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Wer für exklusive „Bild“-News bezahlt, ist nur zu blöd zum Googeln

Die Leute von „Bild“ scheinen ernsthaft überzeugt davon zu sein, dass sie im Streit gegen „Focus Online“ und den „Content-Klau“ die Guten sind. Dabei sind sie vor allem: die Blöden.

Der Springer-Verlag arbeitet seit Jahren erfolgreich daran, der Medienwelt zu suggerieren, dass er, wie kein anderer Verlag in Deutschland, das Geschäft mit dem Digitalen kapiert hat. Die Paid-Content-Strategie von „Bild“ lässt mich erheblich daran zweifeln. Und das liegt nicht daran, dass sie von bösen, auf die „dunkle Seite“ gewechselten Burda-Leuten sabotiert wird.

Die „Bild“-Zeitung meldete gestern abend exklusiv, dass der FC Bayern München die Verträge mit Philipp Lahm und Thomas Müller langfristig verlängert habe. Der Sport-Informationsdienst sid verbreitete die Meldung unter Bezug auf „Bild“ um 22:49 Uhr; dpa zog um 23:08 Uhr nach.

Mit anderen Worten: Die Nachricht steht jetzt ungefähr überall.

Außer auf Bild.de. Wer sich dort informieren will, bekommt diese tolle Collage zu sehen:

Die Antwort, um wen es sich handelt, bekommen bei Bild.de nur zahlende Kunden. Als „Bild-Plus“-Abonnent landet man auf dem Artikel mit der Auflösung. Wer nicht gezahlt hat, steht außen vor der Bezahlmauer.

Nun gibt es bestimmt Leute, die an dieser Stelle auf die Formulierung „Diesen Artikel gibt es nur bei BILD+“ hereinfallen, das Portemonnaie zücken und zahlen. Paid Content funktioniert hier wie eine Dummen-Steuer: Es bezahlt nur, wer so blöd ist, nicht darauf zu kommen, dass die Enthüllung der „VERTRAGS-SENSATION!“ natürlich an anderer Stelle längst frei im Netz steht. Über eine Suchmaschine finden sich schnell ungezählte Quellen, darunter auch die Online-Ausgabe der „Welt“, die ebenfalls im Springer-Verlag erscheint.

Dadurch, dass die „Bild“-Zeitung die Namen auf ihrer Seite um keinen Preis verschenken will, tauchen sie auch nicht in der Überschrift oder der URL des Paid-Content-Artikels auf. Das Ergebnis ist verblüffend: Die exklusive „Bild“-Information steht überall im Netz, außer bei „Bild“. Wer nach Lahm und Müller googelt, findet alle möglichen Artikel mit den „Bild“-Informationen, aber er kommt nie direkt zu „Bild“. Der Paid-Content-Artikel ist bei der Nachrichtensuche von Google nicht gelistet (warum „Bild“ das so handhabt, ist mir nach wie vor ein Rätsel). Und bei der Web-Suche spielt er keine Rolle, weil er die entscheidenden Suchbegriffe nicht enthält.

Die Sport-Ressortseite von Google-News ist voller Artikel über die Exklusiv-Nachricht von „Bild“. Und ohne einen Artikel von „Bild“. Und das hat nichts mit „Diebstahl“ oder „Hehlerei“ oder „Content-Klau“ zu tun, sondern nur mit der verrückten Art, wie die „Bild“-Zeitung ihre Pay Wall gebaut hat und glaubt, ihre exklusiven Nachrichten schützen und zu Geld machen zu können.

Grundsätzlich kommt nur ein sehr kleiner Anteil der Bild.de-Leser über Google auf die Seite. Das wird immer gerne als Beweis dafür genommen, dass „Bild“ als Marke an sich so ein starker Anlaufpunkt ist und Bild.de es nicht nötig hat, seine Inhalte mit dubiosen Methoden für Suchmaschinen zu optimieren. Da ist womöglich etwas dran. Es ist aber auch Ausdruck davon, wie ungeschickt sich „Bild“ mit seinen exklusiven Inhalten anstellt und wie blind die Bezahl-Strategie umgesetzt wird.

Wie „Bild“ versucht, „Focus Online“ in die Bezahlschranken zu weisen

Eine tolle Sache, dieser Streit zwischen „Bild“ und „Focus Online“. Seit Wochen schon kann man auf Twitter eine größere Zahl von Wut-Rülpsern von „Bild“-Leuten vernehmen. Sie ärgern sich schwarz, dass „Focus Online“ mit großer Konsequenz ihre exklusiven und für die Leser kostenpflichtigen „Bild plus“-Geschichten übernimmt und gratis anbietet.

Gestern hat sich Bild.de-Chef Julian Reichelt dann in den Branchendienst turi2 übergeben. Er bezichtigt den „Focus Online“-Chef Daniel Steil des Diebstahls und der Hehlerei. Steil hat früher in leitender Position bei „Bild“ gearbeitet, weshalb Reichelt ihm nachtrauert: „Er ist auf die dunkle Seite gewechselt.“ (Reichelt meint vermutlich: auf die andere dunkle Seite.)

Die „Bild“-Zeitung ist übrigens das Blatt, das vor drei Jahren 60.000 Euro Schadensersatz an die Zeitschrift „Lettre International“ zahlen musste, weil es ohne Genehmigung lange Passagen aus einem Interview mit Thilo Sarrazin abgedruckt hatte, aber das nur am Rande.

Um die Aufregung der „Bild“-Leute zu verstehen, muss man sich ansehen, wie hemmungslos „Focus Online“ die fremden Inhalte ausschlachtet. Nehmen wir den gestern veröffentlichten „Focus Online“-Artikel „TV-Moderatorin streitet versuchten Mord ab“. Er beruht auf zwei „Bild plus“-Artikeln („Staatsanwalt ermittelt gegen ‚Big Brother‘-Star“, „Jetzt spricht das Unfall-Opfer“). Ich habe dem kompletten „Focus Online“-Artikel mal die entsprechenden Original-Passagen gegenüber gestellt:

„Focus Online“

„Bild“

Der Unfall liegt schon eine Weile zurück, doch für einen Lastwagenfahrer hatte er schreckliche Folgen: Der 47-Jährige erlitt lebensgefährliche Verletzungen an der Halswirbelsäule und den Beinen. Zudem wurde er von den bleibenden Schäden berufsunfähig. Was ist passiert? Wie konnte das geschehen? Die Polizei ermittelte und glaubt nun die Täterin gefunden zu haben. Nach einem Bericht der „Bild“-Zeitung, soll es sich um eine TV-Moderatorin handeln. Demnach soll die 32-Jährige nicht nur die Verursacherin des tragischen Autounfalls zu sein, sondern auch Fahrerflucht und einen Vertuschungsversuch begangen haben.

Der Unfall ist fast ein Jahr her.

Der Lkw-Fahrer kam mit lebensgefährlichen Verletzungen an der Halswirbelsäule und an den Beinen ins Krankenhaus.

Jetzt will die Polizei die kaltblütige Unfall-Fahrerin ermittelt haben!
Nach BILD-Informationen soll es sich um die TV-Moderatorin und „Big Brother“-Star […] handeln.

Der Unfall ereignete sich am 26. Juli 2013. An diesem Morgen war ein Lkw-Fahrer kurz vor sechs Uhr früh dabei, seinen Lastwagen an einer Straße im Berliner Stadtteil Altglienicke zu überprüfen. Damals sei der 47-Jährige von einem unbekannten Fahrzeug erfasst worden, berichtet ein Polizeisprecher „Bild“ gegenüber. Der Autofahrer flüchtete jedoch und ließ den schwerverletzen Mann auf der Fahrbahn liegen.

Es war in den Morgenstunden des 26. Juli 2013. Der Lkw-Fahrer (47) war kurz vor 6 Uhr dabei, seinen Lastwagen an der Straße Am Falkenberg im Berliner Stadtteil Altglienicke fahrbereit zu machen.

Ein Polizeisprecher: „Der 47-Jährige wurde von einem damals unbekannten Fahrzeug erfasst. Der Autofahrer flüchtete und ließ den schwerverletzen Mann auf der Fahrbahn liegen.“

„Als ich aufgewacht bin, konnte ich mich nicht mal mehr an meinen Namen erinnern“, erzählte der Mann jetzt der „Bild“-Zeitung. Er müsse immer noch fünf Mal in der Woche zur Reha und Schmerzmittel nehmen. „Ich kann heute mit meinen Wunden leben. Aber kann das der Täter mit seinem schlechten Gewissen?“

Der LKW-Fahrer zu BILD: „Als ich aufgewacht bin, konnte ich mich nicht mal mehr an meinen Namen erinnern.“ Sein rechtes Bein war 18-mal gebrochen. Bis heute muss er fünfmal wöchentlich zur Reha, dreimal täglich Schmerzmittel nehmen. Die nächste OP steht im Herbst an. Er sagt: „Ich kann heute mit meinen Wunden leben. Aber kann das der Täter mit seinem schlechten Gewissen?“

Ähnlich äußert sich ein Polizeisprecher. „Die Behandlungen dauern bis heute an. Zudem ist von bleibenden Schäden und Berufsunfähigkeit infolge des Tatgeschehens auszugehen“, sagte er dem Blatt. „Der Fahrer hatte das Opfer mit lebensgefährlichen Verletzungen seinem Schicksal überlassen.“ Der Unfallort sei eine wenig befahrene Straße. Deshalb werde wegen versuchten Mordes ermittelt.

„Die Behandlungen dauern bis heute an. Zudem ist von bleibenden Schäden und Berufsunfähigkeit infolge des Tatgeschehens auszugehen“, sagt der Polizeisprecher.

Der Unfallort ist eine wenig befahrene Straße. „Der Fahrer hatte das Opfer mit lebensgefährlichen Verletzungen seinem Schicksal überlassen“, sagt der Polizeisprecher.

Deshalb wird wegen versuchten Mordes ermittelt.

Den Informationen von „Bild“ zufolge sei es Kriminaltechnikern erst mehrere Monate nach dem dramatischen Unfall geglückt, das Fahrzeugmodell zu bestimmen. Laut einem Beamten sei ein Fahrzeug in den Fokus der Ermittlungen geraten, das zwei Tage nach der Tat in Sachsen als gestohlen gemeldet worden war. „Der Wagen wurde wenig später in Polen mit Unfallspuren sichergestellt und steht im Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchungen als unfallverursachendes Fahrzeug zweifelsfrei fest“, erklärte ein Polizeisprecher.

Monate nach dem Horror-Crash gelang es den Kriminaltechnikern, das Fahrzeugmodell zu bestimmen.

Der Beamte: „Es geriet ein Fahrzeug in den Fokus der Ermittlungen, was zwei Tage nach der Tat in Sachsen als gestohlen gemeldet worden war.“

„Der Wagen wurde wenig später in Polen mit Unfallspuren sichergestellt und steht im Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchungen als unfallverursachendes Fahrzeug zweifelsfrei fest“, sagt der Polizeisprecher.

Der Mercedes konnte schließlich einer deutschen Fersehmoderatorin zugeordnet werden. Mittlerweile geht die Staatsanwaltschaft nach Informationen der „Bild“-Zeitung davon aus, dass der angezeigte Diebstahl als „ein Versuch des Vertuschens der Unfallbeteiligung“ zu werten ist. Deshalb werde gegen […] nun wegen versuchten Mordes ermittelt. Auch ihr 41 Jahre alter Verlobter geriet angeblich ins Visier der Polizisten. Er soll dem Ex-„Big-Brother“-Star geholfen haben, das Unfallauto nach der Tat aus dem Land nach Polen zu schmuggeln. Gegen ihn werde wegen Betruges zum Nachteil einer Versicherung und Vortäuschen einer Straftat ermittelt.

Es ist der Mercedes der TV-Moderatorin […]!

Die Staatsanwaltschaft geht mittlerweile davon aus, dass der angezeigte Diebstahl als „ein Versuch des Vertuschens der Unfallbeteiligung“ zu werten ist.

Deshalb wird gegen […] jetzt wegen versuchten Mordes – und gegen ihren Verlobten (41) wegen Betruges zum Nachteil einer Versicherung und Vortäuschen einer Straftat ermittelt.

Ihr Verlobter soll […] geholfen haben, dass Unfallauto nach der Tat nach Polen zu bringen.

Die TV-Moderatorin dementiert den Verdacht. Sie äußerte sich gegenüber „Bild“: „Wir waren das nicht. Wir haben damit nichts zu tun. Ich habe zu diesem Zeitpunkt gearbeitet.“ Ein Ermittler aber glaubt die Wahrheit zu kennen: „In den Vernehmungen zeigt sie sich eiskalt und ohne Anflug von Reue“, zitiert ihn „Bild“.

Die TV-Moderatorin am Dienstag zu BILD: „Wir waren das nicht. Wir haben damit nichts zu tun. Ich habe zu diesem Zeitpunkt gearbeitet.“

Ein Ermittler zu BILD: „In den Vernehmungen zeigt sie sich eiskalt und ohne Anflug von Reue.“

Das entspricht einer quasi-vollständigen Übernahme der Informationen aus den beiden „Bild“-Artikeln. Jedes Zitat eines der Beteiligten wurde verwertet. Wer auf einen der Links zu „Bild“ klickte, erführe dort nichts Wesentliches, was nicht schon bei „Focus Online“ steht.

(Lustigerweise haben die „Focus Online“-Leute beim Kopieren an einer Stelle sogar den Namen der Beschuldigten übernommen, den sie sonst aus ihrem Text getilgt hatten. Man unterschätzt sie leicht, die Tücken des Copy & Paste.)

„Focus Online“ kopiert alles. Nicht nur aus „Bild“-Artikeln, aber natürlich ist „Bild“ eine besondere Fundgrube für ein solches konsequent auf Reichweitenmaximierung angelegtes Online-Angebot.

Wenn Uli Hoeneß vor seinem Haftantritt noch einmal kurz einen „Bild“-Mann zurückruft und ihm ein paar Sätze sagt, steht all das hinterher nicht nur (kostenpflichtig) auf „Bild plus“, sondern auch (frei) auf „Focus Online“, mit ausführlichsten Original-Zitaten, gekürzt nur um das unwesentlichste Drumherum und ein paar eitle Belanglosigkeiten. Wenn ein angeblicher „WhatsApp“-„Insider“ mit „Bild“ über die Probleme und Pläne bei dem Nachrichtendienst spricht, pickt sich „Focus Online“ daraus nicht die vermeintliche Nachricht oder ein, zwei knackige Zitate, sondern erzählt den kompletten Artikeln, fast ohne Auslassung, nach.

Das wird nicht besser dadurch, dass „Focus Online“ immer und immer wieder die Quelle nennt und geradezu übertrieben oft darauf verlinkt — es gibt ja tatsächlich keinen Grund, auf den Link zu klicken.

Das alles ist, ohne Frage, extrem dreist.

Es scheint aber, erstaunlicherweise, nicht rechtswidrig zu sein. Zumindest räumt Julian Reichelt das ein, was ihn nicht daran hindert, „Focus Online“ zu bezichtigen, Straftaten zu begehen. In der Logik eines „Bild“-Menschen geht das problemlos: Jemanden, der etwas tut, was nicht strafbar ist, einer Straftat bezichtigen und auf Nachfrage auch darauf beharren.

Dass das umfangreiche, fast vollständige Kopieren von Inhalten, wie es „Focus Online“ betreibt, laut „Bild“ rechtlich nicht angreifbar ist, ist aber auch deshalb erstaunlich, weil man jahrelang so getan hatte, als ob es gegen genau das doch ein Mittel gebe: Ein Leistungsschutzrecht.

Nun ist dieses Leistungsschutzrecht da — und es hilft doch nicht gegen „Diebe“ und „Hehler“? Sollte es etwa so sein, dass es bei dem Leistungsschutzrecht gar nicht um den Schutz vor solchen Leuten ging, die sich systematisch an eigenen, womöglich teuer erstellten Inhalten bedienen und darauf ein eigenes Geschäftsmodell aufbauen? Sondern dass das nur ein Vorwand war, um ein Gesetz zu bekommen, mit dem sich (womöglich, bestenfalls, wie auch immer) ein Teil der Einnahmen von Google abzwacken lässt?

Okay, das ist gar keine überraschende Erkenntnis. Aber schön, dass das gerade in dieser Anschaulichkeit der Öffentlichkeit vorgeführt wird. Und das auch noch am Beispiel von „Focus Online“, einem Unternehmen aus dem Hause Hubert Burda, dem Präsidenten des Verbandes deutscher Zeitschriftenverleger, der an vorderster Front für das Leistungsschutzrecht gekämpft hat und dabei Sätze formulierte, die vor dem Hintergrund des „Focus Online“-Geschäftsmodells nachträglich ganz besonders schön schimmern:

[…] wer die Leistung anderer kommerziell nutzt, muss dafür bezahlen. Dieses ökonomische Grundprinzip muss auch im digitalen Zeitalter mit seiner „Link-Ökonomie“ gelten. Sonst sehen wir der schleichenden Enteignung der Inhalte-Produzenten tatenlos zu.

Der Zorn der „Bild“-Leute über die Ausbeutung ihrer Inhalte ist nachvollziehbar. Sie sind besonders wütend, weil sie so machtlos sind und weil der Gegner einer der ihren ist (die Möglichkeit, dass Verlage die Ausbeuter sind und nicht die Ausgebeuteten, war in der ganzen Leistungsschutzrecht-Debatte irgendwie gar nicht vorgesehen). Und besonders auf die Palme muss sie treiben, dass der Gegner so gut ist.

Im Interview mit turi2 beklagt Bild.de-Chef Reichelt ausdrücklich, dass „Focus Online“ die ausgeschlachteten „Bild“-Inhalte „durch die berüchtigte Focus.de-Google-Optimierung laufen“ lässt. „Berüchtigt“ ist diese Optimierung aus Bild.de-Sicht natürlich nur, weil sie so gut funktioniert. Als ob Bild.de nicht selbst gerne seine Inhalte, zumindest die freien, so optimiert hätte wie „Focus Online“. Reichelt und seine Kollegen nehmen dem „Focus“ nicht nur übel, dass er ihnen etwas wegnimmt, sondern dass er auch noch das meiste daraus macht.

Im Gegensatz dazu hat „Bild“ mit seiner selbstgewählten Paid-Content-Strategie dafür gesorgt, dass seine Inhalte für den flüchtigen Suchmaschinenbenutzer unsichtbar sind. Reichelt sagt im Turi2-Interview: „Paid-Inhalte werden von Google nicht angezeigt.“ Tatsächlich stimmt das — auf „Bild plus“-Inhalte bezogen. Paid-Inhalte zum Beispiel vom „Hamburger Abendblatt“ werden durchaus von Google angezeigt, und zwar sowohl in der Web- als auch in der News-Suche. Letzteres liegt daran, dass das „Abendblatt“ der „Erster Klick gratis“-Vorgabe folgt und Besuchern, die auf diesem Weg kommen, einen Blick hinter die Bezahlschranke gestattet. Aber selbst die britische „Times“, die das nicht tut, wird mit ihren Paid-Inhalten bei Google und Google News gelistet.

Vielleicht kann Herr Reichelt mal erklären, warum „Bild“ das mit seinen „Plus“-Inhalten nicht gelingt — und so zur Profitmaximierung der angeblichen „Hehler“ noch beiträgt.

Vermutlich sind sie bei „Bild“ aber ohnehin noch mit dem Auswechseln all der Sicherungen beschäftigt, die ihnen in den vergangenen Wochen im Streit mit „Focus Online“ durchgebrannt sind. Neulich haben sie sich sogar ganz besonders darüber aufgeregt, dass der, äh, Mitbewerber es wagte, eine „Bild“-Exklusiv-Nachricht nicht nur selbst zu melden, sondern sogar als „Eilmeldung“ an seine App-Nutzer zu verschicken. Anscheinend gilt: Über Dinge, die „Bild“ rauskriegt, darf nur „Bild“ seine Leser mit der gebotenen übertriebenen Dringlichkeit informieren.

Über Kai Diekmann

Kai Diekmann, der von Fachmedien seit einiger Zeit als lustiger, selbstironischer und eloquenter Mensch mit Bart behandelte Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, hat mit einer Wortmeldung auf Twitter auf meinen Spott über die Ukraine-Berichterstattung seiner Zeitung reagiert:

Wie Wulff ohne „Bild“ nach Afghanistan reiste und so vielleicht einen „Krieg“ auslöste

Nikolaus Harbusch hatte sich vorbereitet. Der preisgekrönte „Bild“-Reporter saß in der „BILD-Live-Sendung“, die während der Werbepausen des „Bild“-„Spiegel“-Sat.1-Filmes „Der Rücktritt“ lief. Die Moderatorin kündigte an, gleich die nachgesprochene Nachricht abzuspielen, die Christian Wulff auf der Mailbox von „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann hinterlassen hatte. Und Harbusch faltete einen Zettel auseinander, den er mitgebracht hatte.

So ein Bundespräsident hätte ja nicht viele handfeste Aufgaben, sagte er sinngemäß, aber eine dann doch: Den Verteidigungsfall, den Kriegszustand, zu verkünden, wenn das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird. Vom Zettel las er die entsprechenden Passagen aus dem Grundgesetz vor.

Ja, den Kriegszustand ausrufen, das kann der Bundespräsident. Und Wulff habe das getan, suggerierte Harbusch, als er Diekmann auf die Mailbox sprach und sagte, man solle sich doch nach seiner Rückkehr nach Deutschland zusammensetzen — „und dann können wir entscheiden, wie wir den Krieg führen“.

Krieg! Er hat „Bild“ irgendwie den Krieg erklärt, was er als Bundespräsident, der ja sonst fast nichts kann, kann. So stellen es die preisgekrönten Redakteure der Zeitung noch heute dar.

Natürlich lässt sich der Wortlaut der Nachricht, den die „Bild“-Zeitung heute mit einem Mal vollständig veröffentlicht hat und von dem es inzwischen heißt, dass er gar nicht aggressiv-wütend, sondern im üblichen ruhigen Tonfall Wulffs vorgetragen wurde, auch ganz anders lesen. Nämlich so, dass Wulff das Gefühl hatte, dass „Bild“ ihm den Krieg erklärt hat.

Warum tat sie das überhaupt? Warum hörte sie scheinbar plötzlich damit auf, den Mann hochzuschreiben, und begann damit, ihn runterzuschreiben? Warum konfrontierte sie ihn mit unangenehmen Tatsachen anstatt sie, wie zuvor, schönzufärben?

Michael Götschenberg, der das MDR-Hörfunkstudio im ARD-Hauptstadtstudio leitet, hat darauf eine verblüffende Antwort. Für ihn markiert eine Afghanistan-Reise des Bundespräsidenten im Oktober 2011 den endgültigen Bruch der „Bild“-Zeitung mit Christian Wulff, die Änderung der Geschäftsbeziehung.

Eigentlich hätte Wulff schon im September 2011 nach Afghanistan reisen sollen. Begleiten sollten ihn nur fünf Journalisten: je ein Radio- und Fernsehreporter der ARD sowie drei Vertreter von Nachrichtenagenturen. Eine Auswahl unter Zeitungsjournalisten wollte das Bundespräsidialamt nicht treffen, um sich nicht den Zorn der nicht Erwählten zuzuziehen.

Aufgrund der angespannten Sicherheitslage wurde dieser Besuch jedoch im letzten Moment abgesagt. Solche Reisepläne werden üblicherweise bis zur Ankunft vor Ort streng geheim gehalten, und das Bundespräsidialamt versuchte auch zu verhindern, dass die kurzfristige Absage an die Öffentlichkeit kommt, weil Wulff die Reise schon bald nachholen sollte.

Als die „Bild“-Zeitung von der Absage erfuhr, bat das Präsidialamt, nicht darüber zu berichten. Präsidentensprecher Olaf Glaeseker bot dem Blatt einen Handel an: Als Gegenleistung für das Schweigen dürfe „Bild“ mitfahren, wenn Wulff die Reise nach Afghanistan nachhole.

Anstelle von „Bild“ machte aber dann der „Spiegel“ die abgesagte Reise öffentlich. Man kann sich vorstellen, dass die „Bild“ nicht glücklich war, die eigene Exklusivmeldung der Konkurrenz überlassen zu haben, aber immerhin gab es ja dafür das Versprechen, beim nächsten Anlauf mitzukommen.

Das Problem war — laut Götschenberg — nur, dass Gläseker sein Versprechen nicht mit den zuständigen Stellen im Bundespräsidialamt abgesprochen hatte, und als der nächste Reisetermin anstand, war er im Urlaub.

Als die Präsidentenmaschine in Kabul ohne einen „Bild“-Reporter landet, findet bei „Bild“ gerade eine Redaktionskonferenz statt. Als „Bild“-Chef Kai Diekmann sich erkundigt, wer mit in Afghanistan sei, bekommt er die Antwort: Von „Bild“ niemand. Diekmann, so berichtet ein Teilnehmer der Sitzung, habe daraufhin nur geschwiegen: „Nichts sagt so viel, wie wenn Diekmann schweigt.“

Diese Entscheidung, so sieht man es später im Bellevue, habe für „Bild“ das Fass zum Überlaufen gebracht. Nach einer langen Phase der Entfremdung zwischen dem ehemaligen „Bild“-Liebling Wulff und der „Bild“-Zeitung, die ihren Anfang nimmt, als Wulff Bundespräsident wird, sei mit der Afghanistanreise endgültig der Ofen aus gewesen, erklärt man sich im Bellevue den weiteren Lauf der Dinge.

So schildert es Götschenberg in seinem Buch „Der böse Wulff?“.

Ich weiß nicht, ob es so war. Aber es entspräche der Art, wie Kai Diekmann entscheidet, wer in seinem Blatt gut wegkommt und wer schlecht. Wichtig sind dabei allem Anschein nach weniger inhaltliche Positionen als ein schlichtes Freund/Feind-Denken. Wer mit „Bild“ kooperativ zusammenarbeitet und ihr gibt, was sie braucht, hat beste Chancen, von ihr gut behandelt zu werden, solange sich das für sie lohnt.

Die scheinbar so läppische vergeigte Sache mit der Afghanistan-Reise, der nicht eingehaltene Deal, das könnte aus „Bild“-Sicht wie das letzte, unmissverständliche Signal wirken, dass kein Verlass mehr darauf ist, dass Christian Wulff ihr gibt, was sie braucht. Und wenn er kein Freund mehr ist, ist er ein Feind. Und der berühmte Fahrstuhl-Schalter wird umgelegt.

Natürlich ist die Afghanistan-Geschichte, wenn sie stimmt, nur ein letzter Anlass, der Schlusspunkt einer Entwicklung, bei der das übliche Prinzip des Gebens und Nebens zwischen Wulff und der Zeitung aus Sicht von „Bild“ ohnehin immer schlechter funktioniert hatte. Götschenberg schreibt:

In den Wochen vor der Wahl zum Bundespräsidenten wahrt „Bild“ wohlwollende Neutralität, obwohl der Mainstream ganz klar zugunsten von Gauck verläuft. Man kann davon ausgehen, dass „Bild“ sich dafür eine Gegenleistung erwartet, vor allem in Gestalt von Exklusivgeschichten aus dem Bellevue. (…)

Doch je länger Wulff Bundespräsident ist, desto mehr reift in „Bild“ die Erkenntnis, dass der ehemalige Liebling die „Geschäftsbeziehung“ aus Hannover aufgekündigt hat. „Bild“ wartet vergeblich auf Exklusivgeschichten aus dem Schloss, selbst ein Interview bekommt die Zeitung nicht. (…) Wulff „liefert“ nicht: Letztlich ist er der Ansicht, dass Bundespräsident und „Bild“ nicht zusammenpassen. Umso intensiver beginnt man bei „Bild“ an einer Geschichte zu recherchieren, für die sich auch schon andere interessieren (…)

… die Geschichte des Hauskaufs in Großburgwedel.

Der „endgültige Bruch“ mit Springer, mit dem Wulff Diekmann auf dem Anrufbeantworter droht, er ist von der anderen Seite ohnehin längst vollzogen worden. In den Worten Götschenbergs:

Nachdem Wulff das Verhältnis zu „Bild“ still und leise aufgekündigt hat, tut „Bild“ das nun auch — nur nicht still und leise.

Kai Diekmann hatte in einem Kommentar geschrieben:

Wer den Fall und die Probleme des Bundespräsidenten jetzt zu einem Machtkampf zwischen dem ersten Mann im Staat und der größten Zeitung im Land aufpumpt, der geht wahrhaft völlig in die Irre.

Götschenberg urteilt:

Richtig ist zweifellos, dass die Krise um den Bundespräsidenten deutlich mehr ist als ein Machtkampf zwischen Diekmann und Wulff. Die Auseinandersetzung um die Mailbox-Nachricht macht allerdings sehr deutlich, dass sie das eben auch ist.

Wulff habe „Bild“ mit seiner Mailbox-Nachricht den „goldenen Dolch“ überreicht.

Götschenbergs Buch „Der böse Wulff?“ ist bereits Anfang 2013 erschienen. Für alle, die sich nicht nur auf die „Bild“- und „Spiegel“-Version der Geschichte verlassen wollen, ist es eine sehr empfehlenswerte Lektüre, weil Götschenberg sich große Mühe gibt, Christian Wulff und seiner Amtszeit gerecht zu werden. Er beschreibt nicht nur seine — zweifellos katastrophalen — Fehler, sondern auch die üblen Reflexe der Medien.

Nachtrag, 8:30 Uhr. Kai Diekmann twittert dazu: „Schöne Szene — leider falsch! Blick in Kalender: Wulff landet Sonntagfrüh in Kabul — BILD-Chef schläft aus, geniesst sunday at home!“

Zünglein an der Gage

Vielleicht hat Marco Angelini, der aus dem RTL-Dschungelcamp unbekannte österreichische Sänger, neulich hinter den Kulissen einer Wiedersehensshow seine Garderobe verwüstet. Vermutlich nicht.

Ist auch egal, werden Sie jetzt sagen. Egal.

Am Dienstag meldete „Bild“, dass Angelini „komplett“ ausgerastet sei. Mit „komplett“ ist gemeint:

DER ÖSI SOLL SEINE GARDEROBE VERWÜSTET HABEN!

Jaha, soll, Verzeihung: SOLL!

Für ein Blatt, dem es sonst wirklich nicht drauf ankommt, ob etwas stimmt, formuliert „Bild“ erstaunlich vorsichtig:

Dann stürmte ANGRYlini in seine Garderobe und soll seinem Frust freien Lauf gelassen haben — wie ein echter Rockstar. Tische und Stühle sollen geflogen sein, das Fenster der Garderobe ging wohl zu Bruch. Man spricht von 1000 bis 3500 Euro Schaden.

Es klingt nicht so, als ob „Bild“-Reporter Daniel Cremer selbst überzeugt wäre, dass das Fenster der Garderobe zu Bruch ging, oder jemanden gefunden hätte, der wüsste, was für ein Schaden dabei entstand. („Tja, keine Ahnung, was so ein Garderobenfenster kostet. Tausend Euro? Vielleicht auch das dreieinhalbfache, wasweißich.“)

Nun beschäftigt die „Bild“-Zeitung für solche Fälle jemanden, der sich vorstellen kann, wie etwas passiert ist, von dem man nicht einmal weiß, ob es passiert ist: Die Zeichnerin Silke Bachmann.

Wenn Sie einmal schauen mögen.

Das ist also offensichtlich ein Ikea-„Lack“-Tischchen, das da, öh, hm. (Nach meiner persönlichen Erfahrung wäre es in dieser Konstellation nicht das Fenster, das kaputt geht, aber gut.)

Soweit, so „Bild“.

Nun sagt RTL aber: „An der Verwüstungs-Geschichte ist nichts dran: Weder RTL, der Produktion, noch dem Studiobetreiber ist die angebliche Demolierung bekannt, die Garderobe ist völlig in Ordnung.“

Und verweist unter anderem auf einen Artikel der österreichischen Seite news.at, wo Angelini mit den Worten zitiert wird: „Das ist alles erstunken und erlogen, dafür habe ich Zeugen.“ Er kündigt an, rechtlich gegen „Bild“ vorzugehen, bzw. auf österreichisch: „Ich bin stinksauer. Das ist das erste Mal, dass ich ein Medium klagen werde.“

Nun dachten wir bei BILDblog (genauer: der Mats), fragen wir doch einfach mal direkt beim Management von Angelini nach, was denn da passiert ist und wie genau die rechtlichen Schritte sein sollen. Es handelt sich um die Berliner Firma 2DayRecords GmbH von Alexander J. Benz („Label Owner / Manager / Producer / Songwriter“).

Erst bekamen wir keine Antwort.

Dann doch:

Hallo Herr Schönauer,

dazu können wir uns nur gegen eine Gagenzahlung äußern.

Beste Grüße
Alexander

Ah. Tja, blöd.

Corinna Schumachers Bitte um Ruhe und die grenzenlose Ungemeintheit der Medien

Der „Spiegeltest“ ist bekanntlich ein psychologisches Experiment, mit dem die Selbstwahrnehmung von Menschen oder Tieren untersucht wird. Man konfrontiert ein Lebewesen mit seinem Spiegelbild und sucht nach Anzeichen, dass es sich selbst erkennt. Orang-Utans, Schimpansen und zweijährige Kleinkinder bestehen den Test in der Regel; Katzen, Hunde und Journalisten scheitern an ihm.

Am Dienstagvormittag hat die Frau des schwer verunglückten Michael Schumacher die Journalisten in einer Erklärung aufgefordert, die Klinik zu verlassen, damit die Ärzte dort in Ruhe arbeiten können. Corinna Schumacher appellierte an die Medien: „Bitte lassen Sie auch unsere Familie in Ruhe.“

(Die Nachrichtenagentur AFP hielt das für so brisant und dringlich, dass sie gleich eine Eilmeldung daraus machte: „Corinna Schumacher fordert Journalisten zum Verlassen der Klinik auf.“ Es ist die neunte Eilmeldung von AFP über Schumacher seit dessen Sturz vor zehn Tagen:

  • Schumacher erlitt schweres Schädel-Hirn-Trauma (Ski-Station)
  • Krankenhaus: Schumacher bei Einlieferung in Grenoble im Koma
  • Schumacher schwebt weiter in Lebensgefahr
  • Ärzte: Michael Schumacher nochmals operiert
  • Managerin: Schumachers Zustand über Nacht „stabil“ geblieben
  • Ermittlerkreise: Polizei beschlagnahmt Schumachers Helm-Kamera
  • SID: Schumacher zeigt leichte Zeichen der Besserung
  • Corinna Schumacher fordert Journalisten zum Verlassen der Klinik auf
  • Schumachers Helmkamera lief zum Unglückszeitpunkt

Vermutlich läuft AFP in diesen Tagen ein bizarres Agenturen-Wettrennen um die größte Zahl an Schumacher-„Eilmeldungen“.)

Jedenfalls beklagt sich Corinna Schumacher also öffentlich darüber, dass Journalisten das Krankenhaus belagern und ihre Familie belästigen. Wäre das nicht ein Moment für Medien, die diese Nachricht erhalten, sich kurz verwirrt umzuschauen und dann zu fragen: „Hö? Meint die uns?“

Aber nein. Weiß der Himmel, was das für Medien sind, die Frau Schumacher meint, schlimme, böse Medien, die ihre Familie nicht in Ruhe lassen, komm, wir machen schnell einen Artikel daraus und bebildern ihn mit einer Auswahl der vielen, vielen Fotos, die die Familie Schumacher beim Betreten des Krankenhauses heute, gestern, vorgestern zeigen und auf irgendeine Weise in unser Redaktionssystem gekommen sind. Ach guck mal, die Fotogalerie war schon vorbereitet? Und: veröffentlichen!

Nun verstehe ich grundsätzlich nicht, warum vermeintlich seriöse Agenturen Fotos davon machen, die die Angehörigen von Michael Schumacher beim Betreten oder Verlassen des Krankenhauses zeigen. Und ich verstehe nicht, warum vermeintlich seriöse Medien diese Fotos veröffentlichen.

Dass die Hyänen von „Bild“ das machen, klar. Aber haben wir als Öffentlichkeit wirklich einen Anspruch darauf, den Familienmitgliedern ins Gesicht zu sehen, wenn sie sich auf den Weg machen, ihren im Koma liegenden Angehörigen zu besuchen? Die Frage ist gar nicht so sehr, ob wir das dürfen. Wollen wir das? Wollen wir, dass die Frau und der Bruder und der Vater von Michael Schumacher jeden Tag durch einen dichten Pulk von Fotografen müssen, die sie bei diesem Gang ablichten?

Es scheint einen breiten Konsens in den Medien zu geben, dass wir das wollen und dürfen und dass Familie Schumacher das eben gefälligst aushalten muss.

Und nun kommt die Meldung, dass Frau Schumacher darum bittet, ihre Familie in Ruhe zu lassen. Wäre das nicht ein guter Moment zu sagen: Lass uns das nicht auch mit einer Klickstrecke mit Fotos von der nichtinruhegelassenen Familie bestücken, wenigstens diesen einen Artikel nicht?

Aber nein.

„Andere nahe Verwandte neben Schumachers Frau sind nach Grenoble gereist“, steht unter einem entsprechenden, nun ja: Schnappschuss in der entsprechenden eingebauten Bildergalerie bei „Spiegel Online“: „Sein Vater Rolf vor der Klinik, in der sein Sohn um sein Leben ringt.“ Davor in der Klickstrecke: Der Bruder, die Ehefrau. Darüber die Überschrift: „Michael Schumacher: Ehefrau bittet um Ruhe.“

Kein Objekt in dem Satz. „Uns“ hätte gepasst.

Natürlich kann man die Berichterstattung und ihre Grenzen nicht komplett von den Befindlichkeiten der Betroffenen abhängig machen. Womöglich kann man diskutieren, ob es ein berechtigtes öffentliches Interesse daran gibt, die Gesichter der im Krankenhaus ankommenden Familienangehörigen zu dokumentieren. Aber müsste man als Medium, bei dem jeder außer einem selbst merkt, dass man kein Unbeteiligter ist, diese Diskussion dann nicht auch führen? Und mindestens erklären, warum man der Meinung ist, dass Frau Schumachers Bitte leider nicht erfüllt werden kann? Oder warum man selbst und die eigene Berichterstattung mit der Bitte nicht gemeint sein kann, weil man sich keiner unzulässigen Belästigung bewusst ist?

Ja gut, dazu müsste man kommunizieren, das ist natürlich schwierig, so als Medium und als Journalist. Und vor allem müsste man sich angesprochen fühlen: Aber, Gott, was wissen wir denn schon, wer das da ist im Spiegel?

Wer wegen Blome den „Spiegel“ abbestellt, bekommt ihn umsonst

Gut einhundert Leser haben ihr „Spiegel“-Abo ausdrücklich wegen des Transfers von „Bild“-Mann Nikolaus Blome zum Nachrichtenmagazin gekündigt, die meisten davon langjährige Abonnenten. Der „Spiegel“ hat den meisten von ihnen angeboten, das Heft drei Monate lang kostenlos weiter zu beziehen, damit sie sich überzeugen können, dass sich mit Blome als neuem Mitglied der Chefredaktion und Leiter des Hauptstadtbüros nichts an der journalistischen Haltung des Blattes ändern werde.

Einhundert Abbestellungen sind nach Angaben des „Spiegel“ keine große Zahl: Kontroverse Titelgeschichten würden des öfteren größere Wellen auslösen, und im Vergleich mit den Kündigungen nach der Umstellung auf die neue deutsche Rechtschreibung sei die Zahl „verschwindend gering“.

Andererseits sind das natürlich Faktoren, die für die Leser des „Spiegel“ unmittelbar erkennbar oder sogar unübersehbar sind, während sie die Kontroverse um die Personalie des „Bild“-Mannes nicht unbedingt wahrgenommen haben müssen. Das macht die Zahl von einhundert Kündigungen, bei denen Blome explizit als Grund genannt wurde, dann doch relativ eindrucksvoll.

Dass Verlage versuchen, kündigungswillige Abonnenten mit sogenannten „Halterangeboten“ zu überreden, dem Medium doch noch länger treu zu bleiben, ist nicht ungewöhnlich und offenbar in allen Verlagen übliche Praxis. Sofern die Kunden Gründe mitteilen, versucht der Kundenservice, auf diese Gründe individuell einzugehen und ein passendes Angebot zu machen. Neue Abonnenten zu gewinnen, wäre im Zweifel deutlich teurer.

Diejenigen „Spiegel“-Leser, die sich auf das Angebot einlassen, dreizehn Ausgaben kostenlos geliefert zu bekommen, müssen dann allerdings ausdrücklich erneut kündigen. Sonst werden sie automatisch wieder zahlende Abonnenten — dann eines Nachrichtenmagazins, das maßgeblich von einem herausragenden Vertreter des „Bild“-Verständnisses von Journalismus verantwortet wird.

Wie die Banditen von Union und SPD die „Spiegel“-Leute ausplündern wollen

Der „Spiegel“ hat in dieser Woche also das gleiche Motiv auf dem Titel wie der „Focus“. Das ist peinlich — nicht für den „Focus“ — aber wenn die beiden deutschen Zeitschriften, die sich als Nachrichtenmagazine verstehen, denselben Gedanken haben, dann muss es wohl stimmen: Die Bundeskanzlerin und der Vorsitzende der SPD sind Banditen, die uns, notdürftig maskiert, ausrauben wollen.

(Der neue „Spiegel“-Chefredakteur Wolfgang Büchner hat auf Twitter sogar stolz noch einen weiteren Cover-Entwurf gezeigt, auf dem Angela Merkel und Sigmar Gabriel „uns“ mit vorgehaltener Waffe „ausplündern wollen“.)

Also: Wem soll da was weggenommen werden?

Der Kern der „Spiegel“-Geschichte ist, wenn ich es richtig verstehe, dass Finanzminister Wolfgang Schäuble seine Fachleute schon mal etwas durchrechnen lässt, was unter dem Codewort „Nord-Ost-Verschiebung“ läuft. Das Modell sieht vor, die sogenannte Reichensteuer für Einkommen ab 250.000 Euro bei Ledigen von 45 Prozent auf 46, 47 oder 48 Prozent zu erhöhen, dafür aber die Einkommensteuertarife so zu verschieben, dass die jeweiligen Sätze erst bei höheren Einkommen greifen.

Die Reichsten zahlen ein bisschen mehr, dafür wird der Effekt der „kalten Progression“ gemindert. Das heißt: Merkels und Gabriels Bankräuber-Forderung „Geld her!“ vom Cover richtet sich gar nicht gegen den durchschnittlichen Bürger oder Leser, sondern eher an den, sagen wir, „Spiegel“-Ressortleiter. Das räumt sogar die „Spiegel“-Geschichte ein:

der überwiegende Teil der Bürger [würde] sogar weniger Steuern zahlen.

Der „Spiegel“ geht entsprechend davon aus, dass der „uns“ ausplündernde Staat durch die Steuerreform weniger Steuern einnimmt und rechnet nun viele Zeilen lang vor, wie dieses Minus ausgeglichen werden könnte. Zum Beispiel durch einen „moderaten Anstieg“ des Spitzensteuersatzes von 42 auf 45 Prozent. Mit anderen Worten: Nicht nur der „Spiegel“-Ressortleiter, sondern auch der gewöhnliche „Spiegel“-Redakteur wäre im Visier der Beutezüge von Merkel und Gabriel.

Weil aber auch die Erlöse daraus nicht reichen, haben sich „die“ Politiker auf Bundes- und Landesebene angeblich „längst“ eine weitere Einnahmequelle „ausgesucht“: die Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge. Der „Spiegel“ schreibt:

Nun fordert die SPD, den Abgabesatz auf Zinsen und Kursgewine auf 32 Prozent zu erhöhen.

Das ist ein interessantes „Nun“. Es ist nicht, wie man beim flüchtigen „Spiegel“-Lesen denken könnte, ein überraschendes „Nun“ des maskierten Banditen Sigmar Gabriel. Die Forderung nach einer Erhöhung der Abgeltungssteuer findet sich schon im Wahlprogramm der SPD.

Bis hierhin ist deutlich mehr als die Hälfte der „Spiegel“-Geschichte vorbei, und wir sind immer noch bei einem plusminus Null bei den Einnahmen — mit einer stärkeren Belastung der Bestverdiener zugunsten der Mittelverdiener.

Nun muss also der Raubzug von Union und SPD beginnen, und er kommt — als Konjunktiv. Der „Spiegel“ rechnet Möglichkeiten vor, wie die Bundesländer an mehr Geld kommen „könnten“. Ein Szenario: „Der Solidaritätszuschlag könnte in den normalen Einkommensteuertarif integriert werden.“ Das würde, so der „Spiegel“, „die Bürger nichts kosten“. Na sowas.

Eine zweites Szenario, laut „Spiegel“: Die vielen Ausnahmen der Mehrwertsteuer abschaffen, „ein bürokratisches Monstrum“, wie der „Spiegel“ selbst schreibt. „Wechselt ein Maulesel den Besitzer, werden nicht einmal halb so hohe Abgaben fällig wie beim Kauf eines Hausesels.“ Eine Reform wäre also ein echter Schlag für die Maulesel-Import-Export-Branche.

Weil das aber auch nur ein paar Milliarden brächte, werden CDU/CSU und SPD wohl einfach die Mehrwertsteuer erhöhen, schreibt der „Spiegel“. Quelle: Das „prophezeien bereits einige“. Na dann.

Später schockiert das Blatt die Leser, die ihm aus schwer nachvollziehbaren Gründen bis hierhin gefolgt sind, mit der Information, dass die beiden größeren Parteien die Leistungen für Demenzkranke verbessern und die Altersversorgung langjährig Versicherter aufbessern wollen. Es stellt sich die Frage, ob das Skandalöse dieser — im Wahlkampf angekündigten — Pläne wirklich durch Politiker als maskierte Räuber angemessen drastisch dargestellt wurde oder nicht mindestens eine Parallele zu Mördern oder Amokläufern hätte gezogen werden sollen.

Der „Spiegel“ behauptet:

Es ist ein trauriger Rekord: Noch bevor sich die neuen Koalitionäre zum ersten Mal getroffen haben, ist der Ruf des Bündnisses bereits lädiert, und die Bürger rechnen schon mal nach, wie viel sie das Wahlergebnis kosten könnte.

Ich vermute, die Autoren glauben das wirklich — tatsächlich gab es ja zwischen allen Bürgern auf dem Flur des Ressorts eine verblüffende Übereinstimmung in dieser Frage.

Vor zwei Wochen hat der „Spiegel“ in einer besinnunsglosen Tirade denjenigen, die es wagen, nicht wählen zu gehen und sich womöglich dafür nicht einmal schämen, vorgeworfen, die Demokratie zu gefährden. Der „Spiegel“ hingegen gefährdet nicht die Demokratie — dieser Satz gilt völlig unabhängig davon, was der „Spiegel“ gerade macht, und sei es, Politiker noch vor dem ersten Sondierungstreffen einer möglichen Koalition schon einmal als Wahlbetrüger und Räuber darzustellen.

Die Versprechungen prominenter Unionspolitiker, unter keinen Umständen die Steuern zu erhöhen, hat der „Spiegel“ jetzt schon einmal sicherheitshalber in Stein meißeln lassen. Ach nee, das war die „Bild“-Zeitung. Man kommt so leicht durcheinander dieser Tage.

Veggie Day: Wie man aus alten Fleischabfällen der „Bild“-Zeitung Nachrichten macht

Seit mehr als drei Jahren unterstützen die Grünen Vorstöße zur Einführung eines „Veggie Days“ — einen Tag in der Woche, in dem es in Kantinen kein Fleisch gibt. Es gibt dazu diverse Fraktionsentscheidungen und Positionspapiere, Beschlüsse der Bundesdelegiertenkonferenzen 2010 und 2013. Der Wunsch findet sich im Wahlprogramm der Grünen, das im April beschlossen wurde:

Öffentliche Kantinen sollen Vorreiterfunktionen übernehmen. Angebote von vegetarischen und veganen Gerichten und ein „Veggie Day“ sollen zum Standard werden. Wir wollen ein Label für vegetarische und vegane Produkte.

Gestern hat die „Bild“-Zeitung das bemerkt. Und daraus eine typische, eine typisch falsche Überschrift gemacht:

Na gut. So macht die „Bild“-Zeitung halt Schlagzeilen und Politik.

Die „Nachrichten“-Agentur dpa bringt eilig eine Meldung zum Thema. Darin heißt es erstaunlicherweise nicht: „‚Bild‘-Zeitung skandalisiert mit Jahren Verspätung längst bekannte Position der Grünen zum fleischlosen Tag in deutschen Kantinen“, was eine treffende Beschreibung der Neuigkeit wäre.

Stattdessen meldet dpa schon um kurz nach Mitternacht:

Künast will Veggie-Tag in Kantinen

Berlin (dpa) — Die Grünen wollen nach der Bundestagswahl einen fleischlosen Tag in Kantinen einführen. Wie die „Bild“-Zeitung (Montag) berichtet, soll an dem sogenannten Veggie Day einmal in der Woche ausschließlich vegetarisch und vegan gekocht werden.

Mit sieben Stunden (bzw. drei Jahren) Verspätung zieht AFP nach und meldet um 7:11 Uhr:

Grüne wollen fleischlosen Tag in deutschen Kantinen einführen

Die Nachricht beruht vollständig auf dem Inhalt des „Bild“-Zeitungs-Artikels.

Um 12:21 Uhr kann AFP etwas Neues vermelden: Den Inhalt der „Bild“-Zeitung von morgen.

Berlin, 5. August (AFP) – Der Grünen-Vorschlag zur Einführung eines „Veggie Days“ in öffentlichen Kantinen kommt in der FDP nicht gut an: „Was kommt als nächstes: Jute-Day, Bike-Day, Green-Shirt-Day?“, kritisierte FDP-Spitzenkandidat Rainer Brüderle in der „Bild“-Zeitung (Dienstagsausgabe).

Eine Dreiviertelstunde später liefert AFP einen Hintergrund samt Infografik: „Der Verzicht auf Fleisch hat verschiedene Spielarten — Flexitarier und Vegetarier in Deutschland auf dem Vormarsch“.

13:10 Uhr. dpa fasst die Berichte der „Bild“-Zeitung von heute und morgen sowie weitere Wortmeldungen von Politikern zusammen:

Bundesregierung und FDP warfen den Grünen Bevormundung der Bürger vor. Damit ist das Reizthema Ernährung im Bundestagswahlkampf angekommen.

(Die Frage, wo es vorher war und was es aufgehalten hat, beantwortet dpa nicht.)

Bis 15:54 Uhr dauert es, bis es der Agentur gelingt, ihren Kunden Fragen & Antworten unter der Überschrift „Es geht um die Wurst“ anzubieten.

Andere Online-Medien sind inzwischen auch selbst in die „Bild“-Berichterstattung-Berichterstattung eingestiegen und halten sich dabei überwiegend an die alte „Der Preis ist heiß“-Regel: „Aber nicht überbieten!“

Der „Münchner Merkur“ hat einige relevante Wortmeldungen seiner Kommentatoren zum Thema ausgewählt und zusammengestellt. Einer spricht von „Zwangsernährung“. Ein anderer, der sich „Gesetzloser“ nennt, schreibt vom „Dogmatismus der Ernährungsreligiösen und selbsternannten Bessermenschen“ und meint: „Was du freiwillig isst oder nicht isst, ist deine Privatangelegenheit.“

Die „WAZ“ diskutiert gleich selbst in einem Pro & Contra ungefähr auf diesem Niveau.

n-tv.de stellt der Grünen-Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke treudoof die Frage, ob der „Vorstoß von Renate Künast abgesprochen“ gewesen sei. (Der Vorstoß, der, wie gesagt, im Wahlprogramm steht und jahrealten Beschlüssen der Partei entspricht.)

Die „Neue Westfälische“ informiert die Öffentlichkeit in einer Pressemitteilung darüber, dass in ihrer morgigen Ausgabe stehen werde, dass CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe die Grünen-Forderung überraschend doof findet und sich mit den Worten zitieren lässt: „Der abstruse Vorschlag von Frau Künast ist ein weiterer Baustein für die grüne Bundes-Verbots-Republik: Jetzt wollen uns Trittin, Roth & Co. auch noch vorschreiben, was wir wann essen dürfen. Die CDU lehnt diese Bevormundungspolitik entschieden ab.“

Und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schäumt in einem Kommentar: „Ein Veggie Day wäre unverschämt“ — und spricht, ganz im Sinne der „Bild“-Schlagzeile, mit der alles begann, von einem „staatlichen Fleischverbot“.

Und ich frage mich:

Wenn die Anregung der Grünen, fleischfreie Tage in Kantinen einzuführen, so ein Aufregerthema ist — warum hat es dann niemand vorher in den Beschlüssen von Partei und Bundestagsfraktion entdeckt?

Kann ich davon ausgehen, dass in den Redaktionen der Nachrichtenmedien die Wahlprogramme der Parteien nicht gelesen werden?

Oder, wenn sie doch gelesen werden und die Redaktionen den Grünen-Vorschlag nur nicht so spektakulär und skandalös fanden: Warum ändern die Medien dann plötzlich ihre Einschätzung, nur weil die „Bild“-Zeitung anderer Meinung ist?

Für die „Nachrichten“-Agentur dpa ist eine Meldung, was die „Bild“-Zeitung zur Meldung macht. Die Redaktionen des Landes haben die Entscheidung über das, was eine Neuigkeit darstellt und was einen Nachrichtenwert hat, weitgehend an die „Bild“-Redaktion outgesourct. Sie trotten treuherzig hinterher und versuchen bestenfalls die Wellen zu reiten, die „Bild“ produziert.

Im Ergebnis bestimmt das Blatt nicht nur, worüber „ganz Deutschland“ diskutiert, sondern auch auf welchem Niveau. Konkret auf dem Die-Grünen-wollen-uns-das-Fleisch-verbieten-Niveau.

Ich weiß, dass nichts daran neu ist. Das macht es nur kein Stück erträglicher.

Nachtrag, 18:45 Uhr. Auch „Zeit Online“ hat die Geschichte hinter der Hysterie aufgeschrieben.

Post von Wagner

— von Jens Oliver Haas, z. Zt. Australien* —

Berlin, 16.15 Uhr: Franz Josef Wagner wirkt erfrischt, nach fünf Stunden komatösem Schlaf. Das Sodbrennen ist heute mal erträglich, und die Stimmen im Kopf schweigen noch. Er lächelt. Sein Arzt hat ihm gesagt, dass er wohl bald eine neue Niere braucht — aber bis dahin funktioniert der Aquarien-Feinfilter von OBI sehr gut.

Beschwingt öffnet sich Wagner eine gute Flasche französischen Landwein. Ein feines Tröpfchen von 2011, gute Lage, nicht zu viel Tannin. Vorsichtig gießt er das Weißbierglas voll und setzt sich an die Schreibmaschine.

Liebe Annette Schavan! Es ist mir peinlich, Sie wegen des angeblichen Doktorklaus anzusprechen. Es ist, wie wenn man eine liebe, nette, ältere Dame an der Kasse bei Lidl verdächtigt.

Na, das ist ihm doch schon mal gut gelungen. Grinsend greift Wagner nach rechts und ins Leere. Nanu? Wann hat er denn das Weißbierglas zerschlagen. Und wo ist der gute Landwein? Und warum ist er nackt und riecht so komisch? Und warum ist es schon dunkel?

Fahrig greift Wagner nach dem Tetrapak mit billigem, italienischen Traubenurin und lässt sich die Plörre in den Hals laufen. Er hat schon mit 17 gelernt, den Schluckreflex zu unterdrücken — das kommt ihm jetzt zugute. Beim Absetzen schneidet er sich leicht an den zerbissenen Kanten des Tetrapaks. Irgendwann muss er sich eine neue Schere kaufen — auch wenn sie sie ihm sowieso sofort wieder weg nehmen. Da war doch was? Ach, richtig: Der Brief!

Mühsam fokussiert Wagner auf das Blatt… Wer hat denn den Mist geschrieben? Wer ist Schavan? Und wer ist dieser Doktor Klaus? Der Pfuscher, der ihm den Aquarienfilter eingesetzt hat? Die Schmerzen sind mörderisch. Konzentrier dich! Du kannt es doch, Hans-Jürgen! Ähhh… Franz Josef…

Sie haben ein wunderbares, unverheiratetes Lehrerinnengesicht. Ihre Frisur ist bubihaft. So kämmten sich Frauen vor 30 Jahren. Sie sind wie eine Cousine, die keinen Mann bekommen hat.

Wagner bricht weinend über der Maschine zusammen und staucht sich eine Rippe an der leeren Scharlachberg-Flasche. Er wirft sie zu den anderen. Alles kommt wieder hoch… die Familienfeier vor 30 Jahren… die unverheiratete Cousine mit dem Bubi-Kopf… der Apfelkorn… das Kind mit seinem Gesicht… die Schande.

Er schickt den Nachbarsjungen zu Lidl, zwei neue Flaschen Queen-Margot-Whisky kaufen. Warum kann er sich nur diesen Namen merken? Es gibt so gute Sachen da… zum Beispiel diesen einen Cognac… oder den mit dem Wildschwein… aber er kommt nur auf Queen Margot.

Endlich kommt der Junge wieder. Die Tür ist blockiert… Wo kommt dieses Fässchen her? Wirf das Ding doch einfach durch die Scheibe! Wagner schneidet sich an einer Scherbe — aber Queen Margot streichelt ihm sanft die Schmerzen weg.

Um 23 Uhr kommt die korsische Putzfrau. Sie wischt die Kotze weg und bringt die Flaschen zum Container. Es ist nicht weit, Wagner hat ja seit 2003 einen eigenen im Hof.

Sie rollt Wagner ins Badezimmer und kärchert ihn ab, bevor sie den Notarzt ruft. Dann schreibt sie, wie immer, schnell die Kolumne zu Ende. Sie kann nur wenig Deutsch, aber dafür reicht es immer.

Ein paar Kolumnen hat sie ja auch schon komplett selbst geschrieben und es hat keiner gemerkt. Man muss nur einfach das aufschreiben, was man beim Einkaufen zuletzt gehört hat. Und vielleicht noch ein paar Sätze aus der Zeitung auf der Treppe. Wenn es zu lang wird, streicht der Drucker einfach was weg.

Wahrscheinlich essen Sie gerne Ziegenkäse.

Ich glaube nicht, dass Sie eine Betrügerin sind.

Wissenschaftler müssten untersuchen, ob ein Doktortitel ein Ersatz für Liebe ist.

Fuchs auf Schwanenjagd in Kanal erfroren.

Melanie mag ihren Popo.

Herzlichst, Ihr F. J. Wagner

*) Jens Oliver Haas ist einer der beiden Moderations-Autoren der RTL-Show „Ich bin ein Star — holt mich hier raus“, was offenbar kein tagesfüllender Job ist. Der Text stammt von seiner Facebookseite. Veröffentlichung hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.