Schlagwort: Christian Wulff

Der „Spiegel“ wird Qualitätsansprüchen gerecht

Können wir noch einmal über das „Spiegel“-Gespräch mit Christian Wulff reden? Man erfährt daraus ja nicht nur, wie in den vergangenen Tagen breit diskutiert wurde, viel Erstaunliches darüber, wie der frühere Bundespräsident sich und die Welt sieht. Sondern auch über das Selbstverständnis von „Spiegel“-Journalisten.

Das beginnt bei deren lesbaren Erstaunen, dass Wulff die Gelegenheit dieses Gespräches nutzen wollte, ihnen Vorwürfe zu machen. In einer Art Vorwort zu dem Interview schreiben sie:

Der SPIEGEL hat mit seinen Recherchen zum Sturz des Bundespräsidenten beigetragen, er zählt für Wulff zu den Hauptschuldigen an seinem Untergang. Das Recht von Journalisten ist es, Fragen zu stellen — dass sie sich selber Fragen ausgesetzt sehen, kommt seltener vor.

Vielleicht ist das wirklich so, auch im Sommer 2014 noch, in der Wahrnehmung der Welt durch den „Spiegel“: Dass es „seltener“ vorkommt, dass Journalisten sich Fragen ausgesetzt sehen. In meiner Welt sehen sich Journalisten ununterbrochen Fragen ausgesetzt. In meiner Welt werden Journalisten mit kritischen Fragen bombardiert, bzw. teilweise schon nicht mehr bombardiert, weil bei einem größeren Teil des Publikums der Vertrauensverlust in die Medien schon so groß geworden ist, dass sie gar nicht mehr fragen, weil sie keine Antworten erwarten.

Aber für den „Spiegel“ scheint das eine ganz neue Erfahrung zu sein, dass ein Gesprächspartner sich nicht nur zum Verhör meldet, sondern zurückbeschuldigt. Die „Spiegel“-Leute können damit anscheinend nicht gut umgehen, sonst würden sie das nicht so betonen:

In diesem Fall ist ein SPIEGEL -Gespräch auch ein Gespräch über die Rolle des SPIEGEL geworden. Weil Wulff seine Vorwürfe direkt gegen die ihn Befragenden richtet, bleibt die Kritik natürlich nicht unwidersprochen.

Natürlich nicht. Was sind das für ungelenke Sätze und unentspannte Vorab-Entschuldigungen? Wie schwer kann es denn sein, sich einfach zu streiten?

Immerhin scheint man auch beim „Spiegel“ gemerkt zu haben, dass die Berichterstattung über Wulff damals bei Teilen des Publikums auf Ablehnung stieß. Er formuliert es so: Viele Bürger seien in der Beurteilung des Falls unsicher gewesen, „weil sie die Einhelligkeit in der medialen Bewertung störte“. Und schreibt:

Neben den eigentlichen Vorwürfen, die Wulff, 55, schließlich das Amt kosteten, ging es von Anfang an auch um die Rolle der Presse, die ihn mit Recherchen zu seinem privaten Finanzverhalten in Schwierigkeiten brachte. Da diese Debatte ebenfalls über die Medien ausgetragen wurde, stellte sich für viele Beobachter die Frage nach der Unparteilichkeit der sogenannten vierten Gewalt: Wie unvoreingenommen können Journalisten noch berichten, wenn ihr eigenes Verhalten infrage gestellt wird?

Was ist das denn für eine Frage? Ich möchte gar nicht wissen, wie viele „Spiegel“-Instanzen daran herumformuliert hatten, bis daraus diese sinn- und harmlose Wortfolge wurde. Die Unvoreingenommenheit von Journalisten ist doch nicht dadurch bedroht, dass ihr Verhalten infrage gestellt wird. Der Vorwurf war — um das einmal kurz als Service für die „Spiegel“-Leute zu rekapitulieren — dass die Journalisten nicht unvoreingenommen waren und sind; dass sie sich auf eine gemeinsame Jagd auf Wulff begeben hätten und nicht eher Ruhe geben würden, bis das Wild erlegt war.

Noch einmal: Der „Spiegel“ schreibt, dass es Journalisten womöglich schwerer fällt, unabhängig zu berichten, wenn ihr Verhalten in Frage gestellt wird? In welchem Paralleluniversum ergibt das Sinn? Und wieso weiß der „Spiegel“ nicht, dass die Arbeit von Journalisten ununterbrochen in Frage gestellt wird, und zwar: zu recht?

Gut, vielleicht stellen „Spiegel“-Journalisten ihre Arbeit weniger in Frage als andere, aber sie müssten doch gemerkt haben, dass andere es tun. Verzeihung, wenn ich mich da in Rage schreibe, aber nach meiner Überzeugung ist es eine wesentliche Aufgabe von Journalisten, Dinge in Frage zu stellen, warum sollten nun ausgerechnet Journalisten davon als Objekt ausgenommen sein und warum sollte es bei ihnen etwas Schlechtes sein?

Man kann den Verlauf des eigentlichen Gesprächs mit Wulff dann vielleicht am besten so erklären, dass sich beide Seiten Zugeständnisse vom Gegenüber erhofft hatten, ein bisschen Einsicht in die Fehler, die begangen wurden. Wulff räumt dabei, obwohl er sich weiter zutiefst ungerecht behandelt fühlt und als Opfer sieht — an vielen Stellen Fehler und Versäumnisse ein. Der „Spiegel“ hingegen sieht kein Problem in seiner Berichterstattung und hat nichts falsch gemacht. Also: nichts. Im Sinne von: nichts.

„Spiegel“-Redakteur Peter Müller, der das Gespräch zusammen mit Christiane Hoffmann und Chefredakteur Wolfgang Büchner geführt hat, sagt dazu in einem Video:

Für uns beim „Spiegel“ kam hinzu, dass wir uns, vor allem was die entscheidende Phase vor Wulffs Rücktritt angeht, nichts vorzuwerfen haben, was unsere Berichterstattung angeht. Dies war uns in dem Interview auch wichtig, weil wir natürlich wussten, dass damals, was die Berichterstattung angeht, natürlich nicht nur drei, vier Kollegen, sondern ein ganzes Team von zehn, 15 Leuten sich immer wieder mit dem Fall Wulff beschäftigt hatten, und jeden Anwurf von Wulff, dass damals auf unserer Seite unsauber gearbeitet worden wäre, das war uns wichtig und entscheidend, dass wir den auch von uns gewiesen haben.

Das ist natürlich eine interessante Position, um in ein „Streitgespräch“ zu gehen: Die erklärte Absicht, in diesem Streit nicht auch nur den Hauch von Selbstkritik zuzulassen, was die eigene Rolle und die eigene Berichterstattung angeht. Und das umso mehr, als die drei Gesprächspartner Wulffs offenbar bewusst nicht die sein sollten, die damals wesentlich im „Spiegel“ über ihn berichtet haben. Umso weniger durften sie ihren Kollegen in den Rücken fallen und irgendwelche Unzulänglichkeiten und Übertreibungen von damals einräumen.

Es kommt dann in dem Gespräch (oder jedenfalls der fünf Wochen nach dem Interview vom „Spiegel“ veröffentlichten Version, auf die sich beide Seiten geeinigt habe) zu folgendem Wortwechsel:

SPIEGEL: Was hat die Berichterstattung, die Sie in den Wochen vor Ihrem Rücktritt erlebt haben, persönlich mit Ihnen gemacht?

Wulff: Ich habe mich entschieden, davon wenig preiszugeben. In meinem Buch zitiere ich einige besonders niederträchtige Artikel, da fragen sich die Leser selbst: Was hätte das mit mir gemacht?

SPIEGEL: Sie haben sehr viel Gewicht verloren.

Wulff: Ich bin damals regelrecht abgemagert, das war ungesund. Und wenn ich so wenig Einsicht bei Medienschaffenden sehe wie bei Ihnen in diesem Interview, brauche ich wohl noch ein paar zusätzliche Aufbaukurse.

SPIEGEL: Mit Verlaub, Herr Wulff, was haben Sie denn von uns erwartet? Einen Kniefall und eine Entschuldigung?

Puh. Sein Wort war „Einsicht“. Der „Spiegel“ hört: „Kniefall und Entschuldigung“.

Es scheint nicht möglich zu sein, mit diesen Leuten darüber zu reden, was damals schiefgelaufen ist, ob der Fall Wulff nicht auch für Journalisten, womöglich sogar für „Spiegel“-Journalisten, Anlass gibt, über die eigene Arbeit und die Wirkung nachzudenken. Ob man sich, rückblickend, wirklich jede hämische Formulierung, jedes vor Verachtung triefende Urteil Dirk Kurbjuweits, jede Empörung sogar über ein harmloses Titelbild der Präsidentengattin in einer Frauenzeitschrift, hätte leisten müssen. Ob man sich nicht tatsächlich auch in eine Art Rausch geschrieben hat und ob gelegentlich nicht auch ein paar Maßstäbe verrutscht sind. Und ob die Schilderungen Wulffs in seinem Buch, wie die Wucht eines so umfassenden und fast einmütigen medialen Angriffs auf denjenigen wirkt, der ihr ausgesetzt ist (so sehr er sie durch sein eigenes Handeln auch provoziert haben mag), nicht auch Grund wären, nachdenklich zu werden.

Nein, das kann man sich abschminken vom „Spiegel“, Selbstreflexion und Nachdenklichkeit, Selbstkritik und Zugeständnisse, oder wie man all das beim „Spiegel“ zu nennen scheint: „einen Kniefall“.

Kurz vor Schluss des veröffentlichten Gesprächs geht es noch einmal um die Macht der Medien:

Wulff: Mir war immer bewusst, dass ich als Aufsteiger unter besonderer Beobachtung stand. Ein Aufsteiger im höchsten Staatsamt, noch jung an Jahren, mit einer jungen, attraktiven Frau an seiner Seite, das war für viele an sich schon eine Provokation. Und die Journalisten interessierten sich für jedes Detail unseres Zusammenlebens; ein zwölfjähriges Mädchen in unserem Nachbarhaus fragten sie am Telefon aus, wie denn mein Verhältnis zu meiner Frau sei. Journalisten können gruselig sein.

SPIEGEL: Politiker haben ganz andere Machtmittel. SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein musste einst ins Gefängnis, weil Franz Josef Strauß unliebsame Berichterstattung verhindern wollte.

(Kurz einmal innehalten, um den zeitlichen und logischen Sprung, den die drei „Spiegel“-Leute hier machen, zu würdigen.)

Wulff: Heute haben sich die Kräfteverhältnisse umgekehrt.

SPIEGEL: Das sehen wir anders. Viele Medien haben heute gar nicht mehr die Mittel, um Regierungshandeln sinnvoll zu kontrollieren. Heute gibt es wahrscheinlich mehr Pressesprecher als festangestellte Redakteure in Tageszeitungen.

Wulff: Das Handeln der Regierung zu kontrollieren ist auch Aufgabe des Parlaments und der Justiz, nicht nur der Medien. Und weil Sie ein wichtiges und zwingend notwendiges Kontrollgremium sind, warum betreiben Sie dann immer häufiger die Personalisierung und die Skandalisierung? Warum zielen Sie immer häufiger auf die Person, die Familie, das Private? Manches Inhaltliche ist manchen vielleicht auch zu kompliziert oder sperrig für die Auflage.

SPIEGEL Sie scheren alle Medien über einen Kamm. Der SPIEGEL und viele andere Medien werden Qualitätsansprüchen gerecht.

Den letzten Satz mag ich. Sie haben sich trotz aller Überzeugtheit von sich selbst und ihrer Arbeit offenbar nicht getraut, ein Adjektiv einzusetzen. Sowas wie „höchsten“ oder gar „allen Qualitätsansprüchen“. Der „Spiegel“ und viele Medien werden irgendwelchen unbestimmten Qualitätsansprüchen gerecht.

Ja, darauf können wir uns einigen. Und das ist dann vermutlich auch der komplette Beitrag, den wir vom „Spiegel“ für den nicht nur von Wulff gewünschten „öffentlichen Diskurs über die Rolle der Medien im digitalen Zeitalter“ erwarten können.

„Mit ein paar kleinen Hotelangestellten sollte einer wie er leicht fertig werden“

Man findet tolle Sachen, wenn man sich ein bisschen im Archiv durch die Berichterstattung über Christian Wulff wühlt. Zum Beispiel einen großen Text aus dem „Stern“ vom 23. Februar 2012, also aus der Woche nach dem Rücktritt des Bundespräsidenten.

Hans-Martin Tillack, Johannes Röhrig und Bernd Gäbler schrieben unter der Überschrift „Der falsche Freund“ über den einen Mann, über den Wulff gestürzt sei: den Filmproduzenten David Groenewold.

Darin heißt es:

Schon 2004 koproduzierte er — mit 250 000 Euro an niedersächsischen Steuermitteln — den TVFilm „Tsunami“. Darin löst ein skrupelloser Geschäftemacher in der Nordsee Unterwassersprengungen aus und damit „eine gigantische Tsunami-Riesenwelle, die auf Sylt zurollt“.

Am Ende wird natürlich alles gut. Sylt steht heute noch. Mitsamt dem schönen „Hotel Stadt Hamburg“. Seit 14 Tagen ist bekannt, dass Wulff und seine Bettina im Herbst 2007 dort drei Tage lang zusammen mit Groenewold urlaubten. Die Rechnung des damaligen Ministerpräsidenten — 804 Euro — übernahm Groenewold.

Der Politiker will die Zeche in bar erstattet haben. Trotzdem drängte Groenewold Mitte Januar beim „Hotel Stadt Hamburg“ darauf, auf keinen Fall Informationen an Journalisten zu geben — angeblich, weil er den Sachverhalt erst selbst prüfen wollte.

Mit ein paar kleinen Hotelangestellten sollte einer wie er leicht fertig werden. Auch wenn Groenewold erst 38 Jahre alt ist, hat er jahrzehntelange Erfahrungen in besseren Kreisen. Sein Vater, der Berliner Steueranwalt Erich Groenewold, hatte Anfang der 80er Jahre den Kinoerfolg „Christiane F. — Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ mitfinanziert.

Nun ja, „bekannt“ war die Sache mit dem gemeinsamen Urlaub damals nicht seit zwei Wochen (als „Bild“ darüber berichtete), sondern seit vier Wochen (als der NDR darüber berichtete), aber das ist, zugegeben, läppisch.

Atemberaubend finde ich aber den Satz über Groenewold: „Mit ein paar kleinen Hotelangestellten sollte einer wie er leicht fertig werden.“ Die „Bild“-Zeitung hatte, wie gesagt, den Eindruck erweckt, Groenewold habe Dokumente beiseite geschafft, um den gemeinsamen Urlaub zu vertuschen. (Das Hotel bestritt dies.) Vor diesem Hintergrund liest sich der Satz für mich wie eine Andeutung, dass Groenewold unzulässigen Druck auf die „kleinen Hotelangestellen“ ausgeübt hat. Wie soll das zu verstehen sein, dass „einer wie er“ leicht mit ihnen „fertig wird“?

Ich habe das heute Vormittag Hans-Martin Tillack gefragt. Seine Antwort:

Der von Ihnen zitierte letzte Satz bedarf keiner Interpretation.

Ah. Nicht.

Ich habe Tillack weiter gefragt:

Sie schreiben in Ihrem Blog, dass in de[r] „Bild“-Zeitung vom 8.2.2012 „in der Tat zu Unrecht der Eindruck erweckt [wurde], Wulffs Freund David Groenewold habe versucht, bei einem Hotel in Sylt Originale von Rechnungen verschwinden zu lassen“. Hat der „Stern“ diesen falschen Eindruck Ihrer Meinung nach nicht erweckt?

Hat der „Stern“ diesen falschen Eindruck je korrigiert?

Seine Antworten:

Wir haben weder geschrieben noch den Eindruck erweckt, Herr Groenewold habe versucht, Originale verschwinden zu lassen. Wie man aus der von Ihnen zitierten Passage etwas anderes herauslesen können soll, erschließt sich mir nicht.

Da wir nie den falschen Eindruck erweckt haben, Herr Groenewold wolle Originale verschwinden lassen, mussten wir ihn auch nicht korrigieren. Auch Herr Groenewold oder seine Anwälte haben uns nie entsprechende Vorwürfe gemacht und sind nie gegen uns vorgegangen.

„Bild“ stürzte Wulff mit einer Falschmeldung. Das kümmert aber keinen.

Christian Wulff musste aufgrund einer Falschmeldung der „Bild“-Zeitung als Bundespräsident zurücktreten. Es ist erstaunlich, wie wenig das bekannt ist und wie wenig das die Leute zu stören scheint.

Wulff trat am 17. Februar 2012 zurück, weil die Staatsanwaltschaft Hannover ein Ermittlungsverfahren gegen ihn einleitete. Ausschlaggebend dafür waren, wie der Celler Generalstaatsanwalt Frank Lüttig später der „Welt am Sonntag“ sagte, Presseberichte, wonach Wulffs Freund David Groenewold versucht habe, „Beweise aus der Welt zu schaffen“. Berichtet hatte das die „Bild“-Zeitung am 8. Februar 2012. Doch deren Behauptungen und Mutmaßungen waren falsch und sind längst gerichtlich untersagt.

· · ·

Am Ende von Wulffs Amtszeit steht ein Skandal. Es ist ein Medien-Skandal.

Der „Bild“-Artikel, der zum Rücktritt des Bundespräsidenten führte, trug die Überschrift:

VERTUSCHUNGS-VERDACHT. Wer zahlte Wulffs Sylt-Urlaub?

Es geht um einen Urlaub, den die Eheleute Wulff im Herbst 2007 mit Groenewold im Hotel Stadt Hamburg auf Sylt verbrachten. Groenewold hatte die Reise organisiert und vorab bezahlt. Wulff sagt, er habe Groenewold Auslagen vor Ort in bar beglichen.

Das war nicht neu. Das hatte der NDR schon Wochen vorher berichtet; Groenewold hatte dem Sender damals entsprechend Auskunft gegeben. „Bild“ wurde die Behauptung, diesen Sachverhalt „enthüllt“ zu haben, später gerichtlich untersagt.

Neu war aber der Vorwurf der versuchten Vertuschung.

Anfang Januar, so „Bild“, hätte Groenewold beim Hotel angerufen und die Angestellten aufgefordert, „keinerlei Infos über ihn“ und den gemeinsamen Urlaub herauszugeben. „Falls also Bild oder Spiegel anruft, wir wissen von nichts!“, habe das Hotel notiert.

Wenige Tage später habe sich Groenewold erneut im Hotel einquartiert und Mitarbeiter des Hotels aufgefordert,

relevante Rechnungen und Belege aus dem gemeinsamen Kurzurlaub mit dem Ehepaar Wulff aus dem Jahr 2007 auszuhändigen. Ein Hotel-Manager übergibt Groenewold Anreiselisten, Meldescheine und Verzehrquittungen.

Um der Geschichte die nötige Wucht zu geben, suchte und fand das Blatt vor der Veröffentlichung Menschen, die den „Bild“-Recherchen blind vertrauten und sie in gewünschter Form kommentierten. Zwei führende niedersächsische Oppositions-Politiker ließen einspannen, und so konnte „Bild“ noch in dem Artikel mit der vermeintlichen Enthüllung melden:

Die Opposition wittert jetzt „Versuche, Akten zu säubern“. (…)

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Niedersächsischen Landtag Stefan Schostok sagte zu den Vorgängen rund um den Sylt-Urlaub des Bundespräsidenten gestern zu BILD: „Offenbar finden gerade Versuche statt, Akten zu säubern.“ Der Fraktionschef der Grünen im niedersächsischen Landtag, Stefan Wenzel, forderte Ermittlungen der Behörden in diesem Fall. Wenzel zu BILD: „Wer solche Dokumente verschwinden lassen will, dürfte etwas auf dem Kerbholz haben. Hier muss endlich der Staatsanwalt ran!“

Die „Bild“-Geschichte war in allen entscheidenden Punkten falsch. Es gab keinen Vertuschungsversuch.

Groenewold hatte bemerkt, dass er keine Unterlagen hatte, um Fragen der Presse nach diesem gemeinsamen Urlaub beantworten zu können. Er rief beim Hotel an und bat, ihm Kopien der Rechnungsbelege zu schicken. Das Hotel lehnte das unter Verweis auf den Datenschutz ab — er müsse schon vorbeikommen. Groenewold bat um Diskretion, fuhr ein paar Tage später hin und holte Kopien ab.

Keine Anreiselisten, Meldescheine und Verzehrquittungen, wie „Bild“ schrieb. Nur Kopien der Rechnungsbelege. Zeugen bestätigten das der Staatsanwaltschaft.

Dass Groenewold keine Originaldokumente mitnahm, wusste „Bild“ schon am Tag vor der Veröffentlichung. Der Direktor des Hotels teilte der „Bild“-Chefredaktion am Nachmittag mit, es habe nie einen Versuch von Groenewold gegeben, etwas zu vertuschen oder zu vernichten. Er habe lediglich Kopien für seine Unterlagen erbeten.

Diese Information hätte der ganzen „Bild“-Geschichte die Brisanz genommen. Das Blatt ließ sie einfach weg.

Laut Wulff erklärte der Axel-Springer-Verlag das später damit, das Schreiben des Hoteldirektors sei nicht relevant gewesen, weil es in dem Artikel nicht darum gegangen sei, dass Herr Groenewold Originale angefordert habe. Das ist natürlich Unsinn, denn nur so konnte der Eindruck einer Vertuschung entstehen.

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Bis hierhin ist es bloß eine Geschichte, die niemanden überraschen kann, der sich ein bisschen mit den feinen Methoden der „Bild“-Zeitung beschäftigt. Es kommt aber noch besser.

Groenewalds Anwalt beeilte sich, gegen die falschen „Bild“-Behauptungen vorzugehen. Er erwirkte am 14. Februar 2012 beim Landgericht Köln eine einstweilige Verfügung, die „Bild“ die Behauptung untersagte, auf Sylt sollten Beweismittel beseitigt werden. (Vier Monate später erkannte der Springer-Verlag sie in allen Punkten rechtskräftig an.) Eine Kopie des Gerichtsbeschlusses, der einen wesentlichen Teil der Berichterstattung der Vortage kassierte, schickte er an die Nachrichtenagentur dpa. Und die meldete:

Nichts.

Die Information war zwar angekommen. Man habe aber „aufgrund unseres Grundsatzes, immer auch die Gegenseite zu hören“, wie dpa gegenüber „Meedia“ erklärte, erst bei Springer nachgefragt. Springer hatte aber keine Eile mit der Antwort. Später sei die Sache dann, so dpa, „tatsächlich leider in unserem Nachrichtenfluss stecken geblieben“.

Natürlich hätte dpa keine Stellungnahme Springers abwarten müssen. Eine Bestätigung des Gerichtes hätte genügt. (Vorabmeldungen der „Bild“-Zeitung veröffentlicht dpa übrigens routinemäßig vorab ohne jede eigene Prüfung.)

Es gibt zwei Möglichkeiten, was bei dpa passiert ist. Entweder kam es da zu einer ganz unglücklichen Verkettung von Verzögerungen und Schlampereien. Oder die Nachrichtenagentur hatte einfach kein Interesse daran, diese für Springer unschöne Geschichte zu verbreiten. Springer ist einer der größten Kunden von dpa; dpa ist mit seinen Büros Untermieter bei Springer.

Drei Tage später trat Wulff zurück.

· · ·

So. Würde man nicht annehmen, dass diese Vorgänge rund um einen falschen und, wie ich sagen würde: absichtlich irreführend geschriebenen Bericht der „Bild“-Zeitung ein großes Thema in den anderen Medien wären? Noch einmal: Es handelt sich um den Artikel, der den Auslöser dazu bildete, dass Wulff zurücktrat. Ist das nicht eine große, berichtenswerte, recherchierenswürdige Sache? Ist es nicht bemerkenswert, dass Wulff am Ende durch eine Falschmeldung der „Bild“-Zeitung zu Fall gebracht wurde?

Offenbar nicht. Kaum jemand hat darüber berichtet. Die einzige größere Ausnahme, die ich gefunden habe, ist „Focus Online“. Dort berichtete die Berliner Korrespondentin Martina Fietz im November 2013, zwei Tage vor Beginn des Prozesses gegen Wulff, ausführlich über die Ungereimtheiten.

Die beiden Autoren der falschen „Bild“-Zeitungs-Geschichte, Martin Heidemanns und Nikolaus Harbusch, wurden im Mai 2012 von den führenden Journalisten des Landes mit dem Henri-Nannen-Preis in der Kategorie „Beste investigative Leistung“ geehrt. Ausgezeichnet wurde allerdings konkret ihr „Bild“-Stück über den Hauskredit Wulffs. Der damalige Chefredakteur des „Handelsblattes“ Gabor Steingart hatte vorher eine solche Würdigung für die beiden gefordert, denn: „Die ‚Bild‘-Geschichte war sauber recherchiert. Und sie war, da das Staatsoberhaupt schließlich zurücktrat, die wirkungsmächtigste Enthüllung des Jahres 2011.“

Dass die „Bild“-Geschichte derselben Autoren, wegen der Wulff tatsächlich zurücktrat, eine Falschmeldung war, interessierte Steingart so wenig wie die meisten Kollegen.

Christian Wulff schildert die Vorgänge ausführlich in seinem Buch „Ganz oben — Ganz unten“, das in der vergangenen Woche erschieden ist. Das wäre nochmal ein guter Anlass gewesen, sich diesem besonderen Kapitel der ganzen Affäre zu widmen, die eben auch eine Medienaffäre ist. Hat aber wieder keinen interessiert.

Stattdessen fragt zum Beispiel Hans-Martin Tillack, der „Stern“-Journalist, der bei Wulffs letzter Dienstreise nach Italien den Bundespräsidenten im Flugzeug anblaffte, ob er eigentlich im Ernst glaubte, dass sich irgendjemand dafür interessiere, was er in Italien vorhat, dieser sympathische Kollege also fragt auf stern.de stattdessen: „Wie schönfärberisch ist das Wulff-Buch?“

Das ist eine berechtigte Frage, und vermutlich ist auch mindestens ein Teil seiner für Wulff eher ungünstigen Antworten nicht falsch. Aber bemerkenswert dabei ist auch, wie beiläufig er dabei über die Sylt-Sache hinweggeht:

Den einzigen größeren Fall [sic!] einer Falschmeldung, den Wulff in seinem Buch erwähnt, betrifft einen Bericht der „Bild“-Zeitung vom 8.2.2012. Dort war in der Tat zu Unrecht der Eindruck erweckt worden, Wulffs Freund David Groenewold habe versucht, bei einem Hotel in Sylt Originale von Rechnungen verschwinden zu lassen.

Erwähnt, erledigt.

Anders als Wulff verstehe ich schon, warum so viele Journalisten offenbar glauben, dass es keine Rolle spielt, ob diese Geschichte falsch war. Für sie ist der Bundespräsident nicht wegen dieser einen Geschichte zurückgetreten, sondern wegen allem. Weil er eh fällig war, untragbar, peinlich, diskreditiert, da kommt es nicht auf so läppische Details wie den Auslöser des Rücktritts an. Natürlich ist an dieser Sicht etwas dran.

Diese eine, falsche Geschichte aber war der konkrete Auslöser des Rücktritts, und wer weiß, ob die Staatsanwaltschaft auch ohne sie die Aufhebung der Immunität beantragt hätte, und ob Wulff nicht dann im Amt geblieben wäre, beschädigt, aber, wie das so ist, mit der Chance, die Leute wieder für sich zu gewinnen. Jedenfalls muss man diese Episode kennen, um zu verstehen, warum Wulff meint, sein Rücktritt sei falsch gewesen. Ich kann seine Fassungslosigkeit verstehen, dass die Medien sich für diese Dinge so gar nicht interessieren. Dass die, die ihm jetzt wieder „Mehr Selbstkritik!“ zurufen, in größeren Teilen dazu selbst nicht in der Lage sind.

Dirk Kurbjuweit zum Beispiel. Kurbjuweit hat im „Spiegel“ vor Verachtung berstende Texte über Wulff geschrieben, hat ihm vorgehalten, sich mit Filmstars schmücken zu wollen, mit Filmstars! Voller Ekel malte er es sich aus, wie es gewesen sein muss, als Wulff 2007 in dem Hotel auf Sylt Groenewold das Geld in bar zurückzahlte: „Da stand also der Ministerpräsident von Niedersachsen und zählte einem 14 Jahre jüngeren Mann ein Bündel Geldscheine in die Hand. Wenn das nicht gelogen ist, wünschte man sich beinahe, es wäre gelogen, weil es so unwürdig ist.“ Man stelle sich das vor: einem 14 Jahre jüngeren Mann!

Im aktuellen „Spiegel“ übt Kurbjuweit ein klitzekleines bisschen Selbstkritik, aber vor allem kritisiert er Wulff. Er verteidigt vehement das „Grundrecht“ der Journalisten, Fragen zu stellen, als wäre das das Problem gewesen. Als hätten die Journalisten damals nicht fortwährend Antworten gegeben.

Auch Kurbjuweit ist die Sylt-Sache mit der „Bild“-Zeitung, die Wulff in seinem Buch beschreibt, nicht ganz entgangen. Ganze fünfeinhalb Druckzeilen widmet er ihr:

Selbstverständlich ist bei der Recherche nicht alles erlaubt. Wulff schreibt, dass Bild ein manipuliertes Schriftstück verwendet habe, um ihn schlecht aussehen zu lassen. Das wäre dann auch ein Fall für den Staatsanwalt.

Ach guck mal, das wäre also ein Fall für den Staatsanwalt. Warum ist das nicht auch ein Fall für die Journalisten?

Wulff deutet in seinem Buch an, dass hinter der falschen Geschichte vom Vertuschungsversuch eine noch größere Manipulation durch „Bild“ stecken könnte; dass eine Notiz in den internen Hotel-Unterlagen, die als Indiz für den Vertuschungsversuch galt, fingiert sei. Es ist tatsächlich unbefriedigend, dass Wulff an dieser Stelle nur vage einen Verdacht andeutet. Aber vielleicht hätte es geholfen, wenn einer der vielen tollen investigativen Journalisten, die alle, wie Kurbjuweit in seinem Stück behauptet, keine gemeinsamen Kampagnen fahren und „nicht das Gemeinsame, sondern den Unterschied“ suchen und sich „abheben wollen von den Kollegen, exklusive Nachrichten zutage fördern“, dieser Sache damals nachgegangen wäre.

Aber es interessiert sie auch heute nicht.

Nachtrag, 11:30 Uhr. Hans-Martin Tillack vom „Stern“ bemängelt, dass ich nicht erwähnt habe, dass die Staatsanwaltschaft bei der Einleitung des Ermittlungsverfahrens von der einstweiligen Verfügung gegen „Bild“ wusste. In ihrem Antrag auf Aufhebung der Immunität sei das auch erwähnt und berücksichtigt.

In einem Blog-Eintrag kritisiert er ausführlich „die Methode Niggemeier“.

Wie Wulff ohne „Bild“ nach Afghanistan reiste und so vielleicht einen „Krieg“ auslöste

Nikolaus Harbusch hatte sich vorbereitet. Der preisgekrönte „Bild“-Reporter saß in der „BILD-Live-Sendung“, die während der Werbepausen des „Bild“-„Spiegel“-Sat.1-Filmes „Der Rücktritt“ lief. Die Moderatorin kündigte an, gleich die nachgesprochene Nachricht abzuspielen, die Christian Wulff auf der Mailbox von „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann hinterlassen hatte. Und Harbusch faltete einen Zettel auseinander, den er mitgebracht hatte.

So ein Bundespräsident hätte ja nicht viele handfeste Aufgaben, sagte er sinngemäß, aber eine dann doch: Den Verteidigungsfall, den Kriegszustand, zu verkünden, wenn das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird. Vom Zettel las er die entsprechenden Passagen aus dem Grundgesetz vor.

Ja, den Kriegszustand ausrufen, das kann der Bundespräsident. Und Wulff habe das getan, suggerierte Harbusch, als er Diekmann auf die Mailbox sprach und sagte, man solle sich doch nach seiner Rückkehr nach Deutschland zusammensetzen — „und dann können wir entscheiden, wie wir den Krieg führen“.

Krieg! Er hat „Bild“ irgendwie den Krieg erklärt, was er als Bundespräsident, der ja sonst fast nichts kann, kann. So stellen es die preisgekrönten Redakteure der Zeitung noch heute dar.

Natürlich lässt sich der Wortlaut der Nachricht, den die „Bild“-Zeitung heute mit einem Mal vollständig veröffentlicht hat und von dem es inzwischen heißt, dass er gar nicht aggressiv-wütend, sondern im üblichen ruhigen Tonfall Wulffs vorgetragen wurde, auch ganz anders lesen. Nämlich so, dass Wulff das Gefühl hatte, dass „Bild“ ihm den Krieg erklärt hat.

Warum tat sie das überhaupt? Warum hörte sie scheinbar plötzlich damit auf, den Mann hochzuschreiben, und begann damit, ihn runterzuschreiben? Warum konfrontierte sie ihn mit unangenehmen Tatsachen anstatt sie, wie zuvor, schönzufärben?

Michael Götschenberg, der das MDR-Hörfunkstudio im ARD-Hauptstadtstudio leitet, hat darauf eine verblüffende Antwort. Für ihn markiert eine Afghanistan-Reise des Bundespräsidenten im Oktober 2011 den endgültigen Bruch der „Bild“-Zeitung mit Christian Wulff, die Änderung der Geschäftsbeziehung.

Eigentlich hätte Wulff schon im September 2011 nach Afghanistan reisen sollen. Begleiten sollten ihn nur fünf Journalisten: je ein Radio- und Fernsehreporter der ARD sowie drei Vertreter von Nachrichtenagenturen. Eine Auswahl unter Zeitungsjournalisten wollte das Bundespräsidialamt nicht treffen, um sich nicht den Zorn der nicht Erwählten zuzuziehen.

Aufgrund der angespannten Sicherheitslage wurde dieser Besuch jedoch im letzten Moment abgesagt. Solche Reisepläne werden üblicherweise bis zur Ankunft vor Ort streng geheim gehalten, und das Bundespräsidialamt versuchte auch zu verhindern, dass die kurzfristige Absage an die Öffentlichkeit kommt, weil Wulff die Reise schon bald nachholen sollte.

Als die „Bild“-Zeitung von der Absage erfuhr, bat das Präsidialamt, nicht darüber zu berichten. Präsidentensprecher Olaf Glaeseker bot dem Blatt einen Handel an: Als Gegenleistung für das Schweigen dürfe „Bild“ mitfahren, wenn Wulff die Reise nach Afghanistan nachhole.

Anstelle von „Bild“ machte aber dann der „Spiegel“ die abgesagte Reise öffentlich. Man kann sich vorstellen, dass die „Bild“ nicht glücklich war, die eigene Exklusivmeldung der Konkurrenz überlassen zu haben, aber immerhin gab es ja dafür das Versprechen, beim nächsten Anlauf mitzukommen.

Das Problem war — laut Götschenberg — nur, dass Gläseker sein Versprechen nicht mit den zuständigen Stellen im Bundespräsidialamt abgesprochen hatte, und als der nächste Reisetermin anstand, war er im Urlaub.

Als die Präsidentenmaschine in Kabul ohne einen „Bild“-Reporter landet, findet bei „Bild“ gerade eine Redaktionskonferenz statt. Als „Bild“-Chef Kai Diekmann sich erkundigt, wer mit in Afghanistan sei, bekommt er die Antwort: Von „Bild“ niemand. Diekmann, so berichtet ein Teilnehmer der Sitzung, habe daraufhin nur geschwiegen: „Nichts sagt so viel, wie wenn Diekmann schweigt.“

Diese Entscheidung, so sieht man es später im Bellevue, habe für „Bild“ das Fass zum Überlaufen gebracht. Nach einer langen Phase der Entfremdung zwischen dem ehemaligen „Bild“-Liebling Wulff und der „Bild“-Zeitung, die ihren Anfang nimmt, als Wulff Bundespräsident wird, sei mit der Afghanistanreise endgültig der Ofen aus gewesen, erklärt man sich im Bellevue den weiteren Lauf der Dinge.

So schildert es Götschenberg in seinem Buch „Der böse Wulff?“.

Ich weiß nicht, ob es so war. Aber es entspräche der Art, wie Kai Diekmann entscheidet, wer in seinem Blatt gut wegkommt und wer schlecht. Wichtig sind dabei allem Anschein nach weniger inhaltliche Positionen als ein schlichtes Freund/Feind-Denken. Wer mit „Bild“ kooperativ zusammenarbeitet und ihr gibt, was sie braucht, hat beste Chancen, von ihr gut behandelt zu werden, solange sich das für sie lohnt.

Die scheinbar so läppische vergeigte Sache mit der Afghanistan-Reise, der nicht eingehaltene Deal, das könnte aus „Bild“-Sicht wie das letzte, unmissverständliche Signal wirken, dass kein Verlass mehr darauf ist, dass Christian Wulff ihr gibt, was sie braucht. Und wenn er kein Freund mehr ist, ist er ein Feind. Und der berühmte Fahrstuhl-Schalter wird umgelegt.

Natürlich ist die Afghanistan-Geschichte, wenn sie stimmt, nur ein letzter Anlass, der Schlusspunkt einer Entwicklung, bei der das übliche Prinzip des Gebens und Nebens zwischen Wulff und der Zeitung aus Sicht von „Bild“ ohnehin immer schlechter funktioniert hatte. Götschenberg schreibt:

In den Wochen vor der Wahl zum Bundespräsidenten wahrt „Bild“ wohlwollende Neutralität, obwohl der Mainstream ganz klar zugunsten von Gauck verläuft. Man kann davon ausgehen, dass „Bild“ sich dafür eine Gegenleistung erwartet, vor allem in Gestalt von Exklusivgeschichten aus dem Bellevue. (…)

Doch je länger Wulff Bundespräsident ist, desto mehr reift in „Bild“ die Erkenntnis, dass der ehemalige Liebling die „Geschäftsbeziehung“ aus Hannover aufgekündigt hat. „Bild“ wartet vergeblich auf Exklusivgeschichten aus dem Schloss, selbst ein Interview bekommt die Zeitung nicht. (…) Wulff „liefert“ nicht: Letztlich ist er der Ansicht, dass Bundespräsident und „Bild“ nicht zusammenpassen. Umso intensiver beginnt man bei „Bild“ an einer Geschichte zu recherchieren, für die sich auch schon andere interessieren (…)

… die Geschichte des Hauskaufs in Großburgwedel.

Der „endgültige Bruch“ mit Springer, mit dem Wulff Diekmann auf dem Anrufbeantworter droht, er ist von der anderen Seite ohnehin längst vollzogen worden. In den Worten Götschenbergs:

Nachdem Wulff das Verhältnis zu „Bild“ still und leise aufgekündigt hat, tut „Bild“ das nun auch — nur nicht still und leise.

Kai Diekmann hatte in einem Kommentar geschrieben:

Wer den Fall und die Probleme des Bundespräsidenten jetzt zu einem Machtkampf zwischen dem ersten Mann im Staat und der größten Zeitung im Land aufpumpt, der geht wahrhaft völlig in die Irre.

Götschenberg urteilt:

Richtig ist zweifellos, dass die Krise um den Bundespräsidenten deutlich mehr ist als ein Machtkampf zwischen Diekmann und Wulff. Die Auseinandersetzung um die Mailbox-Nachricht macht allerdings sehr deutlich, dass sie das eben auch ist.

Wulff habe „Bild“ mit seiner Mailbox-Nachricht den „goldenen Dolch“ überreicht.

Götschenbergs Buch „Der böse Wulff?“ ist bereits Anfang 2013 erschienen. Für alle, die sich nicht nur auf die „Bild“- und „Spiegel“-Version der Geschichte verlassen wollen, ist es eine sehr empfehlenswerte Lektüre, weil Götschenberg sich große Mühe gibt, Christian Wulff und seiner Amtszeit gerecht zu werden. Er beschreibt nicht nur seine — zweifellos katastrophalen — Fehler, sondern auch die üblen Reflexe der Medien.

Nachtrag, 8:30 Uhr. Kai Diekmann twittert dazu: „Schöne Szene — leider falsch! Blick in Kalender: Wulff landet Sonntagfrüh in Kabul — BILD-Chef schläft aus, geniesst sunday at home!“

Von Pontius nach Pilates

Man hatte ja immer wieder ein Raunen über diese privaten Abgründe im Hause Wulff gehört, aber nun gibt es endlich einen unzweideutigen Fotobeweis: Wir sehen die Familie in ihrem Auto bei der Abreise aus Berlin am vergangenen Freitag — und sie sitzt am Steuer!

Die einschlägigen Blätter versuchten das Ungeheuerliche natürlich gleich zu interpretieren:

Am Steuer saß Bettina Wulff — ein Hinweis darauf, wer künftig in Großburgwedel das Sagen hat?

Weiter heißt es in dem Text:

Hinter den Eltern saßen die Söhne Linus (mit Teddybär) und Leander. Man fragt sich, über was die Wulffs auf der Fahrt geredet haben.

Es muss eine überstürzte Abreise gewesen sein: In der Einfahrt zur Dienstvilla des Bundespräsidenten in Dahlem liegt an diesem Montagvormittag noch eine gelbe Sandkastenschaufel und ein rotblauer Sandkasteneimer. Hat das nicht mehr in den Skoda Yeti gepasst?

Am frühen Freitagabend erreichten die Wulffs das Haus in Großburgwedel, dessen Finanzierung Wulffs Rücktritt ausgelöst hat. Ein paarmal haben die Wulffs das Haus seitdem verlassen: Am Samstagabend für zwei Stunden und am Sonntagmorgen gegen 9 Uhr 30. Da brachte ein Lieferant frische Brötchen und Zeitungen vorbei.

In der zweistöckigen Präsidentenvilla, die vor dem Einzug der Wulffs für 800 000 Euro renoviert werden musste, weil das Dach undicht war und man in der Bausubstanz Asbest entdeckt hatte, ist an diesem Montag kein Leben auszumachen. Man könnte jetzt lüften, aber alle Fenster sind zu. (…)

Joachim Gauck wohnt in einer Altbauwohnung im Bayerischen Viertel von Schöneberg, wo es, im Gegensatz zu Dahlem, viele Kneipen, Restaurants und Kinos gibt. Ob er seinen Kiez verlassen wird?

Gegenüber der Bundespräsidenten-Villa öffnet sich eine Haustür. Eine Frau tritt heraus, sportlich gekleidet. Sie sagt, sie sei auf dem Weg zum Pilates-Unterricht. (…) Bettina Wulff habe immer gelächelt, wenn sie den Nachbarn begegnet sei. (…)

Und jetzt die Frage: Aus welchem Blatt stammt dieser Text? Kleiner Tipp: Es handelt sich ausnahmsweise weder um „die Aktuelle“ noch „das Neue“.

Heucheln und heucheln lassen

Stefan Winterbauer, der Blinde unter den Einäugigen beim Braanchendienst „Meedia“, hat das Spiel längst abgepfiffen. Die „taz“ sei zum wiederholten Male beim Versuch gescheitert, „Bild“-Chef Kai Diekmann vorzuführen. „Genauso wie Lucy Charlie Brown in letzter Sekunde den Ball wegzieht, lässt sich die taz immer wieder von Kai Diekmann am Nasenring durch die Medienmanege führen“, urteilte er gestern.

Die „taz“ hatte Diekmann öffentlich Fragen gestellt zum undurchsichtigen Umgang seines Blattes mit der Nachricht, die Bundespräsident Christian Wulff auf seiner Mailbox hinterlassen hatte. Diekmann machte erst einen Witz daraus, der von „Meedia“ gleich aufgeregt nacherzählt wurde, und ließ die Pressestelle dann antworten. „Die Antworten der Bild“, urteilt Winterbauer, „enthielten nichts Brisantes oder Neues, sondern ausführlich dargestellt noch einmal die Angaben zu den Abläufen und die redaktionellen Erwägungen, warum die Mailbox-Nachricht zunächst in der Berichterstattung thematisiert wurde.“

(Er meint vermutlich: nicht.)

Dabei ist die Antwort von „Bild“ in mehrfacher Hinsicht entlarvend. Zum Beispiel schreibt die Pressestelle:

Nachdem die Redaktion die Abschrift der Nachricht an das Büro des Bundespräsidenten übermittelt hatte, häuften sich bei der Axel Springer-Pressestelle Anfragen von Journalisten zum vollständigen Inhalt der Nachricht. In Gesprächen wurden einige der bereits bekannten Passagen erläutert.

Wer in seinem Beruf ein bisschen mit Antworten von Pressestellen zu tun hat, kann erahnen, dass die Formulierungen im letzten Satz wohl vor allem der Verschleierung dienen. Journalisten rufen bei Springer an, wollen den kompletten Text wissen und die Pressestelle „erläutert“ „einige der bereits bekannten Passagen“? Was bedeutet das überhaupt? Man muss vermutlich bei einem PR-affinen Unternehmen wie „Meedia“ arbeiten, um das für eine befriedigende oder gar erschöpfende Antwort von „Bild“ zu halten.

In Wahrheit war es offenbar so, dass „Bild“ mehreren Journalisten zu verschiedenen Zeitpunkten die Abschrift der Nachricht am Telefon vorgelesen hat — unter der Maßgabe, das Gespräch nicht mitzuschneiden und es nicht vollständig zu veröffentlichen.

Insofern stimmt es in einem sehr engen, sehr wörtlichen Sinne womöglich auch, wenn „Bild“ der „taz“ antwortet:

Eine Abschrift der Nachricht wurde von der Pressestelle an keine Zeitung oder Zeitschrift geschickt. Es gab keinen Auftrag an Redakteure von Bild, die Nachricht oder Passagen daraus weiterzugeben.

Nicht nur an dieser Stelle klaffen größere Lücken in der Antwort von „Bild“. Genau genommen äußert sie sich nur über ihr Verhalten vor dem 1. Januar und nach dem 5. Januar — das ist leider der „taz“ ebensowenig aufgefallen wie Winterbauer. Dabei ist gerade der Zeitraum dazwischen interessant, in dem die Geschichte in die „Süddeutsche Zeitung“ kam und dann explodierte. In dem die „Bild“-Zeitung so tat, als habe sie nichts mit der Berichterstattung zu tun. Weshalb sie dann ganz scheinheilig den Bundespräsidenten fragen konnte, ob sie die Nachricht veröffentlichen dürfe, und ganz scheinanständig darauf verzichtete, als er ablehnte.

Ich würde unterstellen, dass die Leerstellen in den Antworten von „Bild“ sehr bewusste Leerstellen sind. Es wirkt ein bisschen, als würde man gefragt, ob man eine Geschäftsbeziehung zu einem Unternehmer gehabt habe, und verneint, weil man ja nur mit seiner Ehefrau einen Kreditvertrag hatte.

Als ich den „Bild“-Sprecher für „Spiegel Online“ nach einigen dieser Leerstellen fragte, war es plötzlich vorbei mit der Transparenz, die man dem Publikum und Leuten wie Winterbauer vorgespielt hat. Es gab auf keine meiner Fragen eine Antwort. Das ist kein Wunder, denn das ist das normale Verhalten des „Bild“-Sprechers. Zu laufenden Verfahren, zu redaktionellen Entscheidungen, zu Personalspekulationen, zu Interna, zu Thema XY äußert er sich grundsätzlich nicht.

Wenn dieser Verlag, wenn dieses Blatt, jemanden anders zu Transparenz und Wahrhaftigkeit auffordert, dann ist das selbst dann ein böser Witz, wenn die Forderung berechtigt sein sollte.

Aber Kai Diekmann sagt auf kritische Nachfragen manchmal etwas Lustiges, das man aus der Ferne mit Selbstironie verwechseln könnte. Nicht nur für die Leute von „Meedia“ ist das mehr wert als jede Wahrheit. Auch deshalb kommt „Bild“ so oft mit ihren Halbwahrheiten und Heucheleien durch.

Im Namen des Volkes?

Der Spiegel

Den Ansprüchen, die viele Journalisten an den Bundespräsidenten haben, werden sie selbst oft nicht gerecht. Kein Wunder, dass das Publikum nun zwischen Politik- und Medienverdrossenheit schwankt.

Es ist noch nicht soweit, dass in den Online-Medien jetzt täglich Meldungen erschienen, wie sehr das Ansehen der Presse in der Bevölkerung gesunken sei. Wie dramatisch der Absturz gegenüber derselben Umfrage vom Vortag und vom Vorvortag sei, wie hoch der Anteil derjenigen, die sagen, sie seien enttäuscht von der Berichterstattung, und wie niedrig die Zahl derer, die den Medien noch ihr Vertrauen aussprechen. Es gibt noch nicht stündlich Folgemeldungen mit Überschriften wie: „Glaubwürdigkeitskrise der Medien hält an“,“Druck auf Medien wächst“, „Politiker enttäuscht über Reaktion der Medien auf Kritik“. Es gibt aber natürlich auch niemanden, dessen Rücktritt man konkret herbeischreiben könnte.

Jörg Schönenborn, der Chefredakteur des WDR-Fernsehens, hat die Medien schon am Freitag vorvergangener Woche gewarnt, sich als Gewinner der Affäre um Bundespräsidenten Christian Wulff zu sehen. Die Mehrheit der Deutschen nehme die Berichterstattung inzwischen als unfaire Hetzjagd wahr, sagte er.

Tatsächlich scheint es, als begleiteten inzwischne zwei skandierende Gruppen von Menschen die Diskussion. Eine, die dem Bundespräsident „Zurücktreten!“ zuruft, und eine, die in Richtung der Medien „Aufhören!“ schreit. Es lässt sich in diesen Tagen nicht nur eine Verdrossenheit mit der Politik feststellen, sondern auch eine mit den Medien.

Wenn die zu einem Mitleids- und Solidarisierungseffekt mit dem Bundespräsidenten führt, wie ihn Schönenborn festgestellt hat, ist das noch die harmloseste Folge: Man mag das bedauern angesichts der berechtigten Vorwürfe gegen Wulff. Aber es ist ein alltäglicher, natürlicher und womöglich letztlich gesunder Reflex: auf das Gefühl übertriebener Angriffe mit einem Widerwillen zu reagieren.

Nur geht es längt nicht mehr „nur“ um Wulff. Es geht um die Medien selbst und die Akzeptanz ihrer Rolle. Es geht letztlich darum, wie sie ihre Aufgabe als Kontrolleure der Mächtigen erfüllen können, wenn größere Teile des Publikum diese Aufgabe als Anmaßung wahrnehmen. So sehr sich die Fälle im Detail unterscheiden, Wulff steht da in einer Reihe mit den Debatten um Sarrazin und Guttenberg, bei denen ebenfalls ein größerer Unmut spürbar wurde über die jeweils als Kampagne wahrgenomme mediale Kritik.

Nun ist das Publikum kein zuverlässiger Indikator für die Qualität und Angemessenheit einer Berichterstattung. Das liegt nicht nur daran, dass ein Teil natürlich parteiisch ist und es blind ablehnt, wenn ein Politiker, dessen Anhäger sie sind, hartnäckig mit kritischen Fragen konfrontiert wird. Es ist auch so, dass die Ermüdung des Publikums kein Argument dagegen sein kann, einer Sache auf den Grund zu gehen, auch wenn das länger dauert. Es zeichnet guten Journalismus aus, weiterzurecherchieren, auch wenn die Aufmerksamkeitspanne der Schaulustigen längst überschritten ist.

Die entscheidende Frage ist: Für wen machen wir Journalisten das? Letztlich im Interesse des Volkes – auch wenn es das womöglich nicht zu jedem Zeitpunkt so empfindet? Oder doch nur für uns?

Es lässt sich dabei eine Verschärfung des üblichen Verdachtes gegen die Medien feststellen, von dem Wunsch nach kurzfristige Auflagen- und Quotensteigerungen angetrieben zu sein. Diese Motive deuten ja wenigstens darauf hin, dass es eine Interessiertheit der Öffentlichkeit gibt, wenn auch vielleicht kein hehres öffentliches Interesse. Die Verschärfung ist die Vermutung, dass Journalisten in ihrem ganz eigenen Interesse handeln. Dass es um ihre Eitelkeit geht und letztlich: um ihre Macht.

Es ist aber auch frustrierend. Christian Wulff steht seit Wochen am Abgrund. Es fehlen höchstens noch ein paar Millimeter, bis er stürzt, vielleicht schwebt er auch schon, wie der Kojote aus den Roadrunner-Cartoons, in der Luft und fällt nur nicht, weil er noch nicht gemerkt hat, dass er keinen Boden mehr unter den Füßen hat.

Dass er am Abgrund steht, ist das Verdienst von Journalisten und es ist die Schuld von Christian Wulff. Aber dort steht er nun und weigert sich zu fallen. Und nun? Die große Mehrheit der Medien ist überzeugt, dass er zurücktreten müsste und hat das in vielen Kommentaren deutlich gesagt. „Es ist nicht die Aufgabe der Medien, einen Rücktritt zu erzwingen“, hat Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben. „Ein Rücktritt ist nicht die den Medien zustehende Bestätigung und Belohnung für die Aufdeckung einer Affäre.“ Theoretisch sehen die Medien das auch so. Selbst die „Bild“-Zeitung behauptet, nur die Fakten zusammenzutragen – das Urteil, ob Wulff im Amt bleiben solle, falle letztlich das Volk.

Das scheint diesen Eindruck nicht unbedingt zu haben, und es hat guten Grund zur Vermutung, dass größere Teile Medienwelt sich nicht mehr damit zufrieden geben, Ermittler zu sein. Und auch nicht damit, Urteile fällen. Sie wollen, dass diese Urteile vollstreckt werden.

Eine ganze Armada von Journalisten ist in diesen Wochen damit beschäftigt, jedes Detail in der politischen Biographie von Christian Wulff unter die Lupe zu nehmen. Es ist eine Recherche, die natürlich eine Richtung hat. Diese Richtung bekommt sie nicht – oder jedenfalls nicht nur – daher, dass gerade Jagdsaison auf den Bundespräsidenten ist. Diese Richtung beruht auf der Annahme, dass sich die problematische Eigenschaft eines Politikers, die in mehreren Fällen zu fatalen Entscheidungen geführt hat, mit großer Wahrscheinlichkeit auch in weiteren Fällen ausgewirkt hat, die noch nicht öffentlich geworden sind.

Journalisten suchen, ob nicht weitere Kiesel zu finden sind, die in die Waagschale gegen Christian Wulff zu werfen wären. Diese Suche ist nicht nur legitim; sie ist auch notwendig. Doch es scheint, als sei selbst das für eine wachsende Zahl von Menschen nicht mehr selbstverständlich. Schon die bloße Recherche hat etwas Anrüchiges bekommen.

Das ist kein Wunder. Vor dem Hintergrund der Affäre um Christian Wulff gelten plötzlich andere Maßstäbe, was nachrichtenwürdig ist. Kleinste Verfehlungen oder harmloseste Anekdoten, die normalerweise nicht publiziert oder jedenfalls nicht skandalisiert worden wären, werden plötzlich zu großen Geschichten. Das sonstige Auswahlkriterium, etwas Neues zu erzählen, weicht plötzlich dem, das Bekannte zu bestätigen.

Oft sind nicht einmal irgendwelche neuen Fakten notwendig, um das Hamsterrad am Laufen zu halten. Agenturen und Medien haben in den vergangenen Wochen längst bekannte Vorwürfe immer wieder recycelt und als neu behandelt; vor allem Online-Medien schienen sich selbst dazu verpflichtet zu haben, unabhängig von der Frage, ob es tatsächlich Berichtenswertes gibt, am Thema zu bleiben. Als wollten sie die Zeit überbrücken zu wollen, bis – womöglich – jemand einen echten neuen Skandal recherchiert hat. Oder eben: Als wollten sie eine Nachricht und ein Ergebnis zu erzwingen. Sie warfen keine neuen Kiesel in die Waagschale, sondern immer wieder dieselben, aus anderen Richtungen, mit verändertem Schwung.

Es mag sein, dass sie damit am Ende Erfolg haben werden, wenn sie nach dem „ersten CDU-Abgeordneten“, der Wulffs Rücktritt fordert, und dem zweiten auch einen dritten, vierten und fünften gefunden haben, vielleicht. Sie untergraben in diesem Prozess nur ihre eigene Autorität, und die wird eigentlich in dieser Demokratie noch gebraucht.

Journalisten sind die natürlichen Gegenspieler von Politikern, aber nicht in eigener Sache, sondern stellvertretend für die Öffentlichkeit. Je mehr das Volk das Gefühl bekommt, dass die Journalisten nicht auf ihrer Seite stehen, sondern nur Partei für sich selbst sind, in einer Welt mit den Politikern, die gar nicht die des Volkes ist, umso leichter werden es Mächtige haben, sich berechtigten Nachfragen zu entziehen und damit durchzukommen.

Natürlich ist es ein Machtspiel, das dort stattfindet. Die Frage, ob Christian Wulff geeignet ist, Bundespräsident zu sein, lässt sich nicht mehr trennen von der Frage, ob Christian Wulff Bundespräsident bleiben kann, wenn die Medien das für ausgeschlossen halten. Der spielerische Charakter ist in den vergangenen Tagen besonders offenkundig geworden, als die Medien Wulffs angebliches Versprechen, sämtliche Hunderten von Presse-Anfragen und die Antworten darauf, öffentlich zu machen, als neue Trümpfe nutzten.

Wulffs Anwalt hatte behauptet, eine Veröffentlichung verletze die Rechte der fragenden Medien. Die spielten eine Karte nach der anderen aus: Sie prangerten erst das „gebrochene Versprechen“ an. Dann erklärten viele von ihnen öffentlichkeitswirksam (und unter pathetisch-irreführenden Überschriften wie: „Zeitungen entbinden Wulffs Anwalt von Schweigepflicht“), sie verzichteten auf ihre Rechte. Schließlich veröffentlichte etwa die „Welt“ ihre eigenen Fragen und die Antworten, die sie bekommen hatten, selbst.

Worum geht es hier? Um Aufklärung in der Sache längst nicht mehr: Die Ergebnisse ihrer Anfragen beim Präsidenten haben die Journalisten ohnehin nutzen können. Und wenn es ihnen tatsächlich um umfassende Transparenz gegangen wäre, hätte sie auch niemand daran gehindert, ihre eigenen Fragen und Antworten längst öffentlich gemacht zu haben.

Es ist schwer, in all dem mehr zu sehen, als den Versuch, den Präsidenten vorzuführen und bloßzustellen. Die Munition dafür hat Wulff, wieder einmal, selbst geliefert. Aber macht das die Berichterstattung relevant? Rechtfertigt das die Dominanz und endlose Fortschreibung des Themas?

Das Misstrauen des Publikums wird im konkreten Fall noch verstärkt durch die zentrale, aber zutiefst intransparente Rolle, die die Axel Springer AG und speziell die „Bild“-Zeitung darin spielt. Anstatt den Anruf Wulffs bei Chefredakteur Kai Diekmann selbst publik zu machen, ließ das Blatt ihn seinen Weg in die Öffentlichkeit über andere Medien finden – und lieh sich auf diese Weise deren Seriösität und wurde scheinbar vom Beteiligten zum Beobachter. Viele, die den etablierten Medien ohnehin kritisch gegenüberstehen, sahen hinter der Berichterstattung insgesamt den Springer-Verlag die Strippen ziehen – ganz abgesehen von der traurigen Ironie, dass ausgerechnet ein Medium, dem selbst Drohungen nicht fremd sind, plötzlich durch eine Drohung in die Rolle des Opfers eines vermeintlichen Angriffs auf die Pressefreiheit gelangte.

Tatsächlich half es Springer und „Bild“, dass zunächst nur einzelne Bruchstücke aus Wulffs Nachricht an die Öffentlichkeit kamen und Urteile gefällt wurden, ohne die ganze Wahrheit zu kennen. Geholfen hätte den Medien das, was auch Wulff geholfen hätte: Wahrhaftigkeit und Transparenz. Sie verlassen sich, wie der Bundespräsident, viel zu sehr darauf, dass das Publikum ihnen und ihrem Urteil schon vertraut, obwohl längst alles dagegen spricht, dass das der Fall ist.

Die Medien, ungerecht und pauschal verallgemeinert, werden den Ansprüchen, die sie an den Bundespräsidenten stellen, selbst nicht gerecht. Es ist legitim und richtig, an ein Staatsoberhaupt und an die Mächtigen und Verantwortlichen im Lande überhaupt besondere Ansprüche zu stellen. Aber die Pressefreiheit, die hier scheinbar gerade verteidigt wird, ist mehr als nur ein Selbstzweck, und wenn die Medien der mit ihr verbundenen Pflicht gerecht werden wollen, müssen sie besser werden, maßvoller, verantwortungsvoller.

57 Prozent der Befragten haben Anfang Januar in einer repräsentativen Umfrage für die ARD gesagt, sie hätten den Eindruck, „die Medien wollen Wulff fertig machen“. Selbst wenn dieser Eindruck täuschen sollte, wäre es an den Medien, ihn zu korrigieren.

Wulffs „400 Fragen, 400 Antworten“

Der „Tagesspiegel“ war sichtlich stolz auf seine Exklusiv-Meldung. Online hob er sie mit einem gelben Textmarker-Hinweis hervor; gedruckt brachte er sie ganz oben auf Seite 1.

Sie lautete:

Wulffs Anwalt: Antworten bleiben geheim

Berlin – Bundespräsident Christian Wulff verweigert die Herausgabe von Fragen und Antworten zu seiner Affäre. Dies teilte sein Anwalt Gernot Lehr, der die Fragen für Wulff beantwortet hat, dem Tagesspiegel mit. „Der im Mandantenauftrag geführte Schriftverkehr zwischen Anwälten und Dritten fällt unter die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht. Aus diesem Grund sowie aus Gründen der praktischen Handhabbarkeit für alle Beteiligten ist eine zusammenfassende Stellungnahme erfolgt“, sagte Lehr. In seinem TV-Interview hatte Wulff gesagt: „Ich geb Ihnen gern die 400 Fragen, 400 Antworten.“ (…)

Die Agenturen sprangen sofort darauf an. Schon um 5:55 Uhr morgens verbreitete Reuters die Meldung mit folgendem Hintergrund:

Wulff hatte in der vergangenen Woche in seinem Interview mit ARD und ZDF gesagt: „Ich gebe Ihnen gern auf die 400 Fragen 400 Antworten.“ Man müsse die Transparenz weitertreiben, was auch neue Maßstäbe setze. „Morgen früh werden meine Anwälte alles ins Internet einstellen. Dann kann jede Bürgerin, jeder Bürger, jedes Detail zu den Abläufen sehen (…).“

AFP, dapd, dpa zogen alle noch im Lauf des Vormittags nach. Bei dpa las sich der entscheidende Widerspruch so:

Wulff hatte in der vergangenen Woche im Interview von ARD und ZDF angekündigt, er wolle in der Affäre für vollständige Transparenz sorgen. „Morgen früh werden meine Anwälte alles ins Internet einstellen. Dann kann jede Bürgerin, jeder Bürger jedes Details zu diesen Abläufen sehen und bewertet sehen, auch rechtlich“, sagte er. „Ich geb‘ Ihnen gern die 400 Fragen, die 400 Antworten.“

In späteren Meldungen behauptete dpa, der Bundespräsident habe „eine öffentliche Dokumentation der Fragen und Antworten zu den Vorwürfen gegen das Staatsoberhaupt“ „versprochen“.

Hat er das wirklich?

Die Zitate Wulffs stimmen. Sie stammen alle aus dem Interview, das er in der vergangenen Woche ARD und ZDF gegeben hat. Aber der Satz, dass seine Anwälte „alles ins Internet einstellen werden“, und der Hinweis auf „die 400 Fragen, die 400 Antworten“, fielen keineswegs im selben Zusammenhang.

Wulff sagte einerseits:

Morgen früh werden meine Anwälte alles ins Internet einstellen. Dann kann jede Bürgerin, jeder Bürger jedes Detail zu diesen Abläufen sehen und bewertet sehen, auch rechtlich.

Er sagte das im Kontext, dass „man“ (er meint: „ich“) „die Transparenz weitertreiben muss“. Über die „400 Fragen“ spricht er sehr viel später:

Schausten: Können Sie denn garantieren, dass nicht noch etwas anderes nachkommt in der Affäre, über die wir jetzt sprechen?

Wulff: Also bei 400 Fragen und wenn gefragt wird, was es zu essen gab, bei Ihrer ersten Hochzeit und wer Ihre zweite bezahlt hat und ob Sie den  Unterhalt für Ihre Mutter gezahlt haben und ich könnte jetzt tausend Sachen mehr nennen und wer die Kleider für Ihre Frau gezahlt hat, welche geliehen waren, welche sozusagen als geldwerter Vorteil versteuert  werden, dann kann ich nur sagen, ich geb Ihnen gern die 400 Fragen – 400 Antworten. Da ist jetzt etwas, was einen dann innerlich auch nach solchen drei Wochen irgendwo freimacht, dass man sagt, also jetzt ist wirklich alles von innen nach oben und umgekehrt gewendet. Und man muss sich dann auch fragen, ob nicht dann auch es irgendwann akzeptiert wird, dass auch ein Bundespräsident ein privates Leben haben darf.

Er spricht hier davon, dass er glaubt, sich keine Sorgen darüber machen zu müssen, dass noch neue Enthüllungen ans Tageslicht kommen. Die 400 Fragen, auf die er ebenso viele Antworten gegeben habe, hätten wohl alles abgedeckt. Er blickt nicht in die Zukunft, wenn die Anwälte irgendetwas veröffentlichen würden, sondern in die Vergangenheit: Es hätte ihn „innerlich freigemacht“, das Gefühl zu haben, alles gefragt worden zu sein und alles beantwortet zu haben.

Womöglich kann man das auch anders verstehen. Ganz sicher war Wulff — wieder einmal — dumm, dass er das Veröffentlichen eines sechsseitigen Papiers mit Antworten als revolutionären Akt der Transparenz verbrämte. Aber es spricht einiges dafür, dass er nicht angekündigt oder versprochen hat, alle 400 Fragen und Antworten im Internet veröffentlichen zu lassen.

Die Agentur Reuters ist immerhin genau genug, in einer Meldung am Dienstagabend so zu formulieren:

Mittwoch vergangener Woche hatte Wulff im Interview von ARD und ZDF angekündigt, auf die bis dahin 400 eingereichten Fragen gebe er gerne 400 Antworten. Er wolle mit der Transparenz neue Maßstäbe setzen. Seine Anwälte würden noch am Folgetag „alles ins Internet einstellen“. Jeder Bürger könne dann jedes Detail bewerten. Dies war vielfach so verstanden worden, als werde er sämtliche Antworten auf Anfragen von Medien öffentlich machen.

Ja: Es war vielfach so verstanden worden. Eindeutig gesagt hatte er es nicht.

Doch die Medien taten so, als hätte er. Und hatten frische Munition.

„Spiegel Online“ brachte den Vorwurf auf die schlichte schlagzeilentaugliche Formel:

Wulff bricht sein Versprechen

Und komponierte entsprechend Wulffs Zitate sehr frei wie folgt zusammen:

Am Mittwoch hatte das Staatsoberhaupt in einem Interview mit ARD und ZDF noch angekündigt: „Ich geb Ihnen gern auf die 400 Fragen 400 Antworten.“ Man müsse die Transparenz weitertreiben, „die setzt auch neue Maßstäbe“. „Morgen früh werden meine Anwälte alles ins Internet einstellen. Dann kann jede Bürgerin, jeder Bürger jedes Details zu den Abläufen sehen — und bewertet sie auch rechtlich.“

Der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag Peter Altmaier sagte dem „Hamburger Abendblatt“: „Ich hielte es für unglücklich, wenn der Eindruck entstünde, dass die Anwälte des Bundespräsidenten jetzt hinter dem zurückbleiben, was er selbst in einem Fernsehinterview angekündigt hat.“ Gegenüber der WAZ-Mediengruppe nutzte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel den angeblichen Widerspruch zwischen Versprechen und Einlösung für neue, alte Angriffe auf Wulff. Die „WAZ“ behauptete in diesem Zusammenhang:

In seinem Fernseh-Interview in der vergangenen Woche hatte Wulff erklärt, er wolle die 400 Medienanfragen, die er über seine Anwälte beantwortet habe, der Öffentlichkeit zugänglich machen und so in der Transparenz „neue Maßstäbe“ setzen.

Die Agentur dapd nutzte die Kritik an der Nichtveröffentlichung am Mittwochabend für eine Meldung mit dem sich selbsterfüllenden Titel: „Wulff-Affäre nimmt keine Ende“.

Den Anlass für die weiteren negativen Schlagzeilen hat zu einem größeren Teil wieder Wulff selbst geliefert. Aber wäre es zuviel verlangt von den Medien, im Umgang mit dem Bundespräsidenten, bei dem sie jetzt alles ganz genau nehmen, alles ganz genau zu nehmen?

[via Werner Berger in den Kommentaren]

Vom Glück, „Bild“ zu sein

Ich frage mich, ob man als „Bild“-Zeitung-Macher manchmal darunter leidet, dass man es zu leicht hat. Man kann heute alle Register eines unseriösen Schmuddelblattes ziehen, und sich morgen wieder als seriöse Zeitung geben. Man hat die Wahl, Dinge zu veröffentlichen, Dinge nicht zu veröffentlichen und Dinge zu veröffentlichen, ohne sie zu veröffentlichen. Man kann es mit der Wahrheit ganz genau nehmen oder schon das Konzept „Wahrheit“ an sich als eine Erfindung von Korinthenkackern abtun. Man muss niemandem Rechenschaft ablegen oder tut es einfach nicht. Und keine Sekunde muss man sich um sein dummes Geschwätz von gestern kümmern.

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Fangen wir der Einfachheit halber ganz hinten an: Beim Auftritt von Nikolaus Blome bei Günther Jauch gestern abend. Blome ist der stellvertretende Chefredakteur der „Bild“-Zeitung. Sein Dackelblick ist in den vergangenen Monaten so etwas wie das menschliche Antlitz von „Bild“ in der Öffentlichkeit geworden.

Auch bei Jauch hatte er es leicht. Niemand wollte so recht die Rolle der „Bild“-Zeitung in dem Spektakel der letzten Wochen thematisieren; es ging um Wulff.

Immerhin stellte jemand eine berechtigte Frage: Warum es zwei Wochen gedauert hat, bis Wulffs angebliche Droh-Nachricht auf der Mailbox von „Bild“-Chef Kai Diekmann an die Öffentlichkeit kam.

Blome hatte einen originellen Erklärungsversuch: Er vermutet, dass der Auslöser die Kritik von Bundestagspräsident Norbert Lammert gewesen sei, der es an Silvester gewagt hatte zu sagen: „Auch die Medien haben Anlass zu selbstkritischer Betrachtung ihrer offensichtlich nicht nur an Aufklärung interessierten Berichterstattung.“ Daraufhin, so Blomes These, hätten die sich zu Unrecht angegriffen fühlenden Journalisten die Mailbox-Sache in die Öffentlichkeit gebracht.

Außerdem, fügte er hinzu, sei die Geschichte mit der Nachricht auf der Mailbox ja erst richtig groß geworden, nachdem Wulff selbst in seinem Interview in ARD und ZDF darüber geredet und ihren Inhalt — Blomes Ansicht nach — falsch dargestellt habe, nämlich als bloßen Versuch, einen Tag Aufschub herauszuhandeln.

Ich glaube, dass es einen Menschen auf Dauer deformiert, wenn er so etwas sagen kann, ohne dass er schallendes Gelächter erntet oder ihm jemand sachte die Hand auf den Arm legt und sagt: „Herr Blome? Der Bundespräsident musste das Interview überhaupt nur geben, weil der öffentliche Druck so groß geworden war, nachdem die Sache mit der Mailbox an die Öffentlichkeit gekommen war.“

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Was für eine bizarre Situation: In der ARD-Talkshow zitiert Jauch, was der „Spiegel“ unter Berufung auf Springer über Wulffs Anrufe bei Diekmann und Vorstandschef Mathias Döpfner schreibt, und fragt Blome, ob das richtig sei. Was der „Spiegel“ schreibt. Was er von Springer weiß. Und Blome bestätigt es.

Die „Bild“-Zeitung fragt öffentlich beim Bundespräsidenten an, ob sie den Wortlaut seiner Mailbox-Nachricht veröffentlichen darf. Als er Nein sagt, verzichtet sie, ganz das hyperseriöse Blatt, auf eine Veröffentlichung.

Zu diesem Zeitpunkt haben Springer-Leute anderen Journalisten ausführlich aus der Abschrift der Nachricht am Telefon vorgelesen — unter der Maßgabe, nicht vollständig mitzuschreiben und das Gespräch nicht aufzuzeichnen.

Die „Bild“-Zeitung feuert die Munition, die ihr der Bundespräsident in seiner Dummheit geliefert hat, nicht selbst ab. Sie reicht sie an andere weiter. Sie kann nach dem großen Knall ihre Hände vorzeigen: keine Schmauchspuren.

Sie muss sich keinen Fragen stellen, ob es womöglich ein Vertrauensbruch war, Details aus der Nachricht zu veröffentlichen, wenn Diekmann doch gegenüber Wulff die Sache nach einer Entschuldigung als erledigt bezeichnet hatte. Sie hat sie ja nicht veröffentlicht. Außer doch.

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Letztens hat mich ein Kollege gefragt, wer eigentlich der Böse in der Geschichte sei, „Bild“ oder Wulff. Das ist die falsche Frage und in Wahrheit gar keine Alternative. Klar ist, wer der Depp ist und wer der klug Handelnde.

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Ich verstehe den Frust darüber, in welchem Maße sich die Berichterstattung auf den Bundespräsidenten konzentriert und wie wenig sie sich um die Rolle von „Bild“ kümmert. Es gibt dafür aber immerhin einen guten Grund: Es geht auf der einen Seite um die Ansprüche an das deutsche Staatsoberhaupt und auf der anderen Seite nur um die an eine Boulevardzeitung.

Anders gesagt: Wir haben in den vergangenen Wochen einiges Neues über den Charakter von Christian Wulff gelernt. Und nichts Neues über den Charakter der „Bild“-Zeitung.

Natürlich kann man sich, wenn man will, darüber empören, dass das, was man Kai Diekmann auf die Mailbox spricht, nicht vertraulich bleibt. Oder, alternativ, dass Diekmann nicht die Eier hat, die Grenzüberschreitung selbst öffentlich zu machen und mit offenem Visier zu kämpfen. Aber hat irgendjemand etwas anderes von Kai Diekmann erwartet?

Es mag allerdings sein, dass Wulff Grund zur Annahme hatte, er könne sich diese Art der Einflussnahme erlauben. Vielleicht hat das früher geklappt, Freundschaftsdienste auf diese Weise einzufordern. Auch das dürfte — angesichts der Art, wie „Bild“ für Wulff PR gemacht hat und wie sehr Wulff der „Bild“ Exklusiv-Geschichten geschenkt hat — niemanden wundern.

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Erinnert sich noch jemand an das Jahr 2004, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Pressefreiheit in Deutschland abschaffte? Durch das sogenannte „Caroline-Urteil“ wurde das Recht eingeschränkt, über Privates aus dem Leben von Prominenten zu berichten, wenn es keinem anderen Interesse dient als der Sensation oder Unterhaltung. Siebzig Chefredakteure riefen damals in einem offenen Brief „Zensur!“, weil die „wichtigste Aufgabe der freien Presse, den Mächtigen auf die Finger zu schauen, massiv behindert“ werde. Es unterschrieben in einem der traurigsten Akte fehlgeleiteter journalistischer Solidariät unter anderem die Chefredakteure von „Spiegel“, „Stern“, „Playboy“, „Das neue Blatt“, „Neue Post“, „Das Haus“ und natürlich „Bild“ und „Bild am Sonntag“.

„Bild“ beließ es nicht dabei. Öffentlichkeitswirksam kündigte Kai Diekmann damals an, Konsequenzen aus dem Urteil zu ziehen und bis auf weiteres auf Homestories über Politiker zu verzichten. Nach dem „Maulkorburteil“ sei unklar, was an kritischer Berichterstattung noch erlaubt sei. „Deshalb müssen wir umgekehrt beim Leser jetzt von vornherein jeden Anschein vermeiden, wir würden mit eingebauter Schere im Kopf nur noch Hofberichterstattung betreiben.“

Das war damals schon lächerlich. Und keine zwei Jahre später begann in „Bild“ der große (inzwischen abgeschlossene) Liebesroman „Christian Wulff und sein perfektes Privatleben“, mit Berichten über neue Wohnungen, neue Frisuren, neue Kinder, neues Glück.

Natürlich hatte „Bild“ dabei die Schere im Kopf. Es war die ganz eigene Schere der kalkulierten Hofberichterstattung über Menschen, die sich auf das Spiel von „Bild“ einlassen und ihr den Stoff geben, den sie begehrt.

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Als Nikolaus Blome von Günther Jauch gefragt wurde, ob man an der Berichterstattung über Wulff — erst rosarot verklärt, dann gnadenlos vernichtend — das berüchtigte Aufzugs-Prinzip von „Bild“ erkennen könnte, antwortete der „Bild“-Mann erst mit einer witzig gemeinten Bemerkung darüber, dass es in der Axel-Springer-Zentrale in Berlin einen Paternoster gebe. Dann fand er es abwegig, und meinte das offenbar leider nicht mehr als Witz, dass man „Bild“ vorwerfe, aus der „eher glimpflichen Scheidung“ der Wulffs „keine Schlammschlacht“ gemacht zu haben. Und schließlich sagte er noch, dass einige der PR-Schlagzeilen, die „Bild“ Wulff in den Zeiten bester Zusammenarbeit schenkte und die Jauch gezeigt hatte, bloß aus den Regionalausgaben von „Bild“ stammten. Blome sagte die Unwahrheit. Jede der gezeigten Geschichten war in der Bundesausgabe.

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Es ist schon richtig, dass an einen Bundespräsidenten andere Ansprüche an Ehrlichkeit zu stellen sind als an den stellvertretenden Chefredakteur einer Boulevardzeitung. Das bedeutet aber nicht, dass man ihm und seinem Blatt jede Lüge, jeden schmierigen Trick, jede irrwitzige Pose einfach durchgehen lassen muss.

Ein chronischer Lügner und Trickser beschuldigt jemanden, zu lügen und zu tricksen. Das ist selbst dann ekelhaft, wenn der Vorwurf — wie offenbar in diesem Fall — stimmt. Deshalb hat die langjährige Freundin von Wulff Recht, wenn sie bei Jauch rührend hilflos fomuliert, sie möchte in keinem Land leben, in dem die „Bild“-Zeitung bestimmt, was Moral und was richtig ist.

Und deshalb ist der Eindruck so verheerend, dass andere Medien sich von „Bild“ haben einspannen lassen, der „Bild“-Geschichte an den entscheidenden Stellen die eigene Seriösität leihen und Seite an Seite mit „Bild“ kämpfen.

„Es gab keinen Bruch“ in der Beziehung zwischen „Bild“ und Wulff, heuchelte Blome. Das ist sowohl angesichts der real existierenden Berichterstattung von „Bild“ als auch angesichts von Wulffs Nachricht auf der Mailbox offenkundig unwahr. Blome meint natürlich, dass es nie eine innige Beziehung zu Wulff zum beiderseitigem Vorteil gegeben habe.

Das Problem ist, dass bis heute unklar ist, was den Bruch ausgelöst hat. Es könnte einen konkreten Anlass gegeben haben; vielleicht war es auch bloß die Abwägung von „Bild“, dass sich inzwischen ein exklusiver Zugang zu Wulff samt schöner Geschichten weniger lohnt als die Möglichkeit, sich an die Spitze seiner Kritiker zu setzen.

Das ist eine größere Leerstelle in der Geschichte und sie korrespondiert mit vielen kleinen Leerstellen, die der Springer-Verlag gelassen hat. Eine Woche lang musste sich die Nation ein Urteil über eine Nachricht von Christian Wulff erlauben, das allein auf einzelnen kurzen Satzfetzen beruhte, die der Springer-Verlag lanciert oder freigegeben hat. Offenbar hat bis jetzt noch niemand außerhalb des Springer-Verlages die Nachricht selbst gehört. Quelle ist allein eine Abschrift des Telefonates.

Dadurch, dass „Bild“ das Gespräch nicht vollständig veröffentlicht hat, schützte das Blatt nicht Wulff, sondern maximierte den Schaden, weil es die Veröffentlichung weitgehend steuern und die Interpretation beeinflussen konnte. (Dass der Bundespräsident dann die geschickt später nachgeschobene Bitte von „Bild“, die Nachricht nun auch offiziell veröffentlichen zu dürfen, ablehnte, spricht natürlich wieder für seine umfassende Ungeschicklichkeit und Dummheit in dieser Sache.)

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Ein Schlüsselmoment in der Affäre ist, als der später entlassene Wulff-Sprecher Olaf Glaeseker den „Bild“-Reporter Martin Heidemanns am 6. Dezember ins Schloss Bellevue bittet. Er will die Gerüchte ausräumen, dass der zwielichtige Unternehmer Carsten Maschmeyer hinter dem Kredit für sein Haus steckt, und deshalb „Bild“ verraten, von wem das Geld wirklich stammt.

Das Dokument, mit dem „Bild“ von der Verbindung zu den Geerkens erfuhr und die Frage aufwerfen konnte, ob Wulff das niedersächsische Parlament 2010 belogen hat, bekam das Blatt also vom Präsidentensprecher selbst. Strittig ist, unter welchen Voraussetzungen: Wulff sagt, Heidemanns habe versprochen, den Namen des Kreditgebers nicht zu nennen. Das erklärt vermutlich auch seinen Zorn und seine Drohung mit strafrechtlichen Schritten. Heidemanns sagt, er habe vor Ort diese Forderung ausdrücklich abgelehnt, und Glaesekers habe ihm das Dokument dann trotzdem gezeigt.

Ich weiß natürlich nicht, wer die Wahrheit sagt. Aber ich weiß, wer Martin Heidemanns ist. Er ist bei Menschen, die mit ihm zu tun haben mussten, ein besonders verhasster „Bild“-Mann. Seine Drohungen und auf die Betroffenen erpresserisch wirkenden Methoden sind berüchtigt.

Und auf diesen Mann glaubt der Bundespräsident seine Entlastungsstrategie aufbauen zu können? Ihm lässt er die entscheidenden Dokumente zeigen? Ich weiß nicht, ob Heidemanns Stillschweigen versprochen hat oder nicht. Es ist aber auch vollständig egal, da man schon außerordentlich blauäugig sein muss, um ihm zu trauen.

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Christian Wulff ist, das zeigt auch dieses Detail, nicht darüber gestolpert, dass er sich mit „Bild“ angelegt hat, sondern darüber, dass er immer noch glaubte, mit ihr gemeinsame Sache machen zu können.

Das ist eine wichtige Erkenntnis, denn das wäre eine verheerende Lehre, die Prominente und Politiker aus der ganzen Geschichte ziehen könnten: Dass es so tödlich ist, wie man immer schon angenommen hat, sich mit „Bild“ anzulegen. Nein, tödlich ist es, zu glauben, einen Pakt mit der „Bild“-Zeitung schließen zu können und davon am Ende profitieren zu können. Im Zweifel wird nur einer von beiden von einem solchen Pakt profitieren, und das ist derjenige, der es sich erlauben kann zu tricksen und zu lügen, heute mit Schlamm zu werfen und morgen seriös zu tun, keine Rechenschaft ablegen zu müssen und sich keine Sekunde um sein Geschwätz von gestern kümmern zu müssen.

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Leseempfehlungen:

Perpetuum Mobile

Am vergangenen Montag, 2. Januar, berichtete „Spiegel Online“ exklusiv:

Nach Informationen von SPIEGEL ONLINE telefonierte Wulff auch mit dem Vorstandsvorsitzenden der Springer AG, Mathias Döpfner, um diesen zu bitten, bei Diekmann Einfluss zu nehmen. Doch der Konzernchef, in dessen Haus die „Bild“ erscheint, soll ihm in knapper Form beschieden haben, sich nicht in die Belange der Redaktion einmischen zu wollen.

Der Springer-Verlag antwortete zunächst nicht auf eine Anfrage von SPIEGEL ONLINE, ob es ein Telefonat mit Döpfner gab. Am Nachmittag bestätigte dann der Verlag den Gesprächsversuch Wulffs mit dem Vorstandschef.

Was danach geschah:

dapd, 2. Januar, 16:14:

Wulff intervenierte auch bei Springer-Chef Döpfner wegen Artikel

(…) Wulff habe neben dem Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, Kai Diekmann, auch beim Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer AG, Mathias Döpfner, interveniert, sagte ein Sprecher des Konzerns am Montag der Nachrichtenagentur dapd.

Er bestätigte damit einen Bericht von „Spiegel Online“. (…)

epd, 2. Januar, 16:16:

„Süddeutsche Zeitung“: Wulff rief auch bei Springer-Chef Döpfner an

München (epd). Bundespräsident Christian Wulff hat nach Informationen der „Süddeutschen Zeitung“ auch mit einem Anruf beim Vorstandsvorsitzenden des Springer-Verlages, Mathias Döpfner, versucht, die Berichterstattung der „Bild“-Zeitung über die Finanzierung seines Privathauses zu verhindern. „Es ist korrekt, dass der Bundespräsident auch Mathias Döpfner in dieser Angelegenheit angerufen hat und es ist auch korrekt, dass Herr Döpfner auf die Unabhängigkeit der Redaktion hingewiesen hat“, heiße es in einer schriftlichen Stellungnahme des Verlages, aus der die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrer Dienstagsausgabe zitiert. (…)

dpa, 2. Januar, 17:39:

Wulff wollte „Bild“-Bericht verhindern – Kritik und Protest

(…) Wie die „Bild“-Zeitung am Montag bestätigte, versuchte Wulff persönlich, die erste Veröffentlichung von Recherchen zur Finanzierung seines Privathauses zu verhindern. Bei „Bild“- Chefredakteur Kai Diekmann habe er mit strafrechtlichen Konsequenzen für den verantwortlichen Redakteur gedroht. Auch bei Springer-Chef Mathias Döpfner intervenierte Wulff erfolglos. Das bestätigte der Verlag. (…)

dpa, 3. Januar, 15:37:

Der öffentliche Druck auf Wulff wird stärker

Berlin (dpa) – Wegen eines umstrittenen Kredits und seines Umgangs mit den Medien gerät Bundespräsident Christian Wulff immer mehr unter Druck. Ein Rückblick:

12. Dezember 2011: Bundespräsident Wulff besucht die Golfregion und versucht, „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann zu erreichen, um die Veröffentlichung von Recherchen zur Finanzierung seines Privathauses zu verhindern. Bei Springer-Chef Mathias Döpfner ruft er ebenfalls an – und laut einem Bericht auch bei Springer-Mehrheitsaktionärin Friede Springer. (…)

epd, 4. Januar, 8:47:

(…) Seitdem nach dem Jahreswechsel öffentlich wurde, dass der Bundespräsident „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann sowie Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner angerufen hatte, um Berichterstattung über den Kredit zu verhindern, verschärfte sich der öffentliche Druck auf Wulff noch einmal deutlich. (…)

dpa, 4. Januar, 18:56:

Bundespräsident Christian Wulff hat ARD und ZDF am Mittwoch ein Interview gegeben. (…)

Ulrich Deppendorf: „Jetzt kommen wir mal zu den Kritikpunkten, die Ihnen vorgeworfen werden. Sie sind in den letzten Tagen besonders in die Kritik geraten wegen der Anrufe bei dem Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, Kai Diekmann, und bei dem Vorstandsvorsitzenden des Springer-Konzerns, Herrn Döpfner. Ihnen wird Verletzung des Grundrechts der Pressefreiheit vorgeworfen. Sie sollen auf dem Band beide Herren bedroht haben. Sie sprechen von Krieg führen, vom endgültigen Bruch. (…)“

epd, 5. Januar, 8:57:

(…) Seitdem nach dem Jahreswechsel Wulffs Anrufe bei Diekmann sowie Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner bekanntgeworden waren, hatte sich der öffentliche Druck auf den Präsidenten noch einmal deutlich erhöht. (…)

dpa, 6. Januar, 15:20

„Bild“ contra Wulff – ein Rückblick

Berlin (dpa) – Es war ein Bericht der „Bild“-Zeitung, der Bundespräsident Christian Wulff Mitte Dezember in Erklärungsnot brachte. Jetzt streiten beide über einen ominösen Telefonanruf. Ein Rückblick:

12. Dezember 2011: Bundespräsident Wulff besucht die Golfregion und versucht, „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann zu erreichen, um die Veröffentlichung von Recherchen zur Finanzierung seines Privathauses zu verhindern. Bei Springer-Chef Mathias Döpfner ruft er ebenso an. (…)

Reuters, 7. Januar, 17:58:

Spiegel – Wulff soll auch Springer-Chef Döpfner gedroht haben

Berlin, 07. Jan (Reuters) – Bundespräsident Christian Wulff soll einem Medienbericht zufolge neben dem „Bild“-Chefredakteur auch Springer-Verlagschef Mathias Döpfner mit scharfen Worten gedroht haben, um die Veröffentlichung eines Berichts über seine Kreditaffäre zu verhindern. (…)

dapd, 7. Januar, 18:08:

Spiegel: Wulff soll auch Springer-Chef Döpfner gedroht haben

Berlin (dapd). Bundespräsident Christian Wulff soll auch Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner gedroht haben. (…)

dpa, 7. Januar, 18:34:

„Spiegel“: Wulff soll auch Döpfner gedroht haben

Berlin (dpa) – In der Affäre um einen Anruf von Bundespräsident Christian Wulff beim Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, Kai Diekmann, kommen weitere Details ans Licht. Nach Informationen des Nachrichten-Magazins „Der Spiegel“ soll Wulff dem Vorstandsvorsitzenden des Springer-Verlags, Mathias Döpfner, mit ähnlichen Worten gedroht haben wie dem „Bild“-Chef. Eine Stellungnahme des Präsidialamtes war am Samstagabend zunächst nicht zu erhalten, ebenso wenig vom Springer-Verlag. (…)

dpa, 7. Januar, 19:22

Springer bestätigt Bericht über Wulff-Drohung bei Döpfner

Berlin (dpa) – Der Springer-Verlag hat einen Medienbericht bestätigt, demzufolge Bundespräsident Christian Wulff in der Kreditaffäre auch Verlagschef Mathias Döpfner gedroht haben soll. „Wir können die Darstellung des „Spiegels“ bestätigen, wollen das aber nicht weiter kommentieren“, sagte der für die „Bild“-Zeitung zuständige Sprecher Tobias Fröhlich am Samstagabend auf Anfrage. (…)

dapd, 7. Januar, 19:36:

Wulff soll auch Springer-Chef Döpfner gedroht haben
(Neu: Bestätigung Verlagssprecher) (…)

„Spiegel Online“, aktuell: