Schlagwort: Bettina Schausten

Sondierjournalismus: Lesen in der Kartoffelsuppe

Täusche ich mich oder lässt sich die innenpolitische Nachricht des gestrigen Tages verlustlos auf einen einzigen Satz zusammendampfen, der lautet: „CDU/CSU und SPD haben sich zu ersten Sondierungsgesprächen getroffen?“ Und alles, aber auch wirklich alles andere, das um diese Nachricht herum erzählt wurde, ist Pillepalle?

Aus den Online-Medien von „Süddeutscher Zeitung“ und „Welt“ erfahre ich:

  • Die SPD-Leute sind um 12:47 Uhr vom Jakob-Kaiser-Haus aufgebrochen, tragen jeder eine rote Kladde in der Hand, sagen aber nichts.
  • Die CDU/CSU-Leute sind ein paar Minuten später aufgebrochen, nehmen denselben Weg, aber ein anderes Tor und sagen auch nichts.
  • Angela Merkel winkt einmal.
  • Volker Kauder ruft den vielen Kameraleuten, Fotografen und Reportern zu: „Hallo! Guten Tag!“
  • Merkel und Gabriel sollen vorher mehrmals telefoniert haben.
  • Es gab „heiße“ („Spiegel Online“) Kartoffelsuppe mit Würstchen und Pflaumenkuchen.
  • Horst Seehofer und Olaf Scholz haben miteinander gescherzt.
  • Alle lachten, nur Hannelore Kraft „soll sauertöpfisch geguckt haben“.
  • Laut Andrea Nahles hat es „Konsensuales“ gegeben, aber „strittige Punkte“ seien „identifiziert“ worden.
  • Angela Merkel ist auf Unions-Seite „wie die klare Verhandlungsführerin aufgetreten“.
  • Volker Bouffier und Stanislaw Tillich haben häufiger was gesagt; Horst Seehofer nicht so häufig.
  • Beim Thema Finanzen hat Finanzminister Schäuble was gesagt.
  • Die SPD-Leute haben insgesamt viel gesagt.

Im „heute journal“ kündigt Moderator Christian Sievers den Beitrag zum Thema ohne erkennbare Ironie mit den Worten an:

Die spannende Frage für Deutschland: Was ist am Ende herausgekommen? Die Antwort: Zunächst mal nur ein Datum; man will sich wiedertreffen. Für alles andere muss man, wie Winnie Heescher jetzt, schon ganz genau hinschauen.

Das Ergebnis des ganz genauen Hinschauens, für Deutschland:


Bei CDU/CSU wurden im Fraktionsgebäude die Fahrstühle angehalten, bis die SPD-Leute weg sind. Die ZDF-Reporterin weiß: „Noch gilt, Abstand halten.“


Volker Kauder lässt Gerda Hasselfeld noch bei sich im Fahrstuhl mitfahren. Die ZDF-Reporterin weiß, man will sich: „als Kuscheltruppe verkaufen.“


Die SPD-Leute müssen ein paar Sekunden vor der Tür der Parlamentarischen Gesellschaft warten. „Man steht ein bisschen pikiert vor der Tür.“


Die CDU/CSU-Leute kommen fünf Minuten später.


„Bilder von der Sondierung gibt es keine. Die Speisekarte dringt heraus.“


Hinterher erscheint Andrea Nahles als erste wieder.


Die Generalsekretäre von CDU und CSU kommen erst 45 Minuten später.


Andrea Nahles spricht von einer „konstruktiven Atmosphäre“.


Hermann Gröhe spricht von einer „konstruktiven Atmosphäre“. Die SPD-Reporterin findet: Sie klingen „wie ein altes Ehepaar“.

Stunden zuvor hat das ZDF, mutmaßlich aufgrund der außerordentlichen Brisanz der sich überstürzenden Ereignisse, eine fünfzehnminütige Sondiersondersendung ins Programm genommen. Chefredakteur Peter Frey und die Leiterin des Haupstadtstudios Bettina Schausten fragen den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel: „Was nun?“

Eine erschöpfende Antwort darauf hätte, wie gesagt, gelautet: „Nun treffen wir uns übernächste Woche wieder.“ Spätestens nach 45 Sekunden hätte man die Sendung abbrechen können. Da sagt Gabriel auf die Frage, ob eine große Koalition nach diesem Treffen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher geworden ist:

Es ist, glaube ich, genauso offen wie vorher.

(Unbezahlbar: das hilflos-bedeutungsschwangere „Offen“, das Schausten daraufhin echot.)

Zum Glück haben Schausten und Frey aber noch ein paar substanzielle Nachfragen auf ihren Karteikarten vor sich stehen, nämlich unter anderem:

  • Fühlten Sie sich irgendwie umworben?
  • Standen die 15 Prozentpunkte irgendwie im Raum, die zwischen Ihnen liegen, zwischen beiden Wahlergebnissen?
  • Da stehen ja auch die Beziehungen von früher im Raum, die da um den Tisch saßen, die kannten sie ja alle. Wie ist das eigentlich, was das Verhältnis zwischen Ihnen und Frau Merkel angeht?
  • Muss man wieder Vertrauen zueinander fassen?
  • Vertreten Sie eigentlich auch die These, dass die Wahlniederlage 2009 der SPD in der Verantwortung der Kanzlerin lag?

Diverse Versuche der Moderatoren, Gabriel dazu zu bringen, Steuererhöhungen zu einer nicht verhandelbaren Voraussetzung für das Eintreten in eine Große Koalition zu erklären, haben den erwartbaren Misserfolg.

Schön war allerdings, wie der SPD-Vorsitzende in dem albernen Satzergänzungsspiel, das aus irgendeiner internen Pflicht in jeder „Was nun“-Sendung gespielt werden muss, den Halbsatz vervollständigte: „Das wichtige Finanzministerium ist für die SPD…“ – „… ein wichtiges Finanzministerium.“

Es wäre ein guter Moment der Selbsterkenntnis für die ZDF-Verantwortlichen gewesen — zu merken, was für einen Unsinn man hier veranstaltet. Stattdessen widmet Bettina Schausten die Sendung „Was nun?“ vollends um in „Wenn dies, was dann?“ und fragt nach dem Mitgliedervotum, das über einen eventuellen Koalitionsvertrag entscheiden soll:

Wenn Sie dann überstimmt würden als Parteivorsitzender, würden Sie dann auch die Konsequenz ziehen und wären Sie dann gescheitert?

Sie fragt den Mann, der gerade fünfzehn Minuten lang nicht sagen wollte, ob man überhaupt der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen näher gekommen ist, ob er zurücktreten wird, wenn diese Koalitionsverhandlungen geführt werden, wenn sie zu einem Abschluss kommen, wenn dann die Mitglieder gegen einen Vereinbarung stimmen, deren Inhalt heute schon deshalb nicht bekannt sein kann, weil die Verhandlungen darüber noch gar nicht offiziell begonnen haben? Könnte nicht das bitte nächste Mal Horst Lichter da sitzen, sich erkundigen, ob es sich bei dem Pflaumenkuchen um einen Hefe- oder einen Quark-Öl-Teig handelte, und kritisch nachfragen, wer wieviele Stücke nahm, obwohl er vorher schon von der Kartoffelsuppe?

Ist das, was da gestern in den Medien stattfand (und eigentlich seit Wochen so ähnlich geht), politischer Journalismus? Oder könnte man’s auch einfach ohne Verlust lassen?

Nächste Woche treffen sich Union und Grüne. Was es wohl gibt?