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Mehr Flüchtlinge sind besser für die Überschrift – und für den Alarm

Die „Berliner Morgenpost“ schlägt Alarm:

„Mehr als 400 Flüchtlinge pro Tag in Berlin“. Oder, wie es in der Online-Version heißt, „Mehr als 400 Flüchtlinge kommen pro Tag nach Berlin“.

Das sind ganz schön viele. Und die kommen gerade im Durchschnitt jeden Tag nach Berlin?

Nein. Im Durchschnitt waren es im Juli bis einschließlich vergangenen Freitag 213 Flüchtlinge, die pro Tag nach Berlin gekommen sind. „Mehr als 400“ kamen nur an drei einzelnen Tagen.

So steht es auch im Artikel der „Morgenpost“ selbst. Aber für die Überschrift war das wohl nicht dramatisch genug.

In der „Morgenpost“ heißt es:

In Berlin kommen zurzeit teilweise mehr als 400 neue Flüchtlinge pro Tag an. Am 6. Juli waren es 435, am 21. Juli mehr als 460, am 13. Juli sogar 473. Die Mehrzahl wird in Berlin aufgenommen und durchläuft hier das Asylverfahren. Der Anteil der Menschen, die auf andere Bundesländer verteilt werden, reichte an diesen Tagen von 125 bis 225. Das bestätigte Sozialstaatssekretär Dirk Gerstle der Berliner Morgenpost. An sieben weiteren Juli-Tagen wurden in der Zentralen Aufnahmestelle an der Turmstraße (Moabit) jeweils mehr als 250 Flüchtlinge registriert. Insgesamt kamen in diesem Monat bis einschließlich vergangenen Freitag mehr als 5100 Flüchtlinge nach Berlin, von denen rund 3200 vorerst in der Stadt bleiben.

5100 Flüchtlinge, von denen rund 3200 vorerst in der Stadt bleiben – das ergibt einen Schnitt von ungefähr 213 Neuankömmlingen pro Tag, von denen 133 vorerst bleiben. Ja, womöglich sind die immer noch ein Anlass für den Senat, „Alarm zu schlagen“.

Populisten und Rechtsradikale machen Stimmung gegen Flüchtlinge, und fast täglich werden Anschläge auf Unterkünfte verübt. Und in diesem Klima erweckt die „Berliner Morgenpost“ für eine möglichst knallige Schlagzeile auf der Titelseite den Eindruck, die Zahl der hier ankommenden Menschen sei noch viel größer, als sie tatsächlich ist. Das ist schon von besonderer Fahrlässigkeit.

[via Falk Steiner]

Nachtrag, 14:10 Uhr. Online hat die „Morgenpost“ die Überschrift geändert zu: „Teilweise mehr als 400 neue Flüchtlinge pro Tag in Berlin“. Unter dem Text merkt sie an: „Die ursprüngliche Überschrift dieses Artikels war ungenau und wurde geändert.“

Wie Google-Optimierung den Journalismus verändert

Die Axel Springer AG, die die „Berliner Morgenpost“ herausgibt, ist zwar eigentlich dagegen, journalistische Inhalte zu verschenken. Aber wenn sie schon journalistische Inhalte verschenkt, dann tut sie das wenigstens mit der Zurückhaltung einer siebzehnköpfigen Autofensterputzerbande am Kottbusser Tor.

Die Axel Springer AG, die die „Berliner Morgenpost“ herausgibt, findet es zwar eigentlich unzulässig, dass die Firma Google einfach ungefragt und ohne dafür zu bezahlen mit kurzen Anrissen auf Medien wie die „Berliner Morgenpost“ verlinkt. Aber wenn sie das schon tut, soll sie es wenigstens mit niemandem so oft und so gründlich tun wie mit der „Berliner Morgenpost“.

Immerhin hat es sich offenbar gelohnt, dass sich irgendein armer Tropf immer neue Überschriftenvarianten für das Stück über Bewertungsportale im Netz ausgedacht hat: Der Text ist aktuell auf Platz fünf der meistgelesenen Artikel auf der Online-Seite der „Berliner Morgenpost“.

Was bemerkenswert ist, denn der Artikel stammt von der Nachrichtenagentur dpa und steht überall: auf den Online-Seiten der „Wirtschaftswoche“, des „Tagesspiegel“ (mit der steilsten Überschrift: „Touristen zieht’s lieber zur Dönerbude als zum Dom“) und der „Berliner Zeitung“, bei „Spiegel Online“, „Focus Online“ etc.

Und keiner von all denen störte sich daran, dass die halbgare Geschichte überall steht. Und dass sie sich ohnehin liest, als hätte sie ihren Ursprung in der PR-Agentur des Bewertungsportals Yelp genommen, das auf diesem Weg noch einmal auf die Übernahme von Qype und die Maßnahmen gegen Missbrauch hinweisen kann.

[mit Dank an Leonard Quack]

Wo die Lokalzeitung gar nicht mehr sterben kann

Einer der erstaunlichsten Sätze zum Quasi-Abschied der Axel Springer AG aus dem Zeitungs- und Zeitschriftengeschäft steht auf den Seiten des unaussprechlichen „Think Tanks zur Medienkritik“ namens „Vocer“. Janko Tietz schreibt dort, der Verkauf der diversen Print-Produkte werde sich für Springer rächen. Es sei nämlich ein Irrglaube, dass das Geschäft mit gedruckten Medien tot sei. Dann folgt der Satz:

Auch in zwanzig Jahren werden die Menschen noch Zeitung lesen, werden sich in ihren Regionalausgaben informieren, welcher Eckladen schließt, wie die Öffnungszeiten des Freibades sind, welcher Künstler in der Stadt auftritt.

Wer behauptet zu wissen, wie die Menschen in zwanzig Jahren Medien nutzen werden, muss ziemlich bekloppt oder größenwahnsinnig sein. Aber ich halte den Satz nicht nur als Prognose für die Zukunft gewagt, sondern auch als Beschreibung der Gegenwart.

Ich lebe in Friedrichshain, einem Berliner Ortsteil mit 120.000 Einwohnern. Es gibt für diese Menschen de facto keinen Lokaljournalismus.

„Berliner Morgenpost“, „Berliner Zeitung“, „Tagesspiegel“ und „taz“, „B.Z.“ und „Berliner Kurier“, sie alle haben zwar den Anspruch, über das zu berichten, was in Berlin passiert. Aber das ist in aller Regel Regionalberichterstattung: Es geht politisch um den Regierenden Bürgermeister, den Senat und das Abgeordnetenhaus, inhaltlich um Themen wie den Schloss-Neubau, den neuen Flughafen, die BVG. Was in den einzelnen Bezirken passiert, Gebieten mit mehr Einwohnern als die meisten Großstädte, kommt hier nur in kurzen Notizen oder zufälligen Schlaglichtern vor. Von meinem persönlichen Kiez mit den gefühlt stündlich wechselnden Eckläden ganz zu schweigen.

Reden wir nicht von Eckläden und Freibädern. Reden wir von einer gewaltigen Brachfläche, deren Bebauung den zukünftigen Charakter der Gegend, in der ich lebe, entscheidend beeinflussen wird. Es handelt sich um den Block 74, das sogenannte Freudenberg-Areal, benannt nach der Firma, die hier bis vor wenigen Jahren angesiedelt war. Das Gelände ist 26.000 Quadratmeter groß, nun sollen hier 550 Wohnungen entstehen. So will es der Investor; einer Gruppe von Anwohnern ist das viel zu viel.

Es gibt heftige Diskussionen, lautstarke Bürgerversammlungen, überzeugende und weniger überzeugende Versuche, die Anwohner in die Planungen einzubeziehen, Kompromissvorschläge.

Was es nicht gibt: eine kontinuierliche Berichterstattung über all das in der Zeitung.

Im Januar war ich bei einer Versammlung in der Aula der Grundschule. Die über 200 Anwohner fanden kaum alle Platz. Sie stritten mit dem Investor und dem Bezirksbürgermeister, forderten größere Grünflächen und mehr erschwingliche Wohnungen, ließen sich die aktuellen Pläne und die echten oder vermeintlichen Zugeständnisse erklären.

Nur die „taz“ berichtete zwei Tage später über die Veranstaltung, in einem ausführlichen und grundsätzlichen Bericht. Im Mai gab es, ebenfalls in der „taz“, einen Artikel über die weiteren Entwicklungen. Die anderen Tageszeitungen haben in diesem Jahr noch nicht über dieses für Friedrichshain entscheidende Bauprojekt und die Diskussionen darum berichtet.

Womöglich werden sie das irgendwann wieder tun. Der „Tagesspiegel“ zum Beispiel hatte Ende vergangenen Jahres einen größeren Artikel. Aber ist das die Idee einer Lokalzeitung, dass ich sie Tag für Tag kaufen soll, in der Hoffnung, dass irgendwann, vielleicht nach Wochen, etwas Relevantes aus meiner Umgebung darin steht?

Ich weiß nicht, wie typisch Berlin ist. Aber ich möchte behaupten, dass in dieser Stadt auch heute schon die Menschen nicht Zeitung lesen, um sich zu informieren, welcher Eckladen schließt, schon deshalb, weil ihre Zeitung sie nicht darüber informiert, welcher Eckladen schließt.

Zu einem gewissen Anteil haben diese Aufgabe immerhin noch die Anzeigenblätter „Berliner Woche“ (Springer) und „Berliner Abendblatt“ (Dumont Schauberg) übernommen. Aber die Redaktion des „Berliner Abendblattes“ wurde im vergangenen Jahr komplett entlassen, und ich bin mir nicht sicher, ob Janko Tietz mit seinem Postulat vom dauerhaften Bestand des gedruckten Lokaljournalismus ausgerechnet auf das berufen wollte, was kostenlose Anzeigenblätter darunter verstehen.

Und sollte die Zukunft der Tageszeitung wirklich davon abhängen, dass es auf Dauer genug Menschen gibt, die die Öffnungszeiten des Freibades oder die Auftrittsdaten von Künstlern zuhause auf Papier nachlesen wollen? — Informationen, für die es, egal ob sie nun umständlich gedruckt und durchs Land gekarrt werden oder nicht, jedenfalls keine Journalisten braucht, um sie zusammenzutragen.

Den beiden Berliner Stadtmagazinen „Tip“ und „Zitty“ geht es übrigens miserabel. Der Berliner Verlag hat den „Tip“ gerade an eine kleine Servicejournalismus-Agentur verkauft.

Ich wünschte mir, es gäbe dort, wo ich lebe, einen Lokaljournalismus, der diesen Namen verdient. Vielleicht wird irgendwann jemand kommen, der es versucht. Mein Tipp wäre aber eher, dass es ein Online-Projekt wird, ähnlich wie es die „Prenzlauer Berg Nachrichten“ versuchen.

Der Gedanke, dass Zeitungen schon deshalb nicht sterben werden, weil in ihnen steht, was mich angeht, weil es in meiner Nachbarschaft passiert, erscheint jedenfalls aus der Perspektive eines Bewohners von Berlin-Friedrichshain doppelt weltfremd.

In Berlin wurden 2010 pro 100 Einwohner 26 Zeitungen verkauft. Zwei Jahre später waren es noch 23,3. Wenn es eine Hoffnung für lokale Tageszeitungen gibt — hier lebt sie nicht.

Online first, Leser last

In den vergangenen Tagen könnte hier der Eindruck entstanden sein, die Arbeit professioneller deutscher Online-Medien bestehe vorwiegend darin, ungeprüft Agenturmeldungen durchzuschleusen. Dem ist natürlich nicht so.

Die „Berliner Morgenpost“ zum Beispiel hat in der vergangenen Woche auf ihrer Internetseite als Service die Information aufbereitet, welche Schulen in der Stadt wieviel Geld aus dem Konjunkturprogramm bekommen.

Und man muss sogar nur höchstens mehrere Hundert Male klicken, um die Zahl zu finden, die einen interessiert.






etc.

[eingesandt von CB]

Das Zeitungs-Präteritum II

„Futur II“ nennt der Linguist die Verbform, die anzeigt, dass in der Zukunft etwas Vergangenheit ist („er wird gelesen haben“).

Zeitungsjournalisten kennen noch Aufregenderes: Formulierungen, die anzeigen, dass in der Vergangenheit etwas Zukunft ist. Das ist für ein Medium, bei dem Produktion und Rezeption relativ weit auseinanderliegen, gelegentlich notwendig, um über Dinge zu schreiben, die erst nach Redaktionsschluss stattfinden, aber zum Zeitpunkt des Lesens schon passiert sind.

Wie schillernd diese Form sein kann, demonstriert uns heute die „Berliner Morgenpost“ mit einem Artikel über Annemarie Eilfeld:


Mal abgesehen von der erstaunlichen Lust am Detail (das geht noch einige Zeilen so weiter): Der Artikel richtet sich also an Menschen, die kein Internet, kein Radio, keinen Fernseher und keine Freunde haben, sich aber so sehr für die Fernsehshow „Deutschland sucht den Superstar“ interessieren, dass sie genau wissen wollen, was die Kandidaten am Samstagabend im Halbfinale getragen haben, und zwar so dringend, dass sie nicht bis Montag abwarten wollen, wenn ihnen ihre Lieblingszeitung verraten könnte, wie es war, sondern schon am Sonntag erfahren wollen, wie es hätte werden können?

Das nenn ich mal Leserservice.

Nächste Woche entdeckt er die Europaflagge

Könnte vielleicht jemand Matthias Heine die Drogen wegnehmen? Oder wiedergeben? In seiner Kolumne in der „Berliner Morgenpost“ schrieb er gestern:

Neulich habe ich bei Ebay meinen gelben Stern bekommen. (…) Ein gelber Stern! Ich gehöre nicht zu denen, die bei so was gleich „Antisemitismus“ schreien und die Nummer der Erregungshotline wählen. Aber ein bisschen doof ist das schon.

Andererseits: Was erwarte ich eigentlich von Leuten, die bei Ebay arbeiten? Das ist ja nicht die Sorte Traumberuf, die man anstrebt, wenn man einigermaßen erfolgreich ein Gymnasium besucht und ein Studium abgeschlossen hat. Sondern ein Job für diejenigen, die bei allen anderen Eignungstests rausgeflogen sind, weil sie dachten, es hätte neben der DDR noch eine BDR gegeben, die von einem „demografisch“ gewählten Bundeskaiser Adolf Honecker regiert wurde. Und in der natürlich alles besser war. In welcher? „Das müsste ich erst mal googeln.“ (…)

(Link unter „gelber Stern“ von mir)

[mit Dank an Tom!]

Nachtrag, 28. August. Ebay-Chef Stefan Gross-Selbeck hat die Glosse „mit Bestürzung und Fassungslosigkeit“ aufgenommen.