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Die Seelen-Verkäufer von „Spiegel Online“ (3)

Angenommen, ein seriöses Nachrichtenmagazin bringt einen großen Bericht über neue Werbeformen, zeigt, wie heikel die sind, und betont dabei, dass man selbst eine weiße Weste hat: „Werbung, die aussieht wie ein Text der Redaktion, wird es nicht geben.“

Und angenommen, dann kommt raus, dass das gar nicht stimmt.

Würde man dann nicht, als seriöses Nachrichtenmagazin, in der nächsten Ausgabe seine Leser kurz informieren, dass man sie falsch informiert hatte? Gut, natürlich nicht gleich am Anfang, in der „Hausmitteilung“, da steht nur, wie toll das eigene Heft ist. Und natürlich auch nicht ganz am Ende, in der Rubrik „Rückspiegel“, da steht nur, wie toll andere das eigene Heft finden.

Aber vielleicht irgendwo dazwischen, nur eine Notiz, zum Beispiel in dem kleinen „Korrekturen“-Kasten oder auf der Meldungsseite im Medienteil?

Natürlich würde man dadurch Leser, die gar nichts mitgekriegt hatten von dem peinlichen falschen Versprechen — und das wäre womöglich die Mehrheit — überhaupt erst darauf aufmerksam machen. Andererseits würde man denen, die es mitgekriegt haben, zeigen, dass man ein Nachrichtenmagazin ist, dem man trauen kann, sogar wenn es in eigener Sache berichtet.

Wäre das nicht, wenn man es schon nicht hingekriegt hat, in seinem Online-Auftritt Werbung und Redaktion so sauber zu trennen, wie man vorgegeben hat, ein schönes Zeichen, dass man es wenigstens hinkriegt, zu seinen Fehlern zu stehen? Aufrichtig und transparent mit ihnen umzugehen?

Der „Spiegel“ hat diese Fragen offenbar mit Nein beantwortet und so steht im neuen Heft darüber, dass man mindestens ein Jahr lang genau das betrieben hat, was man bei anderen kritisierte und für sich ausschloss: kein Wort.

Aber gut, was sollte die Redaktion auch machen, um über solche Themen mit ihren Lesern ins Gespräch zu kommen? Bloggen?

Die Seelen-Verkäufer von „Spiegel Online“

Der „Spiegel“ berichtet in seinem aktuellen Heft über den Trend zu native advertising: Werbung, die gestaltet wird wie ein redaktioneller Artikel und nur durch einen — mehr oder weniger deutlichen — Hinweis als Anzeige gekennzeichnet ist. Das Stück referiert die aktuellen Diskussionen in den Vereinigten Staaten und Deutschland und zeigt, wie heikel solche Formen für die Glaubwürdigkeit seriöser Medien ist.

Mit „native advertising“ erreicht die bewusste Irreführung der Leser eine neue Qualität: Sie wird zu einem gängigen Stilmittel der Werbung, vor allem im Netz. Dort lassen sich Inhalt und Reklame deutlich einfacher und billiger verbinden als in gedruckten Medien.

Das Nachrichtenmagazin zitiert den „Guardian“-Kolumnisten Bob Garfield:

„Der Journalismus verkauft damit seine Seele.“

Der „Spiegel“ zieht darin für sich selbst eine klare Grenze:

Werbung, die aussieht wie ein Text der Redaktion, wird es nicht geben.

In einem Video zum Heft erklärt Medienredakteur Martin U. Müller, einer der beiden Autoren des Textes, dass man Anzeigen bei „Spiegel Online“ selbstverständlich klar von redaktionellen Inhalten unterscheiden könne, durch Gestaltung, Schriftart, Farbgebung und so weiter. Andere Seiten sähen das nicht so eng, sagt er, und führt den Zuschauer durch verschiedene Beispiele, bei „Werben & Verkaufen“ und der „Huffington Post“, wo nur ein leicht zu überlesener Hinweis wie „Sponsored Post“ über dem Text deutlich mache, dass die Inhalte gekauft wurden.

Nun.

Dann sagen Sie doch mal spontan, wonach diese regelmäßige Kolumne über das Glück auf „Spiegel Online“ aussieht:

Die Schriftart ist die Standard-Schriftart von „Spiegel Online“. Die Farben sind die des Panorama-Ressorts. Und oben in der Brotkrumen-Navigation ist der Text säuberlich in die redaktionelle Hierarchie einsortiert: Nachrichten > Panorama > Eurojackpot

Der Autor Oliver Schönfeld schaut aus einem Guckloch wie die anderen Kolumnisten von „Spiegel Online“. Und er wird ausdrücklich als „Journalist“ vorgestellt. Dabei nennt sich seine Firma „Schönfeld PR“, und er ist eher nicht journalistisch tätig, sondern werblich. Die Artikel sind anscheinend von WestLotto bezahlt. Das lässt die Formulierung „Ein Service von WestLotto“ auch erahnen, aber eben doch nur: erahnen.

Um den „Spiegel“ selbst zu zitieren:

Die verbalen Verrenkungen, mit denen sich viele Verlage um das Wort „Werbung“ herumdrücken, lässt an ihrem Bemühen um Transparenz zumindest zweifeln.

Unter der vermeintlichen Glücks-Kolumne steht zwar auch als Kleingedrucktes der Satz:

SPIEGEL ONLINE ist weder für den Inhalt noch für ggf. angebotene Produkte verantwortlich.

Aber das ändert nichts daran, dass die Gestaltung der Anzeige erkennbar auf die Möglichkeit einer Verwechslung mit redaktionellen Inhalten abzielt.

Das Wort „Anzeige“ oder „Werbung“ vermeidet „Spiegel Online“ auch bei dem Kasten, der am Fuß jeder Seite steht:

Ein „Serviceangebot“ von einem „Spiegel Online“-„Partner“, was mag das sein? Unter dieser Überschrift sind munter redaktionelle und werbliche Inhalte sowie Kooperationen, bei denen völlig unklar ist, ob und wie „Spiegel Online“ daran verdient, gemischt. Vor dem Klick hat der Leser keine Chance, es zu erraten. Oder hätten Sie gedacht, dass der „Kreditvergleich“-Link ein Werbelink ist, der „Versicherungen“-Link aber ein redaktioneller?

Ich halte das an sich schon für eine schlechte Idee von „Spiegel Online“. Besonders schlecht ist aber, wenn der „Spiegel“ den Eindruck erweckt, „Seelen-Verkäufer“, das sind nur die anderen.

Nachtrag, 22. April. Es gibt doch eine Möglichkeit, vor dem Klick auf einen der Links in dem „Serviceangebot“-Kasten zu wissen, ob er zu Werbung oder einem redaktionellen Inhalt führt: Wenn man den Mauszeiger über dem jeweiligen Stichwort schweben lässt, erscheint nach etwa einer Sekunde das Wort „Anzeige“ (oder nicht).

Nachtrag, 12:30 Uhr. „Spiegel Online“ hat die Werbe-Kolumne als „Fehler“ bezeichnet. Barbara Hans, die stellvertretende Chefredakteurin, sagte gegenüber „Meedia“, die Anzeige unterscheide sich „nicht eindeutig und klar genug von redaktionellen Inhalten. Insbesondere sind Begriffe wie ‚Kolumne‘ und ‚Journalist‘ sowie die optische Anmutung im Kolumnen-Layout dem redaktionellen Bereich von Spiegel Online vorbehalten.“

Der Link zur „Eurojackpot“-Unterseite ist im „Service“-Mischkasten und im „Panorama“-Menu nun verschwunden.

Zeitungskrise? „Die Lösung bin ich!“

— Ein Gastbeitrag von Sascha Lobo

Die „Spiegel“-Zeitungsdebatte wäre aus vielen Gründen eine fantastische Gelegenheit für mich, den Mund zu halten. Leider verpasse ich diese Gelegenheit hiermit. Denn mir ist etwas Bemerkenswertes aufgefallen. Jeder einzelne bisherige Teilnehmer der Debatte empfiehlt als Lösung der Zeitungskrise letztlich: sich selbst.

  • Jeff Jarvis sieht im Internet die „noch nie dagewesene Chance, einige Dinge ganz neu zu erfinden: unsere Beziehung zur Öffentlichkeit, der wir dienen“. Bekannt geworden ist Journalistikprofessor Jarvis auch dadurch, dass er seine eigene Beziehung zur Öffentlichkeit radikal neu entwickelt hat, indem er seine Prostata-Krebserkrankung zum Thema machte.
  • Der Werber Sebastian Turner spricht in der Debatte als einziger von der „Kreativwirtschaft“ — denn dieser Begriff schließt neben den Medien auch die Werbung, also sein Tätigkeitsfeld ein. Seine Empfehlung an Zeitungshäuser ist, in kleineren Einheiten regional zu operieren und profitable Unternehmen dazuzukaufen. Exakt so hat Turner die Agentur Scholz & Friends aufgebaut.
  • Thomas Knüwer erklärt zur digitalen Revolution: „Die Zeitungskonzerne reagierten darauf mit Ignoranz. Sie mochten keine Chance im Internet erkennen, nicht dessen Möglichkeiten ausloten.“ Knüwer selbst hat offensichtlich mit Nichtignoranz reagiert, seine Chance im Internet erkannt und dessen Möglichkeit ausgelotet: Er verabschiedete sich weitgehend vom Journalismus und wurde Internet-Berater.
  • Laut Richard Gutjahr brauchen Zeitungen „mehr Experimentierfreude“. Es gibt wenige Figuren in der deutschsprachigen Medienlandschaft, die so offensiv experimentierfreudig wären wie Gutjahr: seine spontane Reise auf den Tahrir-Platz 2011, das Fernsehexperiment „Rundshow“ beim Bayrischen Rundfunk 2012, sein Lobbyismus-Projekt lobbyplag.eu 2013.
  • Hatice Akyün schreibt: „Vielfalt, Erkennbarkeit und Kante brauchen alle Medien.“ Sie ist wegen ihrer meinungsstarken Debattenartikel Trägerin des Berliner Integrationspreises sowie des Preises für Toleranz und Zivilcourage der Stadt Duisburg. Und damit ein perfektes Beispiel für genau die Eigenschaften „Vielfalt, Erkennbarkeit und Kante“.
  • Stephan Weichert plädiert unter anderem für staatliche Subvention von Journalismus, aber warnt zugleich: „Es ist hilfreich, wenn sich die Verleger auch mit alternativen Finanzierungsmodellen befassen“. Er bringt dazu private Stiftungen und Crowdfunding ins Spiel. Weichert ist Gründungsherausgeber des Portals VOCER, das von mehreren Stiftungen finanziert wird, staatliche Förderung von der Bundeszentrale für politische Bildung erhält und Crowdfunding in Form einer ständigen Bitte um Geldspenden betreibt.
  • Constantin Seibt empfiehlt der Zeitung, sich auf einzelne, urbane Szenen zu konzentrieren und dort den Inhalt zu verbessern: „Es wird Zeit, in die Erneuerung des Handwerks zu investieren: in Stil, Raffinesse, Überraschung und Schönheit.“ Seibt betreibt das Blog Deadline, das sich an Journalisten wendet und praktisch ausschließlich davon handelt, wie man mit Raffinesse, Überraschung und Schönheit seinen Stil verbessert.
  • Mario Sixtus verfasst einen Artikel, der gegenüber Zeitungsmachern von oben heraber kaum sein könnte, und fragt „Wer lässt sich schon gerne von oben herab behandeln?“ Eine genaue Lösung kennt er nicht, aber als Möglichkeit vermutet er, dass „mutige Ausprobierer, wilde Experimenteure völlig neue Methoden erfinden werden, um Journalismus zu finanzieren.“ Sixtus ist mit seiner Medienproduktion Blinkenlichten ein mutiger Ausprobierer, sein „Elektrischer Reporter“ hat im Jahr 2011 für ZDFinfo eine Reihe so benannter „Laborexperimente“ veranstaltet.
  • Christian Lindner analysiert: „Zeitungsredaktionen, die auch im Web 2.0 verwurzelt sind, verändern ihre Blätter mutiger, schneller, konsequenter“. Er ist Chefredakteur der „Rhein-Zeitung“, der mit Abstand Social-Media-affinsten Regionalzeitung in Deutschland.
  • Der ORF-Nachrichtenmann Armin Wolf ist zwar sicher, dass „Menschen Nachrichten wollen und brauchen“. Wie sich dieser Umstand unternehmerisch umsetzen lässt, kann er aber nicht sagen: „Ich habe keine Ahnung, wie die Zukunft des Journalismus aussieht und wie sie sich finanzieren lässt“. Die eigene Ahnungslosigkeit zuzugeben, erscheint sympathisch. Aber es ist auch symptomatisch, dass die beiden einzigen Debattanten, die das tun — Armin Wolf und Mario Sixtus — für öffentlich-rechtliche Anstalten arbeiten, die sich nicht am Markt refinanzieren müssen. „Ich weiß nicht“, bezogen auf Journalismusfinanzierung, ist damit auch als Argument für die Notwendigkeit öffentlich-rechtlicher Anstalten zu verstehen.
  • Wolfram Weimer sieht die Zeitungskrise weniger im Internet als vielmehr darin, dass „niemand mehr nach dem Eigentlichen: den Inhalten“ frage. Dafür kennt er die richtigen Absender: „Die altmodischen, querköpfigen Wahrheitssucher also haben Qualitätsmedien groß und vor allem wichtig gemacht.“ Natürlich hat er ein Rezept für besseren Journalismus: „Der Drang in die politisch korrekte Mitte erzeugt einen Journalismus, der sich massen- und mehrheitskonform seicht dahin biegt.“ Er selbst ist auf altmodische und querköpfige Weise geradezu klassisch politisch unkorrekt: Er zweifelt an den Ergebnissen des Weltklimarates, spricht von einer „Multi-Kulti-Lüge“ und schrieb islamkritische Artikel wie „Der kulturelle Dschihad“.
  • Christian Jakubetz‘ Text bietet keine direkte Lösung an. Indirekt dagegen schon: Nicht genannte Zeitungsmacher würden sich eine Zukunft vorstellen, die von „Internet, von Apps, Smartphones, sozialen Netzwerken“ handelt. Jakubetz arbeitet als Berater, Journalist und Dozent zum Thema crossmediales Publizieren.
  • Wolf Schneider schließlich behauptet, dass die Gesellschaft bald in den Zustand zurückkehre, der vor Erfindung der Zeitung angeblich die Regel gewesen sein soll: „dem der öffentlichen Ahnungslosigkeit.“ Schneider sieht also gar keine Zukunft und gar keine Lösung. Er ist 88 Jahre alt.

Natürlich lässt sich diese Erstaunlichkeit — alle sehen in sich selbst die Lösung — auch positiv betrachten: Die Debattanten arbeiten konsequent nach den Prinzipien, die sie als richtig erkannt haben. Und lassen die Welt nun an ihren für sie erfolgversprechenden Erkenntnissen teilhaben. Die ebenso vorhandene Kehrseite aber ist größer, schwerer, unangenehmer: Die deutsche Mediendebatte krankt daran, dass ihre Teilnehmer unfähig oder unwillig sind, die eigene Perspektive zu verlassen. „Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte“, sagte der Philosoph Hans-Georg Gadamer im Jahr 2000. Wenn man selbst die Lösung ist, wäre demnach keine Debatte möglich.

Der „Spiegel“ rafft sich nicht zu einer Aufarbeitung seiner dunklen Aids-Zeit auf

Man kann darüber streiten, ob es eine gute Idee war, den „Spiegel“ und „Spiegel Online“ für ihre Berichterstattung über Schwule und Lesben auszuzeichnen. Ein guter Anlass war es sicher.

Ein guter Anlass für Kritiker (wie mich), auf die furchtbare Aids-Berichterstattung des „Spiegel“ in den achtziger Jahren hinzuweisen. Und ein guter Anlass für den „Spiegel“, sich mit dieser Berichterstattung und der Kritik daran auseinanderzusetzen.

Der „Spiegel“ hat diese Chance nicht genutzt.

Markus Verbeet, der stellvertretende Deutschlandchef der Zeitschrift, hatte bei der Preisverleihung gesagt:

„Es war nicht alles gut, was wir damals geschrieben haben. Es gab Grenzüberschreitungen. Es gab nicht nur zugespitzte Darstellungen, sondern auch verletzende Worte. Manches hätten wir auch damals besser wissen müssen und ich ahne, was für Verletzungen wir hervorgerufen haben.“

Das hat vielen Zuhörern imponiert.

Verbeet hatte auch gesagt, dass er sich die alten Aids-Artikel aus der fraglichen Zeit aus dem Archiv suchen ließ. Manche verstanden das als Auftakt für eine öffentliche Aufarbeitung.

Ein paar Tage später veröffentlichte Verbeet unter der treuherzigen Frage „Sind wir preiswürdig?“ einen Eintrag im „Spiegel“-Blog, in dem er über den Preis und die Kontroverse berichtete und dies und jenes verlinkte. Einen Hinweis, was konkret der „Spiegel“ (oder Verbeet persönlich) im Rückblick an der „Spiegel“-Berichterstattung über HIV, Aids und homosexuelle Männer falsch und verletzend fand, gab der Text nicht.

Der Blogger und Aktivist Marcel Dams hatte in seiner bewegenden Laudatio auf den „Spiegel“ gesagt:

Ich finde auch, dass es Zeit für eine längst überfällige Entschuldigung ist. Nicht nur hier und heute, sondern am besten auch am Ort des Geschehens — im Blatt.

Am Ort des Geschehens erschien in dieser Woche stattdessen dies:

Das schwule Netzwerk Nordrhein-Westfalen hat SPIEGEL und SPIEGEL ONLINE die “Kompassnadel” verliehen, eine Auszeichnung für die Förderung der Akzeptanz von Homosexuellen: Die SPIEGEL-Berichte zeichneten ein “ausgewogenes und realistisches Bild von schwulem Leben in Deutschland und vor allem auch in anderen Ländern, in denen Homosexuelle unterdrückt, verfolgt und ermordet werden”. Die Nominierung hatte Proteste hervorgerufen; Kritiker verwiesen auf die von ihnen als tendenziös empfundene Aids-Berichterstattung des SPIEGEL in den achtziger Jahren.

Das ist aus „Spiegel“-Sicht ganz normal. Ganz hinten im Heft sammelt die Redaktion, was irgendwo irgendwer Positives über den „Spiegel“ gesagt hat. Und in diesem Fall hat sie, obwohl es sich um eine „Ehrung“ handelt, sogar die Kritik erwähnt.

Oder genauer: So getan als ob.

Dams nannte die damalige „Spiegel“-Berichterstattung in seiner Laudatio „menschenverachtend“ und „homophob“. Die deutsche Aids-Hilfe nannte sie „unsäglich“ und „an die Grenze zur Hetze reichend“. Martin Dannecker nannte sie „fragwürdig“ und „eine regelrechte antihomosexuelle Kampagne“, die „niedrige Affekte bediente“. Ich nannte sie „infam“ und „apokalyptisch“.

Und der „Spiegel“ glaubt allen Ernstes, das angemessene Wort, diese Attribute zusammenzufassen, wäre „tendenziös“?

Der „Spiegel“ tut so, als gebe er ehrlich die Kritik an sich wieder und beschönigt sie dabei. Mir fiele dazu das Wort „unverfroren“ ein, aber vermutlich ist es viel schlimmer: Gedankenlos.

Fast ein halbes Jahr hätte der „Spiegel“ Zeit gehabt, sich damit auseinanderzusetzen, dass die Deutsche Aids-Hilfe, die ja nun nicht irgendein souverän zu ignorierender Quatschverein ist, ihm vorwirft, den „Grundstein für die Stigmatisierung der Menschen mit HIV“ gelegt zu haben. Betroffene hätten bis heute unter den Folgen dieser Skandalisierung zu leiden.

Trotz der positiv aufgenommenen Worte von Markus Verbeet bei der Preisverleihung hat er sich seitdem nicht zu mehr als einem vagen Es-war-nicht-alles-Gut durchringen können. Jedem anderen würde gerade der „Spiegel“ eine solche Form der Vergangenheitsscheinbewältigung um die Ohren hauen.

Marcel Dams, der Laudator, nennt die Notiz im Blatt, „um es nett auszudrücken, absolut unverständlich“. Er schreibt:

Das was (…) abgedruckt wurde, ist nicht nur zu wenig. Nein. Es ist sogar ein Schlag ins Gesicht derer, die die damalige Zeit miterleben mussten.

Was mich nämlich am meisten stört ist folgendes: Das geschrieben wird, es gehe um ein Empfinden. Es liest sich so, als ob die Berichterstattung nicht homophob oder tendenziös war, sondern nur ein paar Schwule — die sich nun aufregen — es so empfinden.

Das Fazit, das der 24-jährige Blogger dem 66-jährigen Nachrichtenmagazin mitgibt, lautet:

Zu jeder Biographie gehören Narben. Wir alle haben keine weiße Weste. Nobody’s perfect. Sich den Fehlern zu stellen, diese zu erkennen, sie zu benennen und daraus zu lernen. Das erwarte ich.

Das ist zuviel verlangt vom „Spiegel“.

[Offenlegung: Ich habe eineinhalb Jahre für den „Spiegel“ gearbeitet.]

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Am 8. November 1947 erschien im „Spiegel“ ein toller Verriss. In Hannover war ein Theaterstück namens „Die Zeit ist nahe“ uraufgeführt worden. Der Rezensent schrieb:

Die Zuhörer hatten zum andern Male Anlaß, sich an Goethe erinnert zu fühlen: Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis.

Das Gleichnis dauerte fast drei Stunden, dem Publikum kam es länger vor. Es saß, als sich zum Schluß auf der Bühne alle Figuren verlaufen hatten (was ihnen nicht zu verdenken war), ziemlich ratlos da. Es dauerte etwas, bis man sich dem traditionellen Genuß des Beifallspendens einigermaßen hingab. Ein vorsorglich bestellter Photograph trat in Aktion und hielt den Applaus bei Blitzlicht im Bilde fest. Es wurde eine ausgesprochene Momentaufnahme.

Auf der Bühne verneigte sich inmitten der von ihm heraufbeschworenen Renaissance der Autor, ein nicht sehr großer Herr, der älter als seine 24 Jahre aussieht: Rudolf Augstein, Lizenzträger und Chefredakteur der viel besseren Zeitschrift „DER SPIEGEL“.

Der ungenannte Autor des Artikels war Hans J. Toll, damals Feuilletonchef und zweiter Mann des Nachrichtenmagazins hinter Augstein. Er soll Augstein vorgeschlagen haben, sein Stück nicht zu rezensieren und „das unangenehme Ereignis einfach zu übergehen“. Augstein aber habe abgelehnt, weil er sich mit der Duldung solch harscher Kritik als „ebenso souveräner wie toleranter Chef und Zeitgenosse“ darstellen konnte. So schilderte es Leo Brawand, einer der Mitbegründer des „Spiegel“, gegenüber Augstein-Biograph Peter Merseburger. (mehr …)