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„Bild“ erliegt der „dunklen Faszination“ der IS-Bilder

ISIS zieht seine Kraft, seine dunkle Faszination daraus, seine Kämpfer in Momenten brutaler Allmacht – bei Hinrichtungen und Massakern – zu zeigen, die Bilder junger, triumphierender Männer in den sozialen Netzwerken um die Welt zu schicken.

Das schreibt Julian Reichelt, der Chefredakteur von Bild.de in seinem Newsletter „Meine Top 7 des Tages“, aber es ist trotzdem nicht falsch. Die Inszenierungen der brutalen Gewalt, die teils höchst professionell produzierten Videos, in denen die Terroristen ihre Skrupellosigkeit und Grausamkeit in Szene setzen, sind ein wichtiger Teil der Propaganda-Strategie des IS. Das ist vielfach beschrieben und fast banal.

Nicht so banal ist die Antwort auf die Frage, was das für unseren Umgang mit diesem Propagandamaterial bedeutet. Wenn Journalisten, die diese Bilder zeigen, um über die Taten der Terroristen zu informieren, aber auch zu zeigen, wie grausam sie sind, damit bei einem Teil des Publikums womöglich nicht Abscheu und Entsetzen auslösen, sondern Bewunderung. Wenn Medien dadurch, dass sie die Propaganda der Terroristen zeigen, selbst zu Werkzeugen dieser Propaganda werden.

Friedemann Karig hat darüber Anfang des Jahres bei „Krautreporter“ geschrieben, über das Paradox, in das der Terror die Massenmedien stürzt: „Er zwingt sie, sich entweder zu zensieren oder zu pervertieren.“ Er zitierte Claus Klebers „heute journal“-Moderation:

„Heute veröffentlichte die Terrorgruppe Islamischer Staat ein Video wohl von der Enthauptung eines zweiten amerikanischen Journalisten, den sie in Geiselhaft hatten. Damit ist zu den Fakten alles gesagt. Wir sehen dieses Mal keinen journalistischen Grund, Ihnen auch noch Bilder dazu zu zeigen.“

Ich habe in der FAS im Februar ebenfalls über das Dilemma geschrieben, am Beispiel des IS-Videos von der Verbrennung des jordanischen Piloten Muaz al-Kasasbeh, in dem einzelne Momente als Standbilder hervorgehoben wurden:

Es sind perfekt komponierte Fotos, die die Machtlosigkeit des Opfers und die Überlegenheit der Täter in einprägsamen Bildern symbolisieren. Es sind genau die starken Bilder, die Medien zeigen wollen und die die Terroristen zeigen wollen, und es ist schwer für die Redaktionen, sich aus dieser Logik zu befreien. Es erfordert ein bewusstes Zurücktreten und Zweifeln an den sonst bewährten journalistischen Routinen – die etwa dazu führen, Superlative zu suchen und zu finden und die neue Mordmethode als „noch grausamer“ oder „bisher brutalste“ zu würdigen.

Der „Bild“-Zeitung ist dieses bewusste Zurücktreten und Zweifeln naturgemäß fremd. Sie zelebriert jede neue Gräueltat, jedes besonders abscheuliche Video, nicht nur in großen Buchstaben, sondern auch in großen Bildern und ausführlichen Videosequenzen. Sie berichtet nicht nur, was ISIS tut, sie zeigt es auch – naturgemäß zum ganz überwiegenden Teil mit den Aufnahmen, die der IS selbst davon angefertigt hat, genau zu dem Zweck, dass sie größte weltweite Verbreitung finden.

Dass es ein Unterschied ist, ob man über die Taten des IS nur berichtet oder ob man es mit den IS-Bildern ausführlich und in größter Aufmachung zeigt, weiß niemand besser als die „Bild“-Zeitung selbst, die einen fast mythischen Glauben an die Kraft von Bildern pflegt und meint, man könne zum Beispiel die Taten von Tätern gar nicht verstehen, wenn man nicht in ihr Gesicht sehen kann.

Die „Bild“-Leute wissen, wie mächtig Bilder sind. Die ISIS-Terroristen wissen es auch. Und die „Bild“-Leute wissen, dass die ISIS-Terroristen es wissen. Das ändert aber nix.

Noch einmal Julian Reichelts Zitat:

ISIS zieht seine Kraft, seine dunkle Faszination daraus, seine Kämpfer in Momenten brutaler Allmacht – bei Hinrichtungen und Massakern – zu zeigen, die Bilder junger, triumphierender Männer in den sozialen Netzwerken um die Welt zu schicken.

„Kämpfer in Momenten brutaler Allmacht“? „Bilder junger, triumphierender Männer“? So etwa?

Wenn der IS ein Werbebanner gestaltet hätte, es hätte vermutlich kaum anders ausgesehen und der Slogan ähnlich gelautet („Jetzt auch auf deutsch!“).

Immer wieder verbreitet „Bild“ die Botschaften der Terroristen in dieser und ähnlicher Weise.

Aus einem IS-Propaganda-Film, der zeigt, wie ein Kind zwei vor ihm auf dem Boden kniende Männer erschießt, hat „Bild“ in seiner eigenen Version zwar die Bilder, in denen die Schüsse fallen, durch Schwarzblenden ersetzt. Aber „Bild“ zeigt die Augenblicke davor, die Machtpose des bewaffneten IS-Kämpfers, die gesenkten Köpfe der Gefangenen kurz vor ihrem Tod, das triumphierende Kind, die auf englisch übersetzten Schwüre der Terroristen.

Was passiert nun, wenn man „Bild“ auf diesen Widerspruch hinweist – zwischen der Erkenntnis, dass der IS seine Kraft, seine „dunkle Faszination“ (offenkundig auch für dafür empfängliche junge Leute im Westen) aus seinen Inszenierungen bezieht, und der Tatsache, dass „Bild“ selbst diese Propagandabildern verbreitet? Dies:

(BILDblog hat versehentlich den Text aus dem „Bild“-„Top 7“-Newsletter von Julian Reichelt dem „Bild“-Politik-Newsletter von Béla Anda zugeordnet.)

Spätestens an dieser Stelle konnte man den Versuch, über ein tatsächliches Mediendilemma mit dem „Bild“-Politik-Chef zu diskutieren, wohl als gescheitert ansehen.

Auch Julian Reichelt schaltete sich ein. Er bezeichnete die BILDblogger nicht als „gestört“, aber als Terroristenfreunde. Vor ein paar Tagen, als BILDblog kritisierte, dass sich „Bild“ im IS-Prozess nicht an die Vorgaben des Celler Gerichtes hielt, die Angeklagten nur verpixelt zu zeigen, hatte er den Kollegen schon „Mitgefühl für Mörderbanden“ unterstellt. Nun prophezeite er:

Béla Anda hält es für irgendwie mutig, möglichst viel von dem IS-Propagandamaterial zu zeigen. Wer dafür plädiert, sich damit zurückzuhalten, gerade weil es im Interesse der Terroristen ist, wird von ihm als feiger Terroristenversteher verunglimpft.

Julian Reichelt ist der Gedanke einer medienethischen Diskussion offenkundig so fremd, dass er sie nur als ideologisch motivierten Streit wahrnehmen kann. Wer die „Bild“-Zeitung für ihre Berichterstattung über Terroristen kritisiert, muss ein Sympathisant von Terroristen sein. Es ist die Argumentationsweise eines Fanatikers.

Dadurch, dass die „Bild“-Zeitung in großem Umfang IS-Bilder zeigt, kann sie sich als besonders entschlossener Kämpfer gegen die Terroristen darstellen und fühlen. Und von der Attraktivität des schrecklichen Materials profitiert sie sicher auch bei den Klickzahlen. Den Gedanken, ob sie sich damit vielleicht ungewollt zum Handlanger der Terroristen macht, vertreibt sie durch wildes Um-sich-Schlagen.

Bleibt also alles, wie es ist: Die Terroristen von IS werden weiter Propagandavideos von ihren Gräueltaten produzieren und im Zweifel versuchen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit durch immer noch brutalere und perversere Bilder zu behalten. Die „Bild“-Zeitung wird diese Bilder besinnungslos groß in Szene setzen. Und wer das kritisiert, wird von den selbstblinden „Bild“-Verantwortlichen als „gestört“ oder Terroristenfreund bezeichnet.

Nachtrag, 19:50 Uhr: Die österreichische Ausgabe der „Neuen Zürcher Zeitung“, nzz.at, kritisiert im selben Zusammenhang unter anderem die „Kronen“-Zeitung und schreibt:

Alles in allem war es wohl ein guter Tag für Mohamed Mahmoud [einen der beiden Mörder in dem aktuellen IS-Video]. Er hat seine Propaganda nach Österreich und Deutschland getragen. Er hat für Unruhe gesorgt, seine Botschaften standen in jeder Zeitung des Landes, liefen im Radio, im Fernsehen.

Genau das ist sein Job in der Gruppe Islamischer Staat. Die straff organisierte Miliz versucht, gezielt über die sogenannten „Foreign Fighters“ in ihren Reihen, einzelne Länder in ihren Kampf hineinzuziehen. Ein Engländer für England, ein Österreicher für Österreich. Dafür brauchen sie Medien, die ihre Propaganda möglichst aufgeregt, schrill und unbedacht weitertragen, damit auch jeder Angst vor den „Löwen des Islams“ hat.

Schock: Griechenlands Radikalos-Naked-Bike-Rider-Regierung hält Frist ein!

Am vergangenen Freitag haben sich die Finanzminister der Euro-Staaten darauf verständigt, dass die griechische Regierung für eine Verlängerung der Finanzhilfen am Montag eine Liste mit „Reformmaßnahmen“ vorlegen muss. Am Montag, um kurz vor Mitternacht, hat die griechische Regierung diese Liste offiziell bei der EU eingereicht.

Es ist also, sollte man meinen, nichts Besonderes passiert. Eine Ankündigung ist umgesetzt worden. Eine Frist ist eingehalten worden.

Die deutschen Medien aber haben die vergangenen Tage dazu genutzt, aufgeregt über das Ankunftsdatum dieser Liste zu spekulieren. Sie haben, befeuert durch Falschmeldungen, einen abenteuerlichen Wettlauf inszeniert. Aus der komplexen Frage, wie die Krise in Griechenland gelöst werden kann, machten sie die einfache Frage, wann ein „Brief“ in Brüssel eintrifft.

Selbst die hat sie überfordert. Insbesondere natürlich die griechenfeindliche „Bild“-Zeitung und einen ihrer verantwortlichen Brandstifter, Béla Anda.

Morgens früh verschickt Anda immer sein kostenloses „Politik-Briefing“ an jeden, der es haben will. Es reichert die regulären Politik-Artikel aus der Zeitung, die das Blatt auf diese Weise verschenkt, mit einer Extra-Portion Hass und Dummheit an.

Gestern, am Montag also, schrieb Anda darin:

Griechenland hat nach eigenen Angaben die Liste mit Spar- und Reformvorschlägen bereits fertiggestellt und abgeschickt (…).

Diesem Gerücht hatte der griechische Finanzminister um diese Zeit längst widersprochen. Er twitterte:

Our reform list is almost ready. But rumours that we have dispatched it already to the Commission are false.

Ralf Schuler schrieb im „Bild“-Leitartikel am selben Tag, dass Eile in diesem Fall keine gute Idee sei: Die neuen Reformpläne müssten gründlichst geprüfen werden –

auch wenn es Wochen dauert. Zeitdruck darf es nicht geben. (…)

Diesmal gilt die alte Weisheit „Zeit ist Geld“ nicht — denn es ist unser Geld.

Das galt gestern Abend plötzlich nicht mehr, als „Bild“ meinte, dass Griechenland seine finale Liste nun doch erst am Dienstag vorlegen werde. Auf Bild.de hieß es nun vorwurfsvoll:

Sie halten hin, zögern hinaus, tüfteln bis zur letzten Minute… (…)

Am Montagmittag hieß es: Bis Mitternacht!

Doch die Griechen nehmen sich noch mehr Zeit – Zeit, die kein anderer hat.

Heute früh schreibt Béla Anda in seinem „Briefing“ entsprechend gehässig:

Eulen nach Athen zu tragen ist offenkundig doch sinnvoller als auf Spar- und Reformvorschläge aus Athen zu warten: Denn zunächst wollte Griechenlands Radikalo-Naked-Bike-Rider, Finanzminister Varoufakis, das für eine weitere Milliardenspritze aus Brüssel unabdingbare Reformpapier bereits letzten Sonntag übersenden, dann am Montag, schließlich heute – und damit nur wenige Stunden, bevor die Finanzminister der Euro-Gruppe sich um 14 Uhr zusammenschalten wollen, um die griechischen Vorschläge gutzuheißen. Das Problem von Varoufakis ist, dass man ihm als Experte für Spieltheorie mittlerweile jede Tat als Taktik auslegt, selbst wenn seine Mitarbeiter mit Erstellen des Schriftsatzes schlicht nicht fertig geworden sind.

Nun, wie gesagt: Sie sind fertig geworden. Die fertige Liste ist am Montag, wie versprochen, abgegeben worden — gegen 23:15 Uhr ist sie laut Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem fristgerecht in Brüssel eingegangen.

Als Anda am Montag schrieb, dass die Liste bereits am Sonntag abgegeben worden sei, war das falsch. Als er am Dienstag überraschend schrieb, dass sie noch immer nicht abgegeben worden sei, war das falsch. Aus der Realität haben sich diese Leute längst verabschiedet. So lässt es sich aber auch viel unbeschwerter gegen Griechenland und die Griechen hetzen.

Und das ist weiterhin oberste „Bild“-Zeitungs-Pflicht. Nach Jahren, in denen das Blatt die Griechen immer als „Pleite-Griechen“ diffamiert hat, haben sich Anda und seine Leute neue Begriffe der Verachtung ausgedacht. Vor ein paar Tagen begann das Blatt damit, die Griechen, die aufgrund der Sparvorgaben massenhaft in die Armut getrieben wurden, als „Raffke-Griechen“ und „Griechen-Raffkes“ zu bezeichnen. Finanzminister Varoufakis wurde zum „Raffke-Minister“.

Anda nennt die Regierung immer und immer und immer wieder die „Radikalos-Regierung“, und man kann sich leicht vorstellen, wie er sich jedes und jedes und jedes Mal wieder freut über dieses Wort.

Das „Radikalos“-Image der griechischen Regierung wird für ihn dadurch verstärkt, dass Varoufakis etwas für Béla Anda Unerhörtes tut: Er fährt Motorrad. Eine 1300er-Yamaha (oder wie „Bild“ und Anda sie nennen: Kawasaki).

Es handelt sich um ein so genanntes „Naked Bike“ – ein Begriff, der aufregendste Assoziationen im Kopf von Béla Anda wecken muss. Vielleicht erklärt ihm jemand, dass das einfach nur die Bezeichnung für ein Motorrad ohne Verkleidung ist, wie es früher fast alle Motorräder waren, aber vielleicht lässt man ihm auch einfach all die Rocker- und Sex-Assoziationen, damit er weiterhin aufgeregt in seinem Newsletter Formulierungen wie „Griechenlands Radikalo-Naked-Bike-Rider“ benutzen oder Sätze wie diese schreiben kann:

Wie lederbejackte Rüpel-Rocker röhren Griechenlands Neo-Premier und sein Posterboy-Finanzminister seit ihrem mit platten Parolen erzielten Wahlsieg durch Brüssel. Ihr Gesetz ist die Straße. Hier sind sie (politisch) groß geworden. Hier ist ihre Hood. Deren Unterstützung wollen die Kawa-Naked-Biker (zumindest Varoufakis hat eine) nicht verlieren.

Aber die neue griechische Regierung tut noch Schlimmeres als Motorräder ohne Verkleidung zu fahren.

Schlimm ist Tsipra’s Versprechen an das griechische Volk, es bleibe sein „einziger Verbündeter, Unterstützer und Richter“. Das bedeutet, dass Tsipras sein politisches Schicksal von der Dauerzustimmung seiner Wähler abhängig macht. Die Folge kann nur eine Politik des puren Populismus sein. Und die ist nie gut.

Ich habe das Tsipras-Zitat jetzt nicht gefunden*, aber wenn Anda das schreibt, wird Tispras das ja sicher so gesagt haben.

Jedenfalls: krass. Ein Regierungsschef, der geradezu schwört, seine Kraft dem Wohle seines Volkes zu widmen. Und der sein politisches Schicksal von der Zustimmung der Wähler abhängig macht. Das muss ja böse enden.

*) Nachtrag, 11:35 Uhr. Das Tsipras-Zitat stammt aus seiner Fernsehansprache am Samstag. Es lautet in der englischen Übersetzung:

In this continuous and difficult battle, in this essential negotiation which is expected in June, the Greek government will march on with even more decisiveness. Always aiming at the restoration of our national and popular sovereignty and with the Greek people as our sole ally, supporter, but also strict judge.

Ein Sieg der Möglichkeiten

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Der Erfolg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest macht es für alle, die anders sind als die anderen, ein kleines bisschen leichter und den Gegnern von Freiheit und Vielfalt schwerer.

Das Gefühl kommt von ganz innen und es ist so stark, dass es sich in einem körperlichen Abwehrreflex äußert. Würgen muss der Publizist Jürgen Elsässer, wenn er Conchita Wurst sieht. Ekel nennt er das, was er empfindet. Und selbst, wenn er wollte, schreibt er, könnte er nichts dagegen tun: „Bei Conchita Wurst wirken bei mir nicht nur politische Abwehrreflexe, sondern meine jahrmillionenalte DNS rebelliert.“

Irgendwelche Ur-Ängste muss der Anblick dieser bärtigen Frauengestalt bei Elsässer auslösen; irgendetwas in seiner Veranlagung, das von Jahrhunderten der Evolution, der Aufklärung, der Zivilisation unbeeinflusst blieb, schlägt Alarm. Das Gute an Leuten wie ihm ist, dass sie ihre Homophobie nicht verbrämen, dass sie nicht herumdrucksen wie andere, denen es womöglich ähnlich geht, sondern ihre Ablehnung in schärfster, fundamentaler Klarheit formulieren. Da weiß man, woran man ist.

Aber die Zeiten haben sich geändert, das hat der Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest gezeigt. Der Ekel von Elsässer und seinen Leidensgenossen, er führt nicht mehr zu der Frage, wie krank so ein Geschöpf wie Conchita Wurst ist. Sondern zu der Frage, wie krank diejenigen sind, die sich so sehr davor ekeln. Was ihnen fehlt, dass sie es nicht schaffen, den Moment der Verstörung zu überwinden, den der Anblick einer bärtigen Frau auslöst, und die Verwirrung, dass diese Frau auch noch ein Mann ist, und sich mit nüchterner Rationalität zu fragen, was genau daran so furchteinflößend, so bedrohlich, so eklig sein soll. Warum sie glauben, dass man Kinder vor diesem Anblick schützen müsse. Welche Streiche ihre Fantasie ihnen spielt, wenn sie im Auftritt einer Drag Queen im langen, eleganten Kleid eine Art perversen Porno sehen.

„Die tut euch doch nichts“, möchte man ihnen zurufen und sie in den Arm nehmen (wenn die Vorstellung nicht auch ein ganz bisschen abstoßend wäre). Aber das würden sie eh nicht glauben. Sie sehen den Sieg von Conchita Wurst als Teil einer gigantischen Verschwörung zur Gehirnwäsche der Menschen. Der überall Verschwörungen witternde Journalist Gerhard Wisnewski
sieht in der Figur den „bisherigen Gipfel eines Umerziehungsprogramms“, den „Höhepunkt der psychologischen Kriegführung gegen das normale menschliche Empfinden und die schöpferische Ordnung von Mann und Frau.“

Sie tun so, hätte Tom Neuwirth sich als Conchita Wurst auf die Bühne gestellt, um zu sagen: Ihr müsst jetzt alle so werden wie ich. Dabei ist seine Botschaft eine andere: Ihr könnt auch so sein wie ich; vor allem aber könnt ihr so sein, wie ihr seid und sein wollt.

Dass Österreich mit Conchita Wurst den Eurovision Song Contest gewonnen hat, ist deshalb so erfreulich, weil es den Bereich des Möglichen erweitert hat. Vorher war es für viele nicht vorstellbar, dass ein schwuler Mann, der in dieser provokanten und plakativen Form mit Geschlechterrollen spielt, in ganz Europa vom Publikum gewählt werden könnte. Conchita Wurst und die Menschen in Nord- und Süd-, West- und Ost-Europa haben gezeigt: Das ist möglich.

Es ist ein Sieg der Freiheit und der Vielfalt. Und es wäre ein grandioses Missverständnis, ihn umzuinterpretieren zu einer Verengung der Möglichkeiten, zu einer Pflicht, nun „so“ sein zu müssen, um den Grand-Prix zu gewinnen, oder die Figur der Conchita Wurst oder ihren Auftritt gut finden zu müssen.

Béla Anda hat das in besonders atemberaubender Weise getan. Der stellvertretende Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, der in der zweiten rot-grünen Koalition Chef des Bundespresseamtes sein durfte, beklagte sich in der vergangenen Woche, dass er „den Auftritt einer Dragqueen mit Bart jetzt schon gut finden MUSS“: „Es gibt keinen Kanal, keine Möglichkeit, sich dagegen zu artikulieren, und keinen Weg zu sagen: Das gefällt mir nicht“, artikulierte sich Anda dagegen in dem größten Kanal, den deutsche Online-Medien zu bieten haben: auf Bild.de.

Anda geht es ähnlich wie Elsässer, nur dass er es nicht so deutlich ausspricht. „Einige meiner besten Freunde sind homosexuell“, schrieb er (und der einzige Satz, der noch trauriger ist, ist natürlich der, den seine homosexuellen Freunde sagen müssen: „Einer meiner besten Freunde ist Béla Anda“). Trotzdem sträube sich „alles“ in ihm, wenn er Conchita Wurst lese (sic!): „Ein Bart im Gesicht einer Frau, noch dazu ein Vollbart, stört mich, stört mein ästhetisches Empfinden, stört auch mein Rollenverständnis von Mann und Frau.“ In Béla Andas Rollenverständnis hat der Mann die Hosen an und die Frau den Bart ab.

Das wird man vermutlich weder ändern können noch wollen, und es geht auch nicht darum, Andas „ästhetisches Empfinden“ anzugreifen. Es geht darum, dass das, was in der Öffentlichkeit stattfindet, sich nicht (mehr) diesem ästhetischen Empfinden unterordnen muss. Er muss Conchita Wurst oder andere Menschen, die seinem „Rollenverständnis“ nicht entsprechen, nicht gut finden. Aber er muss akzeptieren, dass es sie gibt und dass sie sich nicht verstecken und Respekt fordern. Und sogar Preise gewinnen und Sympathien der Massen.

Nach dem überraschenden Erfolg von Conchita Wurst machte schnell der Begriff vom „Sieg der Toleranz“ die Runde. Der ist problematisch. „Toleranz“, das Hinnehmen von etwas, das man eigentlich nicht mag, trifft es eigentlich gar nicht, denn die Menschen, die abgestimmt haben, haben die Sängerin ja offenkundig gemocht und positiv umarmt. Der Grund dafür ist fast egal: Ob es nun die Musik war, die Show, der Unterhaltungswert des Gesamtpaketes inklusive der schillernden Persönlichkeit des Künstlers. Die Menschen wollten, dass er, dass sie gewinnt. Vermutlich wollten die meisten kein politisches Statement damit abgeben – aber das wurde es auch so, durch das Ergebnis, allein dadurch, dass sie zeigten, dass sie eine solche Erscheinung nicht „eklig“ finden.

Das Wort vom „Sieg der Toleranz“ ist aber auch problematisch, weil es suggeriert, dass jeder andere Platz eine Niederlage für die Toleranz gewesen wäre; dass man also als aufgeklärter Zuschauer für Conchita Wurst stimmen musste. Das ist natürlich Unsinn – auch wenn einige aufgebrachte Fans hinterher die deutsche Jury dafür beschimpften, dass sie Österreich keinen Punkt gegeben hätte. Es wäre auch ein Sieg gewesen, wenn Conchita Wurst hinter den Niederlanden auf dem zweiten Platz gelandet wäre. Oder dem zehnten.

Es war schon ein Sieg, dass sie es ins Finale geschafft hatte und somit ihr Auftritt in ganz Europa ausgestrahlt wurde, auch in Russland und Weißrussland, mitsamt der euphorischen Reaktion in der Halle, mitsamt dem Geplauer in der Pause, als sich die Moderatorin zu ihr setzte und mit ihr scherzte und lachte und zeigte, dass man sie nicht mögen muss, aber kann, weil sie ein Mensch ist, und dass das ganz einfach ist. Und: ein Spaß.

Es wäre keine Niederlage der Toleranz gewesen, wenn Conchita Wurst zweite oder zehnte geworden wäre, aber so ist es natürlich noch schöner. Die ganzen Österreicher, die im Vorfeld öffentlich gewettert hatten, dass man mit diesem Vertreter keinen Blumentopf gewinnen könne und sie das Land blamieren werde, mussten sich nämlich nun eine neue Argumentation suchen. Sie werden auch damit leben müssen, dass Conchita Wurst eine Art Botschafterin Österreichs in der Welt geworden ist, dank eines Wettbewerbs, den man natürlich als Unsinn abtun und ignorieren kann und auch nicht mögen muss.

Auch in der Östereichischen Politik hat Conchita Wurst mit ihrem Sieg etwas möglich gemacht. Nun wird dort über eine Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften mit der Ehe geredet. Das ist natürlich in keiner Weise eine zwingende Konsequenz aus dem Sieg beim ESC; vor allem die Sozialdemokraten nutzen einfach, rechtzeitig vor den Europa-Wahlen, die Gunst der Stunde. Aber genau diese Gunst der Stunde ist eben entstanden durch diesen komischen Wettbewerb und seinen besonderen Sieger.

In der Debatte, in Österreich, in Deutschland, in Europa, verständigen sich die Gesellschaften, was für sie akzeptabel ist und was nicht. Es sieht so aus, als ob es schwer wird für die Homophoben, eine bärtige Frau als inakzeptabel zu verdammen. Andererseits kann es sich der Rapper Sido, Mitglied der offiziellen deutschen Jury beim Eurovision Song Contest, noch leisten, dass auf seiner Facebook-Seite eine Vielzahl von Kommentatoren wüste Beschimpfungen inklusive Todeswünschen gegen Conchita Wurst ausspricht.

Die sich für normal haltenden Kämpfer gegen Toleranz und Vielfalt, sie sind in der Defensive. Sie sehen sich nicht nur überwältigt von Menschen und Medien, die ihre Ressentiments nicht teilen. Sie glauben auch, dass, wer „normal“ ist wie sie, diskriminiert wird. Als ob es überraschend wäre, dass ein Paradiesvogel, ein Hingucker, mit einer großen bunten Show und Geschichte, bessere Chancen hat auf der großen, bunten, skurillen Bühne des ESC. Als wäre es irgendwie Schiebung, wenn ein Mann als Frau mit einem Bart in ein Rennen um die besten drei Minuten Unterhaltung geht.

Umgekehrt bedeutete das natürlich auch, dass es falsch wäre, aus dem Votum zu weitreichende Schlussfolgerungen über die tatsächliche Toleranz gegen andersartigen Menschen im Alltag zu ziehen.

Tom Neuhaus wird unterstellt, dass seine Conchita Wurst nur ein Marketinggag ist. Das ist ohnehin ein merkwürdiger Vorwurf. Aber die Überzeugungskraft dieser Figur kommt auch daher, dass sie eben nicht nur eine Kunstfigur ist, sondern Teil der Persönlichkeit des Künstlers. Und eine Reaktion darauf, als schwuler, sich gerne weiblich kleidender Mann diskriminiert worden zu sein. Neuhause hat auf die Anfeindungen nicht defensiv reagiert, sondern ist mit Conchita Wurst in die größtmögliche Offensive gegangen.

Der Sieg von Conchita Wurst hat etwas bewirkt: Sie hat es für alle, die anders sind als die anderen, ein kleines bisschen leichter gemacht, das zu sein, was sie sind oder gerne wären. Man muss sie nicht mögen. Aber man kann sich schon freuen über die Niederlage der Menschen, die diese Freiheit und Vielfalt ablehnen.