Abgeordneten, ihm seine Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Der hochrangige Regierungsvertreter Ali Hasanov forderte das aserbaidschanische Volk auf, „öffentlich Hass“ gegenüber Leuten wie Ajlisli kundzutun.

Präsident Alijew erkannte Ajlisli Ehrenpreise, Staatsrente und den Titel des Volksschriftstellers ab. Seine Frau und sein Sohn verloren ihre Stellen. Die Bürgerrechtskämpferin Leyla Yunus spricht von einer „stalinistischen Reaktion“ der autoritären Regierung.

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Der aserbaidschanische Blogger Emin Milli ist heute nach zwei Wochen Arrest freigekommen. Er war wie zahlreiche andere Bürgerrechtler und Oppositionelle bei einer unangemeldeten Demonstration in Baku festgenommen worden. Andere, wie die Enthüllungsjournalistin Khadija Ismailowa, wurden zu Geldstrafen verurteilt.

Milli war 2009 international bekannt geworden, als das Regime gegen ihn vorging, nachdem er mit einem Freund ein satirisches Video über die Korruption von Politikern gedreht hatte. Er war trotz internationale Proteste aufgrund einer höchst zweifelhaften Anklage zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Anlässlich des Internet Governance Forums, das Ende vergangenen Jahres in Baku stattfand, hatte er einen offenen Brief an Präsidenten Alijew geschrieben und die „Gesellschaft der Angst“ in seiner Heimt beklagt.

Die Proteste gegen die Regierung haben in den vergangenen Wochen zugenommen; die Härte, mit denen der Staat dagegen vorgeht, und die Schikanen, denen sich Bürgerrechtsorganisationen ausgesetzt sehen, ebenfalls.

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Das aserbaidschanische Regime hat Freunde in Deutschland, und einer der prominentesten ist die große moralische Autorität der FDP, Hans-Dietrich Genscher. Der ehemalige Außenminister ist Ehrenvorsitzender im Beirat der Agentur Consultum Communications des früheren „Bild“-Journalisten Hans-Erich Bilges, die, wie es der „Spiegel“ formuliert, „undemokratischen Regierungen bei der Imagepflege hilft“. Zu den Kunden gehören oder gehörten neben Ländern wie Kasachstan und Weißrussland auch Aserbaidschan, und Genscher hilft, das Prestige der dortigen Machthaber zu heben.

Als Bilges eine große Feier zum 20-jährigen Unabhängigkeitstag Aserbaidschans in Berlin organisierte, kam neben der damaligen Bundespräsidentengattin Bettina Wulff auch Genscher.

Gleich zweimal reiste Genscher in den vergangenen Jahren auch nach Baku, um Präsident Alijew zu treffen: im November 2010 und im Juni 2012. Laut aserbaidschanischer Regierung lobte der FDP-Ehrenvorsitzende dabei den rasanten Entwicklungsfortschritt des Landes und sagte, Deutschland wolle die Zusammenarbeit mit Aserbaidschan auf allen Gebieten ausbauen. Auch am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz traf sich Genscher im vergangenen Jahr mit dem aserbaidschanischen Präsidenten.

Eine Anfrage vom mir im vergangenen Sommer, was die Absicht des damaligen Treffens mit Alijew war, wer die Mitglieder seiner Delegation waren und ob es einen Zusammenhang mit den Aktivitäten von Consultum gebe, ließ das Büro Genschers unbeantwortet.

Aserbaidschan: Kritischer Journalist als „Hooligan“ verhaftet


Mehman Huseynov. Foto: Emin Huseynov

Die Nachricht aus Aserbaidschan ist schlecht, aber keine Überraschung: Der 23-jährige Journalist und Fotograf Mehman Huseynov ist gestern abend verhaftet worden. Nach Angaben des Instituts für die Freiheit und Sicherheit von Reportern (IRFS), für das er gearbeitet hat, wird ihm Hooliganismus vorgeworfen. Anlass (oder Vorwand) sei eine Auseinandersetzung mit Polizisten am Rande einer Demonstration vor dem Büro des Bürgermeisters am 21. Mai, in der Woche des Eurovision Song Contest. Die Polizisten hatte die Proteste mit Gewalt aufgelöst und war auch gegen Berichterstatter vorgegangen.

Laut IRFS war Huseynov bereits im März von den Behörden verhört worden. Die Beamten hätten ihm geraten, weniger aktiv zu sein. Auch die beiden Blogger Emin Milli und Adnan Hajizade, die es gewagt hatten, sich mit einem satirischen Video über Korruption in der Verwaltung lustig zu machen, waren vor drei Jahren wegen Hooliganismus verurteilt worden.

Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ teilte mit, sie halte die Vorwürfe gegen ihn für politisch motiviert und vermute, er solle für seine kritischen Berichte vor dem Grand-Prix bestraft werden. Mehman ist der jüngere Bruder von Emin Huseynov, einem der beiden Haupt-Organisatoren der Kampagne „Sing for Democracy“. Auch Mehman selbst war ein sehr sichtbarer Teil der Bürgerrechtsbewegung. Am Abend, an dem in notgedrungen kleinem Rahmen das Konzert von „Sing for Democracy“ stattfand, hüpfte er mit seiner Kamera quirlig und glücklich durch den Saal.

In den Wochen vor dem Grand-Prix ist er unter anderem von stern.de und dem NDR-Medienmagazin „Zapp“ vorgestellt worden.

Nachtrag, 21:50 Uhr. Mehman scheint wieder auf freiem Fuß zu sein.

Die Eurovision ist unglücklich, tut aber nichts dagegen

Die Europäische Rundfunkunion EBU, die sich als Vorkämpfer für Meinungs- und Medienfreiheit ausgibt, findet es „sehr bedauerlich“, dass die Behörden in Aserbaidschan auch während des Eurovision Song Contest keine friedlichen Proteste zugelassen und mehrere Demonstrationen gewaltsam aufgelöst haben. Das sei „eindeutig nicht vereinbar mit dem Recht auf Demonstrationsfreiheit“, sagte mir Annika Nyberg Frankenhaeuser, die neue Medien-Direktorin der EBU, auf Nachfrage.

Beschwert hat sich die EBU bei der Regierung darüber nicht.

„Wir sind nicht glücklich über das, was hier passiert ist“, sagte Nyberg Frankenhaeuser in Bezug auf die Zerschlagung mehrerer friedlicher Demonstrationen. Die EBU habe das Thema aber gegenüber dem Regime noch nicht angesprochen. Sie konnte auch nicht sagen, wann, in welcher Form und bei welcher Gelegenheit das stattfinden könnte. Es sei aber wichtig, über diese Fragen nachzudenken.

Von sich aus hat sich die EBU zu dem Thema nicht erklärt.

Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty hatten die EBU aufgefordert, klar Stellung zu beziehen. Nach Ansicht von Amnesty hat die EBU der Regierung in Aserbaidschan einen Freifahrtschein gegeben, hart gegen Kritiker vorzugehen.

Euronews hatte am Mittwoch berichtet, die EBU hätte die aserbaidschanische Regierung um eine Erklärung für Berichte gebeten, dass Journalisten verhaftet wurden. Die entsprechende Meldung wurde auch im offiziellen EBU-Blog verlinkt. Sie bezieht sich jedoch nicht auf die Entwicklungen der vergangenen Tage. Angesprochen hat die EBU das Thema zuletzt bei einem Workshop mit Regierungsvertretern und Menschenrechtlern in Genf, der von den teilnehmenden Bürgerrechtsgruppen als Debakel wahrgenommen wurde.

So wenig die aserbaidschanische Regierung sich genötigt sah, sich wegen der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit während des ESC toleranter zu geben, so wenig sah sich die EBU genötigt, Druck auf das Regime auszuüben. Die Organisation will sich auch in Zukunft um das Land und seinen Mitgliedssender Ictimai kümmern, unter anderem mit einem Workshop später im Jahr. Aber dann ist ihre Position natürlich ungleich schwächer als in diesen Tagen, in denen das Regime in Baku ein Interesse daran hat, eine öffentliche Kontroverse mit dem Veranstalter des ESC zu vermeiden.

Anders als die ARD behauptet, hat sich die EBU von der Regierung nicht die Zusage geben lassen, „während des ESC Menschenrechte wie die Pressefreiheit, Redefreiheit, Versammlungsfreiheit oder Reisefreiheit zu garantieren“. Sie hat diese Zusage nur für die Teilnehmer des ESC bekommen. Deshalb ist die EBU nach den Worten von Frau Nyberg Frankenhaeuser auch trotz der Repressionen in Baku vor und während des ESC der Meinung, dass die Regierung ihre Garantie eingehalten hätte.

Anfang des Monats hatte ich für „Spiegel Online“ mit Ingrid Deltenre, der Generaldirektorin der EBU, gesprochen:

SPIEGEL ONLINE: Die EBU hat sich von der aserbaidschanischen Regierung Garantien geben lassen, dass sie im Rahmen des Grand Prix die Menschenrechtskonvention achten wird und die Freiheit und Sicherheit aller Beteiligten und Berichterstatter gewährleistet. Ist das nicht zynisch: Wir schaffen einen künstlichen Mini-Rechtsstaat in einem Land, wo das Recht sonst nicht respektiert wird?

Deltenre: Die Kritik könnte ich verstehen, wenn es so wäre. Aserbaidschan hat als Mitgliedsland des Europarats die europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben, die gilt für das ganze Land.

Die Kritik könnte sie verstehen, wenn es so wäre.

Die Aserbaidschan-Connection von dapd

Erinnern Sie sich an die merkwürdig regimefreundliche Berichterstattung der deutschen Nachrichtenagentur dapd über Aserbaidschan? Als ich darüber vor einigen Wochen gebloggt habe, kannte ich das hier noch nicht:

Martin Vorderwülbecke, Vorstand und Miteigentümer von dapd, war im vergangenen Dezember in Baku. Er hat sich dort mit Vertretern der staatlichen Nachrichtenagentur AzerTAc getroffen. Und die berichtet darüber wie folgt (Übersetzung von mir):

Die deutsche Nachrichtenagentur dapd betrachtet eine Kooperation mit der staatlichen aserbaidschanischen Nachrichtenagentur AzerTAc als sehr wichtig. (…)

Die Diskussion konzentrierte sich auf die Frage, wie eine Zusammenarbeit zwischen AzerTAc und dapd etabliert und ein Erfahrungsaustausch durchgeführt werden kann. (…)

Martin Vorderwülbecke sagte, die Etablierung einer Zusammenarbeit zwischen AzerTAc und dapd würde dazu beitragen, die Beziehungen zwischen Deutschland und Aserbaidschan anzukurbeln. Er fügte hinzu, dass es dapd wichtig sei, Nachrichten über Aserbaidschan nach Deutschland zu liefern.

Vorderwülbecke wies darauf hin, dass dapd ein neues Büro in Aserbaidschan eröffnen werde. Er sagte, ein Erfahrungsaustausch zwischen dapd und AzerTAc sei für die beiden Agenturen nützlich.

Tsis.

Das ist aber alles sehr kuschelig da. Der Eigentümer von dapd reist nach Aserbaidschan und möchte die deutsch-aserbaidschanischen Beziehungen verbessern? Ein Beiratsmitglied von dapd hat beste Kontakte zur PR-Agentur, die das Image von Aserbaidschan aufpolieren hilft? Und der dapd-Mann vor Ort taucht das Regime gelegentlich in ein mildes freundliches Licht?

Kann natürlich sein, dass das alles Zufall ist.

Ich habe bei dapd nachgefragt, wie ich mir die Kooperation mit AzerTAc vorstellen muss, ob die Agentur ihre Aufgabe darin sieht, für gute Beziehungen zwischen Staaten allgemein oder diesen beiden konkret zu sorgen, und wie dpad von einem Erfahrungstausch mit AzerTAc profitieren könnte. Ich bekam die folgende Antwort:

Es gibt keine Kooperation mit AzerTAc. Insofern erübrigen sich Ihre Fragen.

Ging dann aber noch weiter:

Richtig ist, dass dapd bilaterale Vertragsbeziehungen mit Nachrichtenagenturen in 25 Ländern unterhält, u.a. China, Japan, Tschechien und Schweden. Außerdem führt dapd laufend Sondierungsgespräche, um für die Kunden eine eigene Berichterstattung (z. B. aus Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan oder Iran) sicherzustellen. dapd berichtet seit einigen Wochen mit zwei eigenen Korrespondenten unabhängig aus Aserbaidschan und wird von dort auch weiterhin berichten. dapd setzt zudem auf das Netzwerk von unabhängigen AP-Journalisten.

Das klärt natürlich in keiner Weise, warum kein Geringerer als der Vorstandsvorsitzende von dapd nach Baku fährt und Kontakte pflegt, die seine Gesprächspartner als weitreichende Kooperationsangebote darstellen.

(Der dapd-Sprecher wies dann noch dezent darauf hin, dass die dapd-Konkurrenz dpa mit AzerTAc kooperiere: Beide sind im Agenturennetzwerk EANA. Dabei handelt es sich allerdings nach Angaben von dpa bloß um einen Dachververband, wie es ihn für viele Branchen auf europäischer Ebene gibt: „Es gab und es gibt keinerlei Kooperation zwischen der dpa und AzerTAc“, so ein Sprecher. „Die dpa bezieht keine Informationen von AzerTAc und wertet deren Agenturdienste nicht aus. Umgekehrt liefern wir auch keine Inhalte und Dienste an AzerTAc.“)

Keine guten Nachrichten aus Baku

Es gibt ein Narrativ über Aserbaidschan, wonach sich das Land zwar langsam, aber in die richtige Richtung bewege. Es sei ja erst seit 20 Jahren unabhängig, man müsse ihm Zeit geben und es dauere halt, bis sich eine Zivilgesellschaft entwickelt habe. Daraus folgt, dass man die Regierung nicht mit Maximalforderungen und Ansprüchen überfordern dürfe, sondern Geduld haben müsse mit ihr und sie wohlwollend begleiten müsse.

Das klingt plausibel, widerspricht aber fundamental der Einschätzung der meisten Menschenrechtsgruppen und vieler Bürgerrechtler vor Ort. Sie sagen: Das Land bewegt sich nicht zu langsam in die richtige Richtung. Es bewegt sich in die falsche. Kurz gesagt: Es wird alles immer schlimmer.

Ein Bericht des Think Tanks European Stability Initiative (ESI) liefert viel Material, um diese These zu stützen. Danach hat zum Beispiel das Ausmaß der Manipulation der Wahlen und der Unterdrückung der Opposition in Aserbaidschan in den letzten Jahren zugenommen. Bei den Parlamentswahlen 2010 seien die Wahlfälschungen so eklatant gewesen wie nie zuvor — und schlimmer als in jedem anderen Mitgliedsland des Europarates.

Ein bezeichnendes Schlaglicht sind die Erfahrungen des Bloggers Emin Milli, der wegen eines satirischen Videos über korrupte Politiker diese Wahlen als politischer Gefangener erleben musste. In vielen Gefängnissen betrug die Wahlbeteiligung erstaunliche 100 Prozent. In einer Haftanstalt 120 Kilometer südlich von Baku sollen alle eintausend Häftlinge geschlossene Umschläge bekommen haben, in denen schon ausgefüllte Wahlzettel waren. Dann mussten sie sich in einer Reihe aufstellen und sie einwerfen. Ein Häftling, der versuchte, seinen Umschlag zu öffnen, soll zusammengeschlagen worden sein. Milli wurde gesagt, dass das ein Rückschritt gegenüber 2008 war: Damals durften die Gefangenen die Wahlzettel selbst ausfüllen — bekamen aber natürlich gesagt, was sie wählen mussten.

Die Wahlbeobachter der OSZE zählten, dass im staatlichen Programm AzTV während des offiziellen Wahlkampfes der Präsident viereinhalb Stunden lang vorkam, und zwar ausschließlich positiv oder neutral. Eineinhalb Stunden bekam die Regierung, eine knappe Stunde die Regierungspartei YAP. Der größte Oppositionsblock erhielt 4 Sekunden.

Seit dieser Wahl ist kein Mitglied der Opposition mehr im aserbaidschanischen Parlament vertreten.

Das eigentliche Thema des erschreckenden, faszinierenden, detaillierten Berichtes von ESI sind nicht diese negativen Entwicklungen, sondern die parallel dazu immer positivere Würdigung Aserbaidschans durch den Europarat. Die Erklärung dafür ist laut ESI einfach: Aserbaidschan hat die entscheidenden Leute im Europarat gekauft, unter anderem — mit Kaviar. Jeder der wichtigen Freunde Aserbaidschans habe regelmäßig mindestens ein halbe Kilo Kaviar bekommen, ein Wert von rund 700 Euro. Sie seien häufig nach Baku eingeladen worden, zu Konferenzen, Veranstaltungen und Sommerurlauben, wo es ebenfalls viele teure Geschenke gegeben habe: Seidenteppiche, Gold, Silber, Getränke, Kaviar, Geld.

Amnesty International veröffentlichte am 1. Mai ein Dokument, in dem es über Aserbaidschan heißt:

Die Entschlossenheit der autoritären Oligarchie, die Aserbaidschan regiert, hat zugenommen; unerschrocken ist sie gewillt, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Amnesty International zählt jetzt 18 politische Gefangene in Aserbaidschan: 14 Aktivisten, die im vergangenen Jahr für friedliche Proteste inhaftiert wurden, und jetzt zwei Journalisten und zwei Menschenrechtler, die vor kurzem zu langen Haftstrafen verurteilt wurden.

(…) Die Behörden gehen härter als je zuvor gegen abweichende Stimmen vor.

(…) Trotz allem arbeitet die Europäische Rundfunkunion im Stillen weiter mit den Behören zusammen, um den Eurovision Song Contest vorzubereiten. Dieser selbsternannte „Vorkämpfer“ für Medienfreiheit hat sich nicht für aserbaidschanische Journalisten eingesetzt und die Werte, die er zu beschützen vorgibt, nicht verteidigt.

Heute erneuerte Amnesty seine Kritik an der EBU und erklärte:

Obwohl in den vergangenen Tagen erneut zwei friedliche Demonstrationen gewaltsam aufgelöst wurden, weigern sich die Organisatoren des Eurovision Song Contest (ESC) noch immer, die Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan zu verurteilen. Amnesty kritisiert, dass die Europäische Rundfunkunion (EBU) der Regierung in Aserbaidschan damit einen Freifahrtschein gibt, hart gegen Kritiker vorzugehen.

(…) Laut den Organisatoren der Proteste haben Polizisten zahlreiche Demonstranten geschlagen, in Busse gedrängt und aus der Stadt gefahren. 38 Demonstranten wurden festgenommen. Einer der Organisatoren, Abulfaz Gurbanly, berichtete Amnesty International, dass er im Polizeigewahrsam geschlagen, getreten und mit einem Gummiknüppel misshandelt wurde. Auch andere Demonstranten seien während ihrer Haft geschlagen worden.

Die friedlichen Proteste wurden vor den Augen einer Reihe internationaler Journalisten aufgelöst, was die Versicherung der EBU, die internationale Medienaufmerksamkeit in Baku würde die Menschenrechtssituation verbessern, in Frage stellt. (…) „Die Behörden in Aserbaidschan denken anscheinend, dass sie die negative Berichterstattung unbeschadet überstehen werden und mit der Unterdrückung abweichender Meinung fortfahren können.“

Heute wurde eine Kundgebung von Menschen, die vor dem Gebäude des staatlichen Fernsehsenders Ictimai — ein EBU-Mitglied und Ausrichter des Eurovision Song Sontest in diesem Jahr — für freie Wahlen demonstrieren wollten, gewaltsam aufgelöst.

Derweil protestierte die aserbaidschanische Regierung dagegen, dass die schwedische ESC-Teilnehmerin Loreen sich mit Bürgerrechtlern getroffen hatte. Laut AFP forderte ein Vertreter des Präsidentenbüros in Baku die EBU auf, solche „politisierten Aktionen“ zu unterbinden und einzuschreiten.

Die Kampagne „Sing for Democracy“ hat die Teilnehmer des ESC dazu aufgerufen, ihre Solidarität zu zeigen:

Mein Mulm in Baku

Das Konzert „Sing for Democracy“, mit dem Bürgerrechtler und Oppositionelle im Vorfeld des Eurovision Song Contest für Meinungsfreiheit in Aserbaidschan werben wollen, wird nicht in der Öffentlichkeit stattfinden. Die Regierung in Baku hat entsprechende Anträge abgelehnt. Gleich acht verschiedene Plätze hatten die Organisatoren vorgeschlagen — ohne Erfolg. Nun muss die Veranstaltung am kommenden Sonntag in einem Musikclub stattfinden.

Damit ist ungefähr nichts übrig von der Illusion, die Aufmerksamkeit rund um den ESC werde das autoritäre Regime in Baku dazu bewegen, sich wenigstens ein bisschen kompromissbereit, friedlich oder demokratisch zu geben. Natürlich hätte die Regierung auch ein Zeichen setzen können und einige politische Gefangene freilassen. Aber sie wusste wohl, dass das nicht nötig war.

Die Regierung zeigt, was sie darunter versteht, einen guten Eindruck zu machen: Nicht das Zulassen von Widerspruch. Sondern die möglichst umfassende Illusion, es gäbe keinen.

Die Fassaden stehen.

„Hübsch“, lautete das erste öffentliche Urteil von Jan Feddersen, der für den NDR über den ESC bloggt, über die Stadt nach einem knappen Tag Anwesenheit und einer Fahrt im Shuttlebus. „Wahrscheinlich darf man das nicht offen aussprechen“, fügte er hinzu, „weil wir doch in Deutschland so heftig über Boykott, Ächtung bis hin zur Disqualifikation debattiert haben.“ Als sei Deutschland das Land, in dem man Dinge nicht offen aussprechen darf. Und als sei es die Schönheit der Fassaden, die heftig debattiert wurde, und nicht der Dreck dahinter und die Brutalität, mit der sie errichtet wurden.

Die Logik, auf die sich viele Journalisten, Fans und Kritiker im Vorfeld einigen konnten, lautete: Es sei gut, wenn möglichst viele Leute nach Baku fahren und sich vor Ort ein eigenes Bild machen. Aber die Leute, die jetzt in Baku sind, sehen natürlich vor allem: die Fassaden.

Genau dafür wurden sie ja errichtet. Und sie sind wirklich eindrucksvoll. Baku ist überwältigend spektakulär. Die weiten Parks, die aufs Adretteste renovierte Altstadt, die Licht- und Wasserspiele überall, die Protzbauten aus unterschiedlichsten Epochen. Die Kontraste hier waren immer schon eindrucksvoll, jetzt ist die Stadt auch eine Leistungsschau für modernste, gewaltigste Architektur.

Unfassbar, wie die drei gerade fertig gestellten Flammentürme über der Stadt thronen. Sie wirken, als hätten Riesen sie einfach aus der Luft in die Stadt geworfen. Nachts zaubern zehntausende LEDs auf die Fassaden lodernde Flammen oder die Silhouette von Menschen, die die aserbaidschansiche Flagge schwenken. Die Kristallhalle leuchtet und glitzert nicht nur; riesige, bewegte Scheinwerfer markieren ihre Position im Himmel über Baku.

Ähnlich wie die Olympischen Spiele in Peking ist der Eurovision Song Contest in Aserbaidschan auch Werbung für ein politisches System, in dem die Verwirklichung großer und größter Visionen nicht durch lästige rechtsstaatliche Hürden behindert wird. Staunend flanieren Einheimische und Besucher auf dem prachtvollen Boulevard, der sich jetzt das ganze Ufer an vielen spektakulär herausgeputzten alten und neuen Gebäuden entlang bis hin zur Kristallhalle erstreckt. Sie sehen, was enorm viel Geld und fast uneingeschränkte Macht möglich machen.

Den Preis, der dafür gezahlt wurde, sieht man nicht.

Es ist ja nicht so, dass sich dieses Land für einen Besucher unmittelbar anfühlen würde wie eine Diktatur oder jedenfalls ein repressiver Staat. Es ist nicht so, dass Unrecht und Korruption einem beim Streifen durch die neuen alten Straßen mit den ganzen Läden internationaler Designer das Leben schwer machen würden, im Gegenteil.

Natürlich freuen sich auch die Bewohner Bakus, dass ihre Stadt sich so herausputzt; dass sie alles tut, um sich der Weltöffentlichkeit strahlend und modern und wohlhabend und europäisch zu zeigen. (Jedenfalls, wenn sie nicht zu den Tausenden gehören, die mit ihren Wohnungen oder ihren Geschäften dieser Verschönerung im Wege stehen.) Die Menschen freuen sich über die Aufmerksamkeit, sie sind stolz, diesen Grand Prix ausrichten zu dürfen, und in gewisser Hinsicht ist das alles sicher auch Teil der umwerfenden Gastfreundschaft, die die Aseris pflegen.

Die Summen, die Aserbaidschan direkt oder indirekt für den Wettbewerb ausgegeben haben sollen, sind atemberaubend. Einiges davon hätte die Stadt natürlich ohnehin in ihrem Modernisierungsprogramm ausgegeben; andererseits kommt anscheinend ein Teil der Mittel zum Beispiel für die Kristallhalle auch aus Etats, die eigentlich für grundlegende Sanierungsarbeiten reserviert war.

Die Innenstadt Bakus scheint vollständig dem Wettbewerb gewidmet zu sein. Überall hängen ESC-Poster und -Plakate, die kürzlich angeschafften Londoner Taxis fahren alle mit dem ESC-Logo, in den Straßen blinken aufwändige ESC-LED-Installationen.

Der Eurovisions-Zirkus, der um die Welt zieht, findet natürlich in einer Blase statt. Die Fans und Berichterstatter verbringen ihre Zeit hier in Shuttlebussen, bei Proben und auf Pressekonferenzen, auf denen es um nichts geht, schon gar nicht darum, wie die Polizei am Montag gegen Demonstranten vorgegangen ist, die für das Recht zu demonstrieren demonstrieren wollten.

Ich will das niemandem vorwerfen, ich bin ja selbst Teil davon. Es ist nur desillusionierend, in welchem Maße das Kalkül der regierenden Clique aufgeht.

Alle Teilnehmer, die auf den Pressekonferenzen gefragt werden, sagen, wie beeindruckt sie von der Stadt und allem sind. Und sie haben ja auch recht.

Ich habe ein mulmiges Gefühl hier. Nicht weil ich in irgendeiner Weise um meine Sicherheit fürchtete — als akkreditierter Journalist scheint man hier tatsächlich eine Vorzugsbehandlung zu genießen. Sondern weil es so schwer ist, nicht selbst Teil der Inszenierung zu werden, wenn man sich auf den Spaß an diesem bekloppten Wettsingen einlässt. Und weil es der Opposition so wenig gelingt, Anlässe zu schaffen, die sie sichtbar machen, kleine Störungen in der glatten Fassade, die das aserbaidschanische Regime und die Europäische Rundfunkunion EBU gleichermaßen bewahren wollen.

Dieser Eurovision Song Contest ist natürlich eine Veranstaltung, die der aserbaidschanischen Regierung dient. Wenn die EBU ihn in ihrer Mischung aus Kalkül, Feigheit und Naivität als „unpolitisch“ bezeichnet, entspricht das den Interessen der Regierung.

Die Zahl der Menschen, die hier versuchen zu demonstrieren, die Rechtsverstöße anprangern und für Bürgerrechte kämpfen, ist klein. Die Regierung hat den Menschen das Interesse an politischem Engagement systematisch ausgetrieben. Die Botschaft ist klar: Man kann gut leben in Baku, womöglich sogar immer besser dank des Ölreichtums, über den das Land seit wenigen Jahren selbst verfügen kann, wenn man sich nicht mit den Mächtigen anlegt.

Die wenigen Leute, die sich engagieren und die die Anwesenheit so vieler internationaler Gäste und Journalisten zu nutzen versuchen, um ihren Anliegen Gehör zu verschaffen, scheinen überfordert oder überlastet. Vielleicht sind sie aber auch nur chancenlos gegen die Professionalität des Apparates.

Human Rights Watch hatte die schöne Idee, einen Stadtplan von Baku für Touristen zu produzieren, auf dem nicht nur touristische Höhepunkte eingezeichnet sind, sondern auch Orte, an denen Oppositionelle überfallen oder Proteste niedergeschlagen wurden. Ich habe noch keine dieser Karten hier in Baku gesehen; ich wüsste auch nicht, wo sie zu finden sein könnten. Vielleicht ist die Regierung so erfolgreich, solche Versuche der Gegenöffentlichkeit zu unterbinden. Vielleicht muss sie sie gar nicht unterbinden, weil ihre Gegner so schlecht organisiert sind.

Überall ist Polizei. Als wir nach unserem Flug über Istanbul nach Baku gegen drei Uhr morgens in unserem kleinen Hotel ankommen, sitzen im winzigen Foyer vier Uniformierte. Ich weiß nicht, ob sie da sind, um uns zu beschützen oder andere vor uns, aber einer ist immer da. Meistens fläzen sie sich auf den Sofas und beobachten uns beim Ein- und Auschecken, mindestens einer lungert vor dem Haus herum und unterhält sich mit Kollegen. In jedem Shuttle-Bus sitzt vorne ein Beamter, auf jeder größeren Straßenkreuzung steht ein Streifenwagen, jeder Delegationsbus wird von einem Polizeiauto begleitet, Sicherheitsleute patroullieren durch die Parks, schreiten beim Filmen von Sehenswürdigkeiten ein, stehen zu Dutzenden an neuralgischen Umsteigepunkten herum.

„Vor Uniformierten muss man in Aserbaidschan keine Angst haben“, sagt der dapd-Korrespondent vor Ort, und für ihn gilt das bestimmt. „Baku ist eine sehr sichere Stadt“, lobt der Grand-Prix-Oberverantwortliche Jon Ola Sand, und das trifft zweifellos zu. Wie man auch in Polizeistaaten gewöhnlich Kriminalität nicht fürchten muss, solange man damit nicht die des Staates meint.

Ich will das Land nicht dämonisieren. Das hier ist nicht eine Art Nordkorea mit Geld. Und darin, dass Aserbaidschan seine Zukunft in Europa sucht, steckt ja eine große Chance, wenn Europa umgekehrt das Land nicht nur als Öl-Lieferanten und Geschäftspartner sieht, sondern selbstbewusst für seine Werte und Fundamente wirbt und einsteht. Das müsste man dann aber auch tun.

Gestern hat in Baku eine Konferenz stattgefunden, zu der die Opposition eingeladen hatte. Ich war leider nicht vor Ort, aber es muss ein Spektakel gewesen sein. Überraschend hat die Regierung mehrere Vertreter geschickt, was sensationell ist, weil beide Seiten seit Jahren nicht an einem Tisch gesessen haben. Andererseits sagt die Art, wie sie dann miteinander geredet haben, viel über den trostlosen Zustand der politischen Kultur im Land aus. Vertreter der Regierung und regierungstreue Journalisten beschimpften die Kritiker und Bürgerrechtler und griffen auch den deutschen Vertreter von Reporter ohne Grenzen an.

„Es sollte aussehen wie ein Dialog, aber es war kein Dialog“, fasste der Moskauer ARD-Korrespondent Georg Restle die Veranstaltung in der „Tagesschau“ zusammen.

Die Blogger vom „Vorwärts“ waren vor Ort und berichteten über den bezeichnenden Umgang mit der Journalistin Khadijah Ismayilova, die mit heimlich in ihrer Wohnung aufgenommenen intimen Bildern erpresst wurde. Kurz darauf wurde ein entsprechendes Video ins Netz gestellt, regierungsnahe Zeitungen machten es bekannt.

Khadijah Ismayilova hatte aufgedeckt, dass die Präsidentengattin, der laut aserbaidschanischem Recht Firmenbeteiligungen untersagt sind, in Panama unter 5 Firmen registriert ist. Sie ist sich deshalb sicher, dass hinter der Diffamierungskampagne das Ministerium für nationale Sicherheit beziehungsweise die Staatskanzlei des Präsidenten stecke.

An dieser Stelle gab es lautstarke Tumulte der Regierungsfreunde im Saal; ein Vertreter des Justizministeriums erdreistete sich nicht, der Journalistin die Schuld an dem Video selbst zuzuschieben, indem er betonte, wie konträr ihre moralische Einstellung doch zum Rest der Frauen des Landes stünde.

Ihr Privatleben sei ihre Sache, konterte die Journalistin. Nein, erwiderte ein Vertreter des Regierungssenders, sie habe schließlich auch über die Familie des Präsidenten geschrieben.

Aber wer will diese Geschichten hören? Das Thema Menschenrechte ist durch. Leute wie Jan Feddersen haben es ohnehin fast ausschließlich auf abstrakte Art behandelt. Er verbrämt die menschlichen Schicksale hinter kunstvollen Formulierungen wie: „Dass da einige Häuser auf demokratisch unschöne Weise geräumt werden mussten… “ Er schreibt von der „miesen Menschenrechtslage“ und dass er es „ziemlich verdienstvoll“ findet, „menschenrechtlich Kritik zu üben“. Er spricht unkonkret vom „Anliegen der Menschenrechte“ und davon, dass „kein Land zuvor, gerade was die menschenrechtspolitischen Belange anbetrifft, so sehr mit Aufmerksamkeit bedacht worden“ sei. Er verspricht, die „Menschenrechtsangelegenheiten in Aserbaidschan, ja, in der ganzen Welt heftig im Auge (zu) behalten“. Die Menschenrechtsangelegenheiten!

Feddersen nennt die Fixierung auf das Thema Menschenrechte einen „Medienhype“ und entsprechende Journalisten „politisch beinah Übersensibilisierte“. Er plädiert dafür, Länder wie Aserbaidschan am ESC teilnehmen zu lassen, weil man dann „bis zum Finale alle Probleme und Missstände prima erörtern kann“. Wenige Absätze weiter fragt er dann: „Täuscht mich der Eindruck oder ist es nicht so, dass von nun an alle vor allem Glamour und Entertainment in den Berichten erwarten (…)?“

Thomas Mohr, der für NDR 2 vom Grand-Prix berichtet, kommentiert in Feddersens Blog: „Ich lass mir die Freunde am ESC auch nicht verbieten, so sehr mir das Wohlbefinden aller Menschen in Aserbaidschan natürlich am Herzen liegt.“ Ich wüsste gerne, woher diese Leute das Gefühl haben, dass sie es sind, denen in Aserbaidschan etwas verboten wird.

Ich kann und will niemandem etwas verbieten (außer vielleicht diese „Darf man nicht mal mehr Freude haben“- oder „Darf man Baku hübsch finden“-Rhetorik, die auf perverse Weise uns zu Opfern macht). Ich stelle nur fest, dass meine Freude an dieser wunderbar albernen Veranstaltung in diesem Jahr getrübt ist. Es hat mir niemand das Feiern verboten und ich darf auch mit dem kindlichem Staunen, mit dem ich immer schon vor LED-Wänden stand, die Flammentürme bewundern. Es gelingt mir einfach nicht so gut, das unbeschwert zu tun.

Das ist die Mulmigkeit, die ich meine. Und die ein eigentlich unbeschwertes, vierteljournalistisches Format wie unser Videoblog vom Grand-Prix zu einer Gratwanderung macht.

Die umfangreiche Berichterstattung aus Anlass des Grand-Prix über die wahre Natur des Regimes hat sicher dazu beigetragen, dass die Arbeit der PR-Agenturen und Lobbyisten, die international für die aserbaidschanische Regierung arbeiten, eher schwerer geworden ist. Andererseits sieht es nicht so aus, als ob der Grand-Prix den Anstoß für irgendwelche demokratischen Fortschritte im Land geben würde. Vielleicht wäre es ein erster Schritt, sich von dieser Illusion zu verabschieden.

Der Shuttle-Bus, der uns von unserem Hotel über die brandneue, achtspurige Straße an den Rand des Geländes mit dem Nationalen Flaggenmast und der Kristallhalle bringt, hält exakt an der Stelle, an der die Häuser standen, deren verzweifelt um ihr Recht kämpfende Bewohner ich im Januar kennen lernen durfte (und aus dem das Foto oben entstand). Die Tefloniker von der EBU sagen, sie hätten sich sogar Satellitenbilder zeigen lassen, die beweisen, dass dort, wo jetzt die Halle steht, vorher nichts war. Was dort war, wo jetzt die Zufahrtsstraße zu dieser Halle ist, hat sie nicht interessiert.

In der Tasche, die alle hier bei der Akkreditierung im Pressezentrum bekommen, steckt ein Briefbeschwerer mit etwas Öl im Inneren — eine freundliche Aufmerksamkeit des Eurovisions-Sponsors Socar, der staatlichen Ölgesellschaft Aserbaidschans. Das ist dieselbe Firma, deren Sicherheitsleute im April in den beinahe tödlichen Angriff auf einen bekannten kritischen Journalisten verwickelt waren.

Nachtrag, 20. Mai. Jan Feddersen hat eine Art Antwort auf diesen Eintrag geschrieben, obwohl er nichts davon verstanden hat.

Der subversivste Song Contest aller Zeiten?


Zeichnung: Martin Reinl

Ich bin so gespannt. Ich habe gehört, dass ich die Stadt kaum wieder erkennen würde, dabei ist es keine vier Monate her, dass ich da war. Baku, das sich schon in den Jahren davor vermutlich schneller verändert hat als fast jede andere Stadt der Welt, hat noch eine Turbopolitur bekommen, Blumen, Herzen, die fantastisch aussehende Kristallhalle natürlich. Und Fassaden, die trotzdem noch unansehnlich sind, wurden einfach hinter anderen Fassaden verborgen.

Das Haus in der Agil-Gulijew-Straße 5, das im Januar noch mit brutalen Methoden entmietet wurde und mit dessen verzweifelten Bewohnern unter anderem meine Kollegen Till Krause, Peter-Philipp Schmitt und ich gesprochen haben, wird jetzt verschwunden sein. Dort ist jetzt wohl eine prächtige Straße, über die die Besucher und Berichterstatter des Eurovision Song Contest zur Halle gelangen. (Wenn Sie jemanden wie Sietse Bakker fragen, den der Grand-Prix-Event-Chef, wird der ihnen erzählen, dass der Abriss dieses Hauses und der daneben nichts, aber auch gar nichts mit dem ESC zu tun hat. Sietse Bakker hat ein Motivationsbuch namens „How To Live WOW?!“ geschrieben, und so tritt er auch auf. Ich schweife ab.)

Jedenfalls bin ich nachher dann mit Lukas in Baku, und hier im Blog wird sich zwei Wochen lang wenig tun, dafür hoffentlich umso mehr auf Bakublog.tv und auf „Spiegel Online“, dessen gewaltige Leserschaft uns und unser kleines Videoblog in diesem Jahr kennenlernen soll.

Die Show in Baku wird zweifellos spektakulär werden, aber vielleicht geht ja auch der Traum von Emin Milli wenigstens ein bisschen in Erfüllung. Milli ist ein junger Blogger, der es gewagt hatte, über die aserbaidschanische Regierung zu spotten, und verprügelt, verhaftet und verurteilt wurde. Milli lebt heute in London und wünscht sich, dass dieser Grand-Prix das „subversivste Ereignis in der Geschichte des Eurovision Song Contest“ wird.

In diesem Sinne:

„Mutwillig blind“: Die Menschenrechts-Blamage der Eurovision

„Wir stehen für Veränderung zum Besseren und für demokratische Grundrechte. Dafür kämpfen wir in Europa. Aber wir nehmen nicht aktiv teil an dem Prozess, das lassen wir andere machen.“

Jørgen Franck, Fernsehdirektor der EBU

Neuerdings hat Ingrid Deltenre immerhin eine Antwort auf die Frage, bei welcher Gelegenheit die von ihr geführte Europäische Rundfunkunion (EBU) denn die aserbaidschanische Regierung mal auf die massiven Verletzungen der Presse- und Meinungsfreiheit im Land angesprochen habe. Der EBU, besser bekannt als Eurovision, liegt die Presse- und Meinungsfreiheit nämlich angeblich besonders am Herzen. Sie hat sogar in Baku vor zwei Jahren schon ein Papier mit Forderungen dazu verabschiedet.

Jedenfalls kann Frau Deltenre nun antworten: am Mittwoch vergangener Woche. Da hat die EBU nämlich an ihrem Sitz in Genf ein Symposium über Medienfreiheit in Aserbaidschan veranstaltet. Eingeladen waren unter anderem aserbaidschanische Bürgerrechtler, internationale Menschenrechtsgruppen und die aserbaidschanische Regierung, die einen hochrangigen Vertreter schickte: den Präsidentenberater Ali Hasanov.

Glaubt man Frau Deltenre, war die Veranstaltung ein großer Erfolg. Sie habe Hasanov deutlich auf die jüngsten Übergriffe auf Journalisten angesprochen, und er habe versprochen, sich um Aufklärung zu bemühen. Entsprechend harmonisch klingt die Pressemitteilung.

Die Menschenrechtler waren weniger begeistert.

Sie waren so entsetzt über den Verlauf der Veranstaltung, dass sie am Montag einen offenen Brief an die EBU schickten. Sie äußern sich enttäuscht über das Versagen der EBU, „die aserbaidschanischen Behörden öffentlich zu kritisieren oder in irgendeiner Weise herauszufordern, was Pressefreiheit, Menschenrechte und Meinungsfreiheit angeht“. Sie hatten den Eindruck, die Eurovision sei „mutwillig blind gegenüber der repressiven Politik der Regierung“.

Der Brief ist unter anderem von den Vertretern von Amnesty International und Human Rights Watch unterschrieben. Er enthält sehr konkrete Kritik an der Veranstaltung. Schon die Zusammensetzung der eingeladenen Aseris sei massiv zugunsten der Regierung ausgefallen. Und anstatt das repressive Klima für die Presse in Aserbaidschan zu behandeln, sei über die notwendige Professionalisierung der Presse gesprochen worden — als sei das Hauptproblem der Presse die Presse selbst.

Fassungslos verfolgten die Nichtregierungsorganisationen, dass die EBU in der Pressekonferenz im Anschluss an die Konferenz nur der Regierung das Wort erteilte:

Die beiden Parteien, die während der Pressekonferenz ein Podium bekamen, waren die EBU und die aserbaidschanische Regierung. Obwohl ein unabhängiger aserbaidschanischer Menschenrechtsverteidiger als einer der Teilnehmer zu Beginn der Pressekonferenz angekündigt worden war, bekam er schließlich keine Erlaubnis zu sprechen und musste am Rand sitzen.

Die Rede ist von Rasul Jafarov, der auch die Kampagne „Sing for Democracy“ organisiert. Er nennt die Pressekonferenz eine „Schande für die EBU“, weil sie den Forderungen der aserbaidschanischen Regierungsvertretern nachgab, seine Rede abzusagen. Er hatte den Eindruck, die EBU arbeite für die aserbaidschanische Regierung.

Hugh Williamson, Europa- und Zentralasien-Chef von Human Rights Watch, sagt, seiner Organisation sei versprochen worden, dass Jafarov auf der Bühne sein würde. Die EBU habe massivem Druck von Seiten der aserbaidschanischen Regierung nachgegeben: Der angeblich so gesprächsbereite Herr Hasanov hätte damit gedroht, den Raum zu verlassen, wenn Javarov sprechen würde.

Nach Ansicht von Williamson hat die EBU dem aserbaidschanischen Regime mit der Veranstaltung eine Bühne geboten. In einer Pressemitteilung erklärt er: „Die schiere Existenz der Rundfunkunion hängt von der Meinungsfreiheit ab. Dass sie sich gestern nicht eindeutig, klar und deutlich zu der sich verschlechternden Lage der Medienfreiheit in Aserbaidschan geäußert hat, stellt ihr Bekenntnis zu diesem Prinzip in Frage.“

Zu den Unterzeichnern des Protestbriefes gehört auch die Organisation Article 19, die für Meinungsfreiheit kämpft. In ihrem Statement während der Konferenz hatte sie gesagt, dass das aserbaidschanische EBU-Mitglied Ictimai, das den Grand Prix in diesem Jahr ausrichtet, ihrer Meinung nach elementare Bedingungen nicht erfüllt. Die Berichterstattung von Ictimai vernachlässige Nachrichten, die negativ für die Regierung sind, und stelle das Regime überdurchschnittlich positiv dar.

Article 19 forderte die Eurovision auf, ihre „Politik des Schweigens“ über schweren Verstöße gegen die Meinungsfreiheit in Aserbaidschan zu beenden.

In dem offenen Brief äußern die Menschenrechtsorganisationen die Sorge, dass die Sicherheit ihrer Kollegen in Aserbaidschan nicht gewährleistet ist und sie Racheakten ausgesetzt sein werden. Sie fordern die EBU und andere internationale Institutionen auf, genau zu beobachten, wie die Bürgerrechtler, die es wagten, an der EBU-Veranstaltung teilzunehmen, in Zukunft behandelt werden.

Ich fürchte, wenn sie sich auf die EBU verlassen, sind sie verlassen.

In einem Interview mit mir sagte EBU-Generaldirektorin Ingrid Deltenre, sie glaube „null“, dass das Image der Eurovision unter alldem leiden könnte. Ich hoffe sehr, dass sie unrecht hat.

dapd-Chef appelliert an Redaktion: Bewahren Sie Ruhe!

Am Sonntagnachmittag habe ich hier im Blog ein dapd-Feature über Baku kritisiert. Das veranlasste den Chefredakteur Cord Dreyer, am nächsten Tag folgende Rundmail an alle Redakteure zu verschicken:

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

offensichtlich ärgern sich viele von Ihnen über die Kritik in einem Medienblog an einem unserer Texte aus Aserbaidschan. Bitte lassen Sie sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen oder gar verunsichern. Es ist in der Tat so, dass die Arbeit von Unternehmen, die auf Erfolgskurs sind, in der Branche mitunter besonders kritisch beäugt wird.

Fakt ist:

  • Kein anderes Medium ist im Vorfeld des ESC für seine Kunden so lange vor Ort und berichtet so ausgiebig und ausgewogen über Aserbaidschan wie dapd. Teil unserer Berichterstattung sind selbstverständlich viele Berichte über Menschenrechtsverletzungen, Aktivitäten der Opposition und regierungskritischer Organisationen.
  • Zu einer solch ausgewogenen und insgesamt kritischen Berichterstattung gehört als eine Stilform auch ein Städteporträt mit subjektiven Eindrücken. Nicht jeder Text über Aserbaidschan kann drei Hintergrundabsätze über die Menschenrechtsverletzungen in dem Land enthalten, die es ohne Zweifel gibt. Im Internet finden Sie ein Beispiel dafür, wie dpa in einem ähnlichen Feature kaum anders mit dem Thema umgegangen ist.
  • Als Nachrichtenagentur sind wir selbstverständlich unabhängig und berichten auch unabhängig. Wir lassen uns die Form und den Tenor unserer Berichterstattung nicht vorschreiben.
  • Von dieser Unabhängigkeit können Sie sich leicht überzeugen, wenn Sie all die Beiträge über Aserbaidschan in unserem Dienst lesen.

Ich möchte Sie ermutigen, Ihre gute Arbeit fortzusetzen und sich durch solcherlei Angriffe nicht beeindrucken zu lassen. Wer Erfolg hat, steht auch immer in der Kritik. Daran müssen wir uns gewöhnen. Wir sollten mit dieser Kritik aber selbstbewusst umgehen.

Herzliche Grüße
Ihr
Cord Dreyer

Entweder ist ein dapd-Redakteur also ein so sensibles Geschöpf, das schon auf öffentliche Kritik an der Arbeit eines Kollegen mit Selbstzweifeln, Panik und Alleshinwerfgedanken reagiert, dass der Chef gleich eine Durchhalte-, Kopfhoch- und Wir-lassen-uns-nicht-unterkriegen-Notfall-Mail verfassen muss.

Oder die Angst und der Ärger liegen doch eher auf Seiten des Chefredakteurs.

Sein Vorschlag, sich von der „Unabhängigkeit“ der dapd-Berichterstattung über Aserbaidschan durch einen Blick ins Archiv zu überzeugen, ist allerdings ein überraschend guter. Der Unternehmenssprecher von dapd hatte mir am Dienstag dieselbe Anregung gegeben und freundlicherweise gleich ein umfangreiches PDF mit entsprechenden Agenturmeldungen geschickt, die belegen sollen, dass dapd die notwendige kritische Distanz hält.

Mein Eindruck nach dem Lesen war ein ganz anderer.

Eine Meldung des dapd-Korrespondenten in Baku über eine regierungskritische Demonstration am vergangenen Sonntag endete mit folgenden Sätzen:

[Präsident] Alijews Sprecher Ali Hasanow sagte der dapd vergangene Woche, er sehe Demonstrationen von Regierungsgegnern als Beweis für „eine funktionierende Zivilgesellschaft“. Er wies den Vorwurf zurück, es gebe „politische Gefangene“. „Die sitzen wegen konkreten Straftaten wie beispielsweise Hooliganismus im Gefängnis“, sagte Hasanow. Jedem stehe der Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte frei.

Das ist blanker Hohn. Nach Angaben der Bundesregierung hat Aserbaidschan aktuell 46 Urteile des Gerichtshofs wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonventionen nicht umgesetzt.

Am selben Tag lieferte der Baku-Korrespondent von dapd auch ein längeres „Hintergrund“-Stück zum Thema. Anders als dessen Titel „Vor dem ESC in Aserbaidschan formiert sich die Opposition“ suggeriert, kommt in dem Bericht kein Oppositionspolitiker zu Wort. Stattdessen erhält wieder die Regierung das Wort:

(…) Erstmals seit rund zehn Jahren finden in der Hauptstadt Baku regelmäßig Demonstrationen statt. (…) „Es gibt also eine funktionierende Zivilgesellschaft“, kommentierte Ali Hasanow, der Sprecher von Staatspräsident Ilham Alijew, zuletzt im Gespräch mit dapd. (…)

„Das Internet ist völlig frei“, betont auch Hasanow, dem die kritische internationale Berichterstattung über sein Land zu undifferenziert erscheint. So sei etwa immer wieder zu lesen, dass regimekritische Demonstrationen in der Vergangenheit nicht genehmigt worden seien. „Es ging nicht darum, ob demonstriert werden darf, sondern darum, wo“, sagt Hasanow. Die Opposition habe darauf bestanden, im Zentrum von Baku auf die Straße zu gehen. Wegen des dichten Verkehrs und den Baudenkmälern habe die Stadtverwaltung Sicherheitsbedenken angemeldet und Versammlungsplätze auf Brachflächen in Vororten vorgeschlagen. „Erst jetzt wird das von Jugendorganisationen und Oppositionsparteien akzeptiert“, sagt Hasanow: „Es ist gut, dass sie nun dort demonstrieren.“ (…)

Laut Meinungsumfragen kommt Präsident Alijew unter den knapp fünf Millionen Wahlberechtigten weiterhin auf traumhafte Zustimmungsquoten von über 70 Prozent.

Das mag zum Beispiel Ausdruck dessen sein, was die Friedrich-Ebert-Stiftung die „paternalistische Auffassung von Staatsgewalt“ bei einer Mehrheit der Aseris nennt, „wonach die Regierung für die Gesellschaft sorgt wie Eltern für ihre Kinder“. Aber in einem Land, in dem der Opposition nur wenig Raum in der Öffentlichkeit und den Medien eingeräumt wird, was natürlich einen Meinungsbildungprozess behindert, wäre es für eine seriöse Nachrichtenagentur vielleicht eine gute Idee, die angebliche Zustimmungsquote nicht unqualifiziert mit dem Wort „traumhaft“ zu bejubeln.

Am Tag zuvor war es der aserbaidschanische Energie- und Industrieminister Natig Alijew, den dapd ausführlich zu Wort kommen ließ: „Im Gespräch mit Jakob Lemke beantwortete Alijew auch Fragen zu internationaler Kritik an Aserbaidschan (…).“

dapd: Ein anderes Thema, bei dem Aserbaidschan internationale Kritik einstecken muss, sind Zwangsräumungen durch die staatseigene Öl- und Gasfirma Socar. Zuletzt wurden dabei sogar Journalisten verletzt, der Presserat protestierte. Was sagen Sie zu solchen Vorfällen?

Alijew: Ich denke, wenn Socar Maßnahmen ergriffen hat, ist dies durch das Rechtssystem geregelt. Das Gesetz steht höher als Personen oder Firmen. Nach meinen Informationen hat Socar Gerichtsurteile erwirkt, weil diese Häuser ohne Genehmigung errichtet wurden. Socar hat die Grundstücke für Öl- und Gasprojekte bekommen — das sind keine Grundstücke für Häuser. Wenn also die Häuser illegal errichtet wurden, dann liegt Socar richtig. Aber ich wiederhole: Das Gesetz steht über den Firmen.

Und zum Weltfrauentag am 8. März schenkte dapd Aserbaidschan ein „Feature“, das zwar auch die Kritik von Nichtregierungsorganisationen an Benachteiligungen von Frauen thematisierte („Licht und Schatten prägen die Rolle der Frau in Aserbaidschan“), aber Raum fand, dem Präsidentenpaar ein paar Blumenkränze zu flechten:

Nach amtlichen Statistiken sind rund 45 Prozent der Angestellten im Land weiblich. Vorbild ist die „First Lady“ Mehriban Alijewa, die ihren Mann bei der Modernisierung des Landes durch intensive Stiftungsarbeit und viele öffentliche Auftritte unterstützt. Auch ihre eigene Website betreibt Alijewa, die Medizin und Philosophie studiert hat.

Wie gesagt: All diese zitierten Meldungen sind ausschließlich solche, die mir dapd eigens herausgesucht hat, um die journalistische Distanz der Berichterstattung aus Baku zur Regierung zu belegen. Wer sie liest, erfährt tatsächlich gelegentlich etwas über die Kritik an dem Regime. Vor allem aber wird er ausführlich und weitgehend ungefiltert mit dessen Propaganda versorgt.

Es sind Meldungen, die dazu passen, dass ihr Autor für die teetrinkenden Polizisten in Baku schwärmt und Sätze schreibt wie: „Angst vor Uniformierten ist in Aserbaidschan nicht notwendig.“

Das muss es sein, was dapd-Chefredakteur mit der „insgesamt kritischen“ Berichterstattung seiner Agentur über Aserbaidschan meint.

Aber bitte, Herr Dreyer, lassen Sie sich von diesem Eintrag nicht beeindrucken, aus der Ruhe bringen oder gar verunsichern.