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Rufraub im Piraten-Dossier: Die „Zeit“ tritt nach

Die Wochenzeitung „Die Zeit“ hat sich verpflichtet, rufschädigende Formulierungen aus ihrem zweifelhaften Dossier über Filmpiraterie (Abb.) nicht mehr zu veröffentlichen. Sie behauptet allerdings das Gegenteil.

Die Direk­to­rin des Alexander-von-Humboldt-Instituts für Inter­net und Gesell­schaft, Jeanette Hofmann, hatte vor einigen Wochen eine einstweilige Verfügung gegen das Blatt erwirkt. Es hatte ihr unterstellt, sie habe sich von Google kaufen lassen und bestellte wissenschaftliche Ergebnisse geliefert. Der Suchmaschinenanbieter verdiene nicht nur Geld mit „Raubkopien“, schrieb Kerstin Kohlenberg, die stellvertretende Leiterin des „Investigativ-Ressorts“ der „Zeit“, sondern stecke einen Teil davon auch noch in Studien, „die zu dem Ergebnis kommen, dass Raubkopien keine schlechte Sache sind“. Der Artikel ist inzwischen wieder online, allerdings in einer um die angegriffenen Formulierungen bereinigten Version.

Hofmann hatte sich erfolgreich unter anderem gegen die Behauptungen der „Zeit“ gewehrt, sie halte das Urheberrecht für „überflüssig“ und stelle sich „eindeutig auf die Seite derer, die mit illegalen Filmkopien Geld verdienen“.

Die „Zeit“ hatte dagegen Widerspruch eingelegt. Am 12. April kam es deshalb zur mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht Hamburg.

Dabei einigten sich beide Seiten auf einen Vergleich:

  • Die „Zeit“ und „Zeit Online“ verpflichten sich, die umstrittenen Formulierungen über Jeanette Hofmann nicht erneut zu veröffentlichen.
  • Hofmann verzichtet auf eine Gegendarstellung.
  • Hofmann trägt drei Viertel der Kosten des Verfahrens.

Die „Zeit“ veröffentlichte allerdings eine knappe Woche später eine Pressemitteilung, in der sie den Ausgang des Verfahrens anders schildert:

  • Die „Zeit“ behauptet, Hofmann hätte auf eine Unterlassungserklärung des Blattes verzichtet. In Wahrheit ist die Unterlassungserklärung Teil des Vergleichs.
  • Die „Zeit“ behauptet, das Dossier dürfe „in seiner ursprünglichen Form verbreitet werden“. In Wahrheit hat der Verlag unterschrieben, die bemängelten Äußerungen über Hofmann „nicht erneut zu veröffentlichen“.
  • Und die „Zeit“ behauptet, sie habe sich „freiwillig“ bereit erklärt, „in zukünftigen Artikeln die Arbeit von Frau Hofmann differenzierter zu betrachten“. In Wahrheit hat sie sich verpflichtet, die ursprünglichen Behauptungen über Hofmann und ihre Arbeit nicht zu wiederholen.

Das ist eine erstaunliche Verdrehung der Tatsachen und ein unfreundlicher Akt, nachdem man sich gerade erst mit der Gegenseite auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits geeinigt hatte. Jeanette Hofmann geht nun wiederum gegen diese Pressemitteilung juristisch vor.

Dem Vergleich mit der „Zeit“ hatte sie zugestimmt, weil ihr das Risiko steigender Prozesskosten zu hoch wurde und sie diese Form der Auseinandersetzung persönlich zu belastend fand. Im Kern bestand er für sie darin, dass die „Zeit“ die geforderte Unterlassungserklärung abgibt und Hofmann dafür den Großteil der Kosten des Verfahrens trägt.

Die Verhandlung war wohl eine abschreckende Erfahrung. Hofmann sah sich unter anderem damit konfrontiert, beweisen zu sollen, dass sie das Urheberrecht nicht für überflüssig hält. Als vermeintlichen Gegenbeweis hielt ihr der Anwalt unter anderem ihre Formulierung vor, dass die Herstellung von Informationsgütern „nicht automatisch Eigentumsrechte nach sich ziehen“ müsse. Urheberrechte seien „nicht alternativlos“, hatte Hofmann formuliert. — Macht sie das überflüssig?

Hofmann hatte außerdem bestritten, sich überhaupt dezidiert mit dem Thema illegaler Kopien zu beschäftigen. Der Anwalt der „Zeit“ verwies dagegen auf das von Hofmann herausgegebene Buch „Wissen und Eigentum“, in dem ein anderer Autor (!) davon schreibt, dass „illegale Downloads fast zur Selbstverständlichkeit geworden“ seien.

Angesichts des Verlaufs der Verhandlung war sie sich nicht sicher, ob ihre Sicht auf die Dinge ausreichend Aussicht hätte, anerkannt zu werden. Darum stimmte sie dem Vergleich zu.

Wir fassen zusammen: Die „Zeit“ veröffentlicht ein Pamphlet über Filmpiraterie, das eine Wissenschaftlerin diffamiert, gibt vor Gericht eine Unterlassungserklärung ab und behauptet dann in einer Pressemitteilung das Gegenteil. Wenn man nicht wüsste, dass es sich um eine der besonders seriösen Adressen des deutschen Journalismus handelt, man käme nicht drauf.

PS: Die „Zeit“ hatte mir die Pressemitteilung mit den Worten geschickt: „Da Sie in Ihrem Blog über den Sachverhalt berichtet haben, wünschen wir, dass Sie diese Meldung zur Kenntnis nehmen und den Artikel aktualisieren.“ Das finde ich eine erstaunliche Formulierung, aber den Wunsch habe ich hiermit ja erfüllt.

Nachtrag, 26. April. Heute haben die „Potsdamer Neuesten Nachrichten“, ein Schwesterblatt der „Zeit“, das Dossier nachgedruckt — in der ursprünglichen Form, mit allen Formulierungen über Jeanette Hofman, für die die „Zeit“ eine Unterlassungserklärung abgegeben hat.

Nachtrag, 8. Mai. Die „Zeit“ hat ihre Pressemitteilung entfernt.

„Die Zeit“ muss Piraten-Dossier wegen Rufraub löschen

Die Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann hat vor dem Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen die „Zeit“ erwirkt. Die Wochenzeitung darf vorerst nicht mehr behaupten, die Direktorin des Alexander-von-Humboldt-Instituts für Internet und Gesellschaft halte das Urheberrecht für „überflüssig“ und stelle sich „eindeutig auf die Seite derer, die mit illegalen Filmkopien Geld verdienen“.

Das große Raubkopien-Dossier aus der „Zeit“ vom 7. Februar 2013, ist deshalb nicht mehr online und in den Archiven gelöscht.

Die „Zeit“ hatte Hofmann für eine perfide Pointe in einer dreiseitigen Titelgeschichte „Der gestohlene Film“ benutzt. Kerstin Kohlenberg, die stellvertretende Leiterin des 2011 gegründeten „Investigativ-Ressorts“, beschreibt darin am Beispiel von „Cloud Atlas“, wie illegale Kopien von Kinofilmen entstehen und verbreitet werden und das Geschäft der Produzenten bedrohen.

Es ist ein Artikel, der mit größtem Aufwand zweifelhafte Ergebnisse produziert. Die „Zeit“ ist zum Beispiel eigens nach Belize in Zentralamerika gereist, um die dortige Flugpiste („staubig“), eine Straße („löchrig“) und das Innere einer Suite („weiß gefliester Boden, schwere dunkle Holzmöbel, Bilder von der Akropolis“) beschreiben zu können. Hier ist die Firma registriert, die einen Server betreibt, auf dem viele illegale Film-Kopien liegen. Ergebnis der Vor-Ort-Recherche, Überraschung: Hier sitzt gar keine Firma, sondern nur jemand, der seinen Briefkasten für dubiose Firmen zur Verfügung stellt.

Über mehrere Absätze beschreibt die „Zeit“ mit größter Detailfreude, wann und wie ein „Internetpirat“ in Moskau in einem Kino eine Vorführung von „Cloud Atlas“ abfilmt, um dann den Satz hinzuzufügen: „So in etwa muss es gewesen sein.“ Hinterher rät die Autorin noch, wie der Mann, den sie nicht kennt, sich dann zuhause am Computer gefühlt hat, während er den Film bearbeitet: „Womöglich ist er ein wenig aufgeregt, vielleicht stolz.“

Alles in dem Artikel suggeriert, dass hier keine Kosten und Mühen der Recherche gescheut wurden, um den Leser gut zu informieren. In Wahrheit ist der Text voller Ungenauigkeiten, Fehler und zweifelhaften Behauptungen, die Torsten Dewi in seinem Blog ausführlich aufgelistet hat.

Vor allem ist die zentrale Behauptung des Dossiers nicht haltbar: dass die illegalen Kopien verhindert hätten, dass „Cloud Atlas“ ein Erfolg wurde; dass der teure Film nur deshalb gefloppt sei. Schon in der Unterzeile über dem Artikel heißt es entsprechend:

Der Produzent Stefan Arndt hat mit „Cloud Atlas“ den teuersten deutschen Film aller Zeiten herausgebracht. Er braucht Zuschauer, die Kinokarten und DVDs kaufen. Das Geschäft funktioniert — bis Piraten illegale Kopien des Films ins Internet stellen. Aufzeichnung eines Raubzugs

Das „Zeit“-Dossier opfert eine differenzierte Darstellung der Tatsachen der Absicht, die behauptete zerstörerische Kraft der illegalen Kopien zu demonstrieren. Das Werk der Piraten ist auch für den Produzenten Stefan Arndt, dem die „Zeit“ vollständig auf den Leim geht, eine bequeme Erklärung für den Misserfolg seines Filmes.

Am Schluss des Textes kommt die „Zeit“ auf Google:

Auf der Piratenwebsite moviez.to findet sich der Name eines weiteren bekannten Unternehmens. Es ist der des mächtigsten Internetkonzerns der Welt. Google.

Das Unternehmen schaltet allerdings keine Werbung bei den Piraten. Sein Name findet sich lediglich im versteckten sogenannten Quelltext der Website. Zwei Tochterunternehmen von Google sind dort als Werbevermittler aufgeführt. Der Internetkonzern hilft den Filmpiraten dabei, Unternehmen zu finden, die bei ihnen Werbung schalten. (…) Nach einer Untersuchung der Universität von South Carolina in den USA verdient weltweit kaum ein anderes Unternehmen so viel Geld mit der Vermittlung von Werbung auf Piratenseiten wie Google.

Google wollte sich gegenüber der „Zeit“ angeblich nicht äußern, aber das Blatt fand eine Art Strohmann: Jeanette Hofmann.

Hofmanns Hauptthema ist das Urheberrecht. Es geht um eine der größten Veränderungen in der Geschichte der Marktwirtschaft. Bisher basierte dieses System darauf, dass ein Produkt demjenigen gehört, der es hergestellt hat, egal, ob es sich um ein Auto handelt, eine Glühbirne oder einen Kinofilm. Die Hersteller dieser Produkte wurden vom Gesetz geschützt, vom Eigentumsrecht, vom Urheberrecht. Wenn es gut lief, wurden sie reich mit dem, was sie geschaffen hatten.

Jetzt werden auf einmal Leute mit Dingen reich, die sie illegal kopiert haben.

Das ist es, womit sich die Politikwissenschaftlerin Hofmann beschäftigt. Sie hat dazu eine pointierte Meinung: Man brauche gar kein Urheberrecht. Sie sagt, es existiere ja auch kein Urheberrecht für Witze oder Kochrezepte. Dennoch bestehe auf der Welt kein Mangel an Witzen und Kochrezepten, sie habe das selbst untersucht. Außerdem gebe es eine Studie, wonach ohnehin kaum ein Künstler von seiner Kunst leben könne. Trotzdem werde weiterhin Kunst pro- duziert. Warum muss man Künstler also schützen? Warum ist es schlimm, ihre Produkte zu kopieren?

Man kann es überraschend finden, dass die Wissenschaftlerin Hofmann sich so eindeutig auf die Seite derer stellt, die mit illegalen Filmkopien Geld verdienen. Allerdings nur für einen Moment. Bis man feststellt, dass Hofmann und die 26 weiteren Forscher des im vergangenen März gegründeten Instituts nicht von der Humboldt-Universität bezahlt werden, obwohl sie ihre Büros in deren juristischer Fakultät bezogen haben. Sondern von einem großen internationalen Unternehmen. Von Google. Der Konzern ist derzeit der alleinige Geldgeber des Instituts, 4,5 Millionen Euro hat er investiert, für die ersten drei Jahre. Man kann sagen, ein Teil des Geldes, das Google mit den Raubkopien erwirtschaftet, fließt in wissenschaftliche Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass Raubkopien keine schlechte Sache sind.

Es ist eine kalkulierte Rufschädigung, die die „Zeit“ hier vornimmt. Sie unterstellt, dass Google Einfluss hat auf die Forschung des Humboldt-Institutes — obwohl die Konstruktion der Finanzierung dessen Unabhängigkeit sicherstellen soll. Sie unterstellt, dass die renommierte Wissenschaftlerin Hofmann sich von Google hat kaufen lassen und bestellte wissenschaftliche Ergebnisse liefert. Und sie reduziert die differenzierte Haltung Hofmanns zum Urheberrecht auf eine plumpe, falsche Formel, damit sie als perfekte Pointe für ein plump einseitiges Dossier taugt.

Das Landgericht Hamburg hat der „Zeit“ einstweilig untersagt, zu behaupten:

  • „(Jeanette Hofmann forscht zum Urheberrecht.) Sie hält es für überflüssig.“
  • „(Jetzt werden auf einmal Leute mit Dingen reich, die sie illegal kopiert haben. Das ist es, womit sich die Politikwissenschaftlerin Hofmann beschäftigt.) Sie hat dazu eine pointierte Meinung: Man brauche gar kein Urheberrecht.“
  • „Man kann es überraschend finden, dass die Wissenschaftlerin Hofmann sich so eindeutig auf die Seite derer stellt, die mit illegalen Filmkopien Geld verdienen.“

Außerdem darf die „Zeit“ nicht mehr den Eindruck erwecken, Jeanette Hofmann habe an Studien zu illegalen Filmkopien mitgewirkt.

Die „Zeit“ hat die Möglichkeit, Widerspruch gegen den Beschluss einzulegen.

Nachtrag, 24. April. Fortsetzung hier.

Auf den Hund gekommen: Der Wärmestuben-Journalismus der „Zeit“

Die Welt ist nicht gerecht. Die „Financial Times Deutschland“ muss sterben, und Kuschelmagazinen wie „Landlust“ und „Zeit“ geht es bestens.

Die von Giovanni di Lorenzo geleitete Wochenzeitung ist so heimelig und gefühlig geworden, dass sie sich auch als Heizdecke fürs Innere vermarkten ließe. Jan Fleischhauer hat sie neulich als „Führungsblatt des feminisierten Journalismus in Deutschland“ bezeichnet, wobei ich mir gar nicht sicher bin, ob Frauenmagazine überhaupt noch so emotionalisiert und betroffen und flauschigweich daherkommen wie die „Zeit“ heute.

In dieser Woche macht „Die Zeit“ mit der Frage auf, wie guter Journalismus überleben kann, und das illustriert sie natürlich, wie sonst, mit einem süßen Hund.

(Die Frage, ob der Hund die Gefahr oder der Heilsbringer für den Journalismus ist, ist natürlich reine Ketzerei.)

Nun ist es das eine, seinen Lesern ein warmes Gefühl im Bauch zu machen. Was die „Zeit“ aber auch wie kaum eine zweite kann: sich selbst öffentlich ein warmes Gefühl im Bauch machen.

Beides gleichzeitig versucht Giovanni di Lorenzo in seinem Leitartikel, dessen Überschrift schon alles sagt:

Das Blatt wendet sich

Hierzulande gibt es die wohl besten Zeitungen der Welt. Aber keine Branche betreibt so viel Selbstdemontage.

Er schreibt dann erst, worüber er alles nicht klagen will, weil klagen eh nicht hilft, und scheint dann zur „ungemütlichen Prüfung“ überzuleiten, ob ein Teil der Probleme von Zeitungen nicht „hausgemacht“ sei. An dieser Stelle, schreibt di Lorenzo, sei „allerdings ein Wutausbruch fällig“.

Es stellt sich heraus, dass er das zentrale, hausgemachte Problem der Zeitungen darin sieht, dass die sich selbst nicht gut genug finden. Er beschwert sich unter anderem, dass „Journalisten der Printmedien“ zu „manisch“ das Internet lobgepriesen und ihren treuen und teuren Print-Lesern damit suggeriert hätten, dass sie von gestern sind.

Vielleicht bin ich da als Medienjournalist übersensibel, aber ich lese darin, ein bisschen verschleiert, einen Aufruf, dass Print-Journalisten Print-Marketing betreiben sollen. Es setzt den wenigen verbliebenen professionellen Medienredakteuren bei Print-Medien weiter zu, die sich seit über zehn Jahren dafür rechtfertigen müssen, dass sie über die Probleme ihrer Branche so kritisch schreiben wie es ihre Kollegen bei anderen Branchen tun. Journalismus, der Probleme schonungslos benennt, ist offenbar nur dann eine gute Sache und ein fruchtbarer Prozess, wenn er nicht den Journalismus selbst betrifft.

Abgesehen davon wüsste ich gerne, wo di Lorenzo heute einen überkritischen Umgang der Printmedien mit sich selbst ausmacht. Umgekehrt könnte ich ihm Berge von Artikeln schicken, die sich lesen, als seien die Kollegen längst der verlängerte Arm der Marketing-, Lobby- und PR-Abteilungen ihrer Häuser und ihrer Branche.

Am Ende seines Leitartikels schreibt di Lorenzo, was das gedruckte Medium alles brauche:

Vor allem aber braucht es die Leserinnen und Leser, die in aller Regel wissen, was sie gutem Journalismus verdanken. Allerdings müssen sich die Blätter und ihre Macher diese Zuwendung im buchstäblichen Sinne auch verdienen. Wer für sich selbst keine Wertschätzung empfindet, kann sie auch nicht von anderen erwarten.

Das ist allen Ernstes sein zentraler Punkt. Er endet nicht damit, dass Zeitungen besser werden müssen, sondern dass sie sich selbst besser finden müssen.

Entsprechend versteht sich die Qualitätsjournalismus-Ausgabe der „Zeit“ als Wärmestube für die fröstelnden Kollegen.

Götz Hamann schreibt dort:

Das geschriebene Wort steht am Anfang jeder gesellschaftlichen Debatte, doch nun spürt es die volle Wucht der Digitalisierung. Es geht nicht um jedes Wort, sondern um jene, für die auch die ZEIT steht.

Dass das so ungelenk und grammatikalisch heikel formuliert ist, ist vermutlich die Folge davon, dass die „Zeit“ unbedingt ausdrücklich sagen wollte, dass sie nicht sterben darf. Dass das, was sie sagt, Gewicht hat, Relevanz. Auf beinahe elegante Art definiert sie Qualitätsjournalismus als das, was in der „Zeit“ steht.

Das kann man natürlich machen, und womöglich funktioniert es sogar im Sinne der Auto-Suggestion von „Zeit“-Machern und „Zeit“-Lesern. (Auch wenn es natürlich nicht wahnsinnig hilfreich ist, wenn gleich auf der nächsten Seite der „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann falsch geschrieben ist und ein falsches Alter hat.)

Zusammen mit Bernd Ulrich hat Götz Hamann dann noch „sieben Thesen zum Journalismus“ verfasst, von denen man wiederum eigentlich nur die Überschrift lesen muss:

Die Zukunft ist noch lang

Ich möchte trotzdem die letzte, siebte These vollständig zitieren:

Wird es in zwanzig oder dreißig Jahren noch Autos geben? Facebook? iPhones? Wir wissen es nicht. Wird es in zwanzig oder dreißig Jahren noch Zeitungen geben? Das wissen wir auch nicht. Was wir wissen, ist: Auch in Zukunft wollen die Menschen von A nach B, irgendetwas Autoartiges wird ihnen dabei helfen. Auch in Zukunft kann sich nicht jeder über alles selbst informieren, vermag nicht jeder alles einzusortieren, folglich wird es Menschen geben, deren Beruf es ist, dabei zu helfen, vermutlich werden diese Menschen Journalisten heißen. Solange es Worte gibt, wird es schreibenden Journalismus geben. Und so lange wird dieser Beruf einer der schönsten der Welt bleiben.

Mich hat diese hilflos-verzweifelt-verklärende Flucht ins Pathos unter dem Sinnbild des süßen gephotoshoppten Hundes heute depressiver gemacht als alle aktuellen Untergangs-Nachrichten von Print-Medien.

Immerhin: Das Auto müsste sie stehen lassen

Aus der aktuellen „Zeit“:

Ich mag den zweiten Satz in seiner bedeutungsschwangeren Bedeutungslosigkeit. Oder anders gesagt: Schätzen Sie mal, wie groß die Steigerung ist, die die „Zeit“ hier stolz meldet, ohne sie zu melden.

Ich sag’s Ihnen: 1 Promille.

Um 0,10 Prozent ist die Auflage der „Zeit“ im zweiten Quartal gegenüber dem Vorjahr gestiegen.

Diese Tatsache war ihr eine Jubel-Meldung im Blatt in eigener Sache wert. Sie musste dafür nur die Tatsache weglassen.

Martensteins gefühltes Wissen

Manche Dinge sieht man besser, wenn man nicht so genau hinschaut. Wenn man, anstatt mit der Nasenspitze drauf zu stoßen, ein paar Schritte zurücktritt.

Um einen Hindernisparcours mit dem Fahrrad oder Motorrad langsam zu durchfahren, hilft es, nicht auf die Hütchen zu starren. Den Schlüsselbund auf dem Schreibtisch findet man oft am besten aus dem Augenwinkel.

Es ist also nicht von vornherein eine schlechte Idee, dass Harald Martenstein in seiner „Zeit“-Kolumne über die Reaktionen auf die Nazimorde schreibt, obwohl er erklärtermaßen wenig davon erlebt hat. Er war in den vergangenen Wochen in den USA, wo er wenig von dem ganzen Getöse mitbekommen hat, und brachte etwas mit, das uns fehlt: Abstand. Und gesundes Nichtwissen.

Das lässt sich mit etwas Geschick in gefühltes Wissen verwandeln. Gefühltes Wissen ist das, was Kolumnisten wie Martenstein auszeichnet und lesenswert macht.

Deshalb wäre es auch Unsinn, ihm Recherchefaulheit vorzuwerfen, wenn er Sätze schreibt wie:

In den USA hatte kein Sender und keine Zeitung [über die Nazimorde] berichtet, zumindest habe ich nichts mitbekommen. Vielleicht stand in der New York Times eine Kleinigkeit, die ich übersehen habe.

Natürlich könnte er in etwa fünf Sekunden feststellen, dass in der „New York Times“ ein größerer Artikel stand, und zwar am 14. November auf Seite 4, aber man kann ernsthaft darüber streiten, ob diese exakte Information die Wahrheit wirklich treffender beschreibt als das Gefühl: nirgends stand irgendwas.

Die amerikanischen Medien waren stattdessen voll von einem spektakulären Missbrauchsfall „in einem wichtigen Sportverein“ (er meint das Football-Team der Penn-State-Universität, aber das zu nennen, wäre schon wieder die Scharf-Nah-Einstellung einer Linse, also nichts für Martensteins unfokussierten Blick). Das bringt ihn zu der Beobachtung, dass der Missbrauchsfall ja auch bei uns hätte stattfinden können, und die Nazimordserie in den USA, denn:

Es kann ja fast alles Furchtbare fast überall passieren.

Das ist natürlich richtig. Aber um das festzustellen und bei dieser Feststellung stehen zu bleiben und nicht wenigstens zu fragen, warum bestimmte Dinge trotzdem hier passiert sind und nicht woanders und andere woanders und nicht hier, muss man schon einen großen Willen zum Nichtwissenwollen mitbringen.

Auch jemand, der aussieht wie Winston Churchill kann 91 Jahre alt werden, aber wenn das passiert, ist es kein Beweis dafür, dass Ernährung und Bewegung keinen Einfluss auf die Lebenserwartung haben.

Jedenfalls kam Martenstein also aus den USA zurück und staunte, dass sich Deutschland in seiner Abwesenheit verändert hatte, weil die Menschen erfahren hatten, dass eine Gruppe von Neonazis in diesem Land jahrelang relativ unbehelligt Morde begehen konnte.

Martenstein schreibt:

Nicht selten wurden die Morde mit dem Rassismus der Deutschen oder zumindest vieler Deutscher in Verbindung gebracht oder damit, dass man den Naziterror in Deutschland notorisch unterschätzt. Moment mal, war nicht ein paar Monate vorher etwas ähnlich Furchtbares in Norwegen passiert? Es kommt mir immer widersprüchlich vor, wenn man gegen den Rassismus anschreibt und dabei einem bestimmten Volk, zum Beispiel den Deutschen, einen gewissermaßen in der Rasse angelegten Hang zum Bösen unterstellt.

Hier ist Martensteins Prinzip der Vagheit ein Ärgernis, denn ich wüsste gerne, wo er das gelesen hat. Mein gefühltes Wissen unterscheidet sich fundamental von seinem gefühlten Wissen, denn mir kommt es nicht so vor, als seien die Ausländermorde dieser Bande als Beweis dafür diskutiert worden, dass die Deutschen chronisch latent ausländermörderisch seien. Nach meiner Wahrnehmung war das besondere Entsetzen über die Taten ein Ausdruck davon, dass es ausgerechnet uns passieren konnte, die Gefahr rechtsextremer Gewalt anscheinend relativ kollektiv zu unterschätzen.

Martenstein aber vergleicht die reale Pauschalverurteilung von Muslimen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 mit der von ihm wahrgenommenen Pauschal(selbst)verurteilung der Deutschen, und das ist auf so vielen Ebenen abwegig, dass ich nur vermuten kann, dass er seinen gesunden Menschenverstand noch unausgepackt im Koffer hat.

Es kommt aber noch schlimmer:

Wegen der Nazimorde, las ich, habe der Bundestag sich bei den Hinterbliebenen entschuldigt. Ich fand das seltsam. (…) Indem die Volksvertretung sich entschuldigt, dachte ich, identifiziert sie sich irgendwie mit den Mördern, sie schafft ein falsches „wir“. Wir Deutschen, ihr Migranten. Als ob das sauber zu trennen wäre. Genau das wollen die Nazis doch. Der Staat soll die Nazis jagen und einsperren und nicht an ihrer Stelle Entschuldigungen abgeben.

Das ist der Fluch des gefühlten Wissens: Wenn Martenstein etwas in der Welt wahrnimmt, das ihm „seltsam“ vorkommt, dann schaut er sich als Reaktion nicht genauer die Sache in der Welt an, sondern das Gefühl in seinem Kopf. So mag er hin und wieder zwar zu originellen Erkenntnissen kommen. Deren Verbindung zur Realität lässt sich aber in diesem Fall durch eine schlichte zweiminütige Recherche kappen.

Die „Entschuldigung“ des Bundestages, die Martenstein so seltsam vorkam, lautet nämlich wie folgt:

Im Namen des ganzen Hauses, aller Mitglieder des Deutschen Bundestages, will ich unsere Trauer, Betroffenheit und Bestürzung zum Ausdruck bringen über die erschreckende Serie von Morden und Anschlägen einer kriminellen neonazistischen Bande.

Wir sind beschämt, dass die Sicherheitsbehörden der Länder wie des Bundes die über Jahre hinweg geplanten und ausgeführten Verbrechen weder rechtzeitig aufdecken noch verhindern konnten. Unsere Anteilnahme gilt den Angehörigen und eine besondere Bitte der Entschuldigung für manche Verdächtigungen von Opfern und Angehörigen, die sie während der Ermittlungen vor Ort erleben mussten.

Wir wissen um unsere Verantwortung. Wir sind fest entschlossen, alles mit den Mitteln des Rechtsstaates Mögliche zu tun, die Ereignisse und ihre Hintergründe aufzuklären und sicherzustellen, dass der Schutz von Leib und Leben und die von unserer Verfassung garantierten Grundrechte in diesem Land Geltung haben — für jeden, der hier lebt, mit welcher Herkunft, mit welchem Glauben und mit welcher Orientierung auch immer.

Gleich drei gute Gründe enthält diese Erklärung dafür, warum der Bundestag der Opfer gedachte. Erstens weil es staatliche Organe waren, die massive Fehler gemacht haben (und deren Mitarbeiter sogar, was der Bundestag allerdings nicht erwähnt, im Verdacht stehen, in die Morde verwickelt zu sein). Zweitens weil die Opfer zu Tätern gemacht wurden, indem ihnen — aufgrund ihrer Herkunft — unterstellt wurde, in dunkle Geschäfte verwickelt zu sein (der „Spiegel“ hatte noch im August suggeriert, hinter den Morden stecke „die mafiöse Organisation türkischer Nationalisten in Deutschland“: „Die Morde, so viel wissen die Ermittler, sind die Rechnung für Schulden aus kriminellen Geschäften oder die Rache an Abtrünnigen.“) Und drittens weil der Staat eine Verantwortung für die Menschen hat, die hier leben, und für die Minderheiten in besonderem Maße. Es hat eine andere Qualität, wenn Ausländer um Leib und Leben fürchten müssen, nur weil sie Ausländer sind, oder wenn Staatsvertreter als Staatsvertreter von Terroristen ins Visier genommen werden.

Von einer „Entschuldigung“ für die Taten selbst oder gar einer Entschuldigung an Stelle der Neonazis ist in der Bundestags-Erklärung keine Rede; sie aber hat Martenstein aus seinem Viertelwissen erfühlt und damit auch die Identifikation — „irgendwie“ — mit den Mörden.

Ein falsches „wir“ schaffe sie, „wir Deutschen, ihr Migranten“, „als ob das sauber zu trennen wäre“. Das war leider tatsächlich furchtbar sauber zu trennen: Die Morde an den Türken und dem Griechen wurden „Döner-Morde“ genannt — ein Begriff, den anscheinend die „Bild“-Zeitung früh geprägt hat, der aber von anderen Medien kritiklos übernommen wurde und viel darüber aussagt, wie wir Deutschen die Türken wahrnehmen.

Die Deutschen haben sich nach meiner Wahrnehmung in den letzten Wochen nicht als immer noch latentes Nazi-Volk erkannt. Die Deutschen sind einfach nachvollziehbar erschrocken, wie unfähig oder untätig ihre Sicherheitsorgane im Kampf gegen rechtsradikale Gewalt sind und wie bereitwillig wir vielleicht alle waren, in ganz falscher Weise die Ermordung von Menschen durch ihre Nationalität zu erklären.

Aber Harald Martenstein war in den USA und hat sich hinterher etwas anderes zusammengereimt. Oft hilft es ja, sich Sachen genau anzuschauen, und dann erst ein paar Schritte zurückzutreten.

Warum ist die „Zeit“ nicht besser? (4)

Die „Zeit“ berichtet heute, dass „neulich“ jemand bei Wikipedia dem neuen Wirtschaftsminister einen falschen zusätzlichen Vornamen verpasst habe. Aber dass die Geschichte alt ist, ist ihr kleinstes Problem.

Wenn Wikipedia also die „Heimstatt kollektiven Kurzzeitwissens“ ist — was ist dann die „Zeit“? Der senile Opa der Nation? Der wöchentliche Jahresrückblick?

Oder ist das eine Redensart, die Leute kennen, die auch Wörter wie „Pfiffikus“ noch benutzen (etwa: jmd. einen Heinrich unterjubeln)?

Auf eine Berichtigung ihrer kleinen und größeren Fehler aus ihrem Dossier über ARD und ZDF hat die „Zeit“ übrigens verzichtet. Auf der Leserbriefseite findet sich unter der Überschrift „Beherzte Kritik am Fernsehen“ zwar folgender Text:

Aber derjenige, der da meint, „Ich muss einen Fehler korrigieren“, ist natürlich keiner der beiden Autoren des Artikels. Sondern der ARD-Korrespondent Hubert Seipel. Die „Zeit“ korrigiert ihre Fehler nicht selbst, sondern lässt es von denjenigen übernehmen, über die sie sie verbreitet hat. Man könnte das elegant nennen.

[mit Dank an BILDblog-Leser KH Schneider]

Warum ist die „Zeit“ nicht besser? (2)

Ich muss nochmal kurz auf das etwas verunglückte „Zeit“-Dossier zum anhaltenden Niedergang von ARD und ZDF zurückkommen. Die beiden Autoren Stephan Lebert und Stefan Willeke schreiben nämlich auch:

Als der Hamburger Dokumentarfilmer Hubert Seipel im Auftrag des NDR nach Afghanistan fliegt, weil er einen Beitrag über den Einsatz der Bundeswehr vorbereiten will, sucht er sich in Kabul als Erstes einen zuverlässigen Fahrer und schaut sich das Land an. Mai 2008. Seipel will die Lage sondieren. Er hat erfahren, dass die Sendeanstalt ihm keinen eigenen Kameramann stellen wird, zu gefährlich. Seipel wird selbst einen Kameramann engagieren, und er wird noch drei weitere Male nach Afghanistan reisen, immer für ein bis zwei Wochen.

Der Norddeutsche Rundfunk nennt diese Darstellung „schlicht falsch“:

„Tatsache ist: Der Autor hat keinen eigenen Kameramann engagiert, selbstverständlich hat der NDR dies für Hubert Seipel getan. Der NDR hat als Kameramann einen erfahrenen Kollegen beauftragt, der in Afghanistan bereits mehrfach gedreht hat. Der NDR nimmt seine Fürsorgepflicht für das gesamte Team bei einem so gefährlichen Einsatz sehr ernst.“

Auch Seipel selbst soll der Darstellung der „Zeit“ in einem Brief widersprochen haben.

Und ganz übersehen hatte ich diese bezeichnende Stelle in dem Artikel:

Von ihrem Publikum ist den Öffentlich-Rechtlichen nach 25 Jahren Privatfernsehen nicht einmal die Hälfte geblieben, aber noch immer haben die Anstalten ihre Gebühreneinzugszentrale, noch immer all ihre Funkhäuser. 1983, im letzten Jahr des öffentlich-rechtlichen Monopols, hatten die ARD-Sender 18400 Angestellte, heute sind es 23000.

Die Zahlen sind offenbar nicht falsch (obwohl man sich natürlich den Hinweis hätte erlauben können, dass vielleicht die Funkhäuser noch da sind, aber zum Beispiel die beiden Anstalten SWF und SDR zum SWR fusionierten). Nur ist zwischen 1983 und 2009 etwas passiert, das für die Angestellten-Explosion vielleicht eine mindestens so gute Erklärung ist wie die scheinbar grenzenlose Molochhaftigkeit der ARD: Es nennt sich deutsche Einheit. Von 1991 an sendete die ARD für ein Viertel mehr Bürger.

Stephan Lebert ist übrigens einer der Reportagechefs der „Zeit“, Stefan Willeke vielfach preisgekrönter Chef des „Zeit“-Dossiers.

Warum ist „Die Zeit“ nicht besser?

Alle paar Jahre veröffentlicht die „Die Zeit“ einen großen, wuchtigen Artikel, in dem der Untergang des guten öffentlich-rechtlichen Fernsehens beklagt wird. Im Grunde reicht es, einen davon zu kennen, zum Beispiel Jens Jessens Seite-1-Kommentar vom 31. August 2000:

Die Quoten-Idioten
Warum ARD und ZDF die Zuschauer verachten

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat sich in eine ausweglose Lage manövriert. Schon jetzt verstehen die Bürger nur noch mühsam, warum sie staatliche Sendeanstalten mit zwangsweise erhobenen Gebühren unterstützen sollen, während sich die privaten allein durch Werbung finanzieren. Bald werden die Zuschauer das Gebührenprivileg gar nicht mehr verstehen. Denn ARD und ZDF arbeiten planmäßig daran, die letzten Unterschiede in Programmangebot und „Bildungsauftrag“ (so lautete ein längst vergessener Rechtfertigungsgrund) zu tilgen, mit denen erklärt werden konnte, warum das eine Fernsehsystem bezahlt werden muss, während das andere gratis ist. (…)

In diesem Jahr hatten Stephan Lebert und Stefan Willeke die Aufgabe, das einfach alles noch einmal aufzuschreiben, als Titelgeschichte:

Und als vierseitiges Dossier unter dem Titel:

Unser Gott, die Quote

Und vieles von dem, was sie schreiben, ist ja nicht falsch. Ein großer Teil der Kritik an der Verzagtheit, Ideenlosigkeit und Quotenfixiertheit von ARD und ZDF ist immer noch und immer wieder berechtigt.

Es ist nur so, dass Fernsehen ein Thema ist, mit dem sich die Autoren der rituellen ARD-ZDF-Qualitäts-Untergangs-Geschichten der „Zeit“ chronisch schlecht auskennen. Lebert und Willeke scheinen zwar einen umfangreichen Reiseetat gehabt, sämtliche Funkhäuser dieser Republik bereist und mit ungefähr jedem in der Branche gesprochen zu haben. (Herausgefunden haben sie dabei unter anderem, wie abgehoben die Fernsehmacher sind: ZDF-Programmdirektor Thomas Bellut sitzt laut „Zeit“ in „Büro 1454, Hochhaus am Lerchenberg, 14. Stock“, NDR-Kulturchefin Patricia Schlesinger im „Eckbüro im 13. Stock des NDR-Hochhauses“.) Aber manches haben sie einfach nicht verstanden.

Zum Beispiel die Sache mit dem Marktanteil. Sie schreiben über die Dokumentation „Das Schweigen der Quandts“, die die ARD „erst um 23.30 Uhr“ gesendet habe:

(…) dass die Einschaltquote trotz der Nachtzeit noch bei 14 Prozent lag, ermutigte den Sender zu keinem Umdenken, im Gegenteil. Erzielen späte Filme Überraschungserfolge, ist das kein Argument für den Film, sondern für die Uhrzeit.

Nun ja, das ist der Fluch mit der Messgröße Marktanteil: Sie bezieht sich nicht auf alle Zuschauer, sondern nur auf die Zahl derer, die gerade den Fernseher eingeschaltet haben. Später am Abend, wenn bei der Konkurrenz nicht mehr so viel läuft, ist es leichter, einen hohen Marktanteil zu erzielen — aber die absolute Zahl der Zuschauer wird natürlich kleiner. Zu formulieren, dass die Einschaltquote „trotz der Nachtzeit“ noch bei 14 Prozent lag, ist jedenfalls völliger Unsinn.

(Dass der NDR „Das Schweigen der Quandts“ kurz darauf in einer XXL-Version immerhin um 21.15 Uhr zeigte, erwähnt die „Zeit“ sicherheitshalber gar nicht. Die Ausstrahlung spät abends im Ersten hatte übrigens 1,3 Millionen Zuschauer; die Ausstrahlung im NDR-Fernsehen immerhin 0,9 Millionen — bei einem bundesweiten Marktanteil von nur 2,9 Prozent.)

Die „Zeit“ schreibt:

Der erfolgreiche Produzent Oliver Berben lässt sich immer nachts um drei die Quoten mailen, wenn einer seiner Filme am Abend vorher lief.

Das wäre allerdings erstaunlich. Die offiziellen Zahlen, die die GfK im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung erhebt, gibt es jedenfalls auch für die Fernsehmacher erst am nächsten Morgen so gegen neun Uhr.

Rüdiger Schawinski, ehemaliger Chef des privaten Senders Sat.1, beginnt noch heute seinen Tag damit, die Quoten anzuschauen, obwohl es ihm schon lange egal sein könnte.

Rüdiger Schawinski, der kleine Bruder von Roger Schawinski?

Bis zum Jahr 1984 sprach niemand vom Quotendruck. Erst als die Privatsender zugelassen wurden, änderte sich das.

Dieser Mythos ist ebenso weit verbreitet wie falsch. Man lese in alten „Spiegel“-Artikeln nach, wie dramatisch zum Beispiel im Herbst 1973 oder im Sommer 1976 die internen und öffentlichen Diskussionen über den Quotendruck waren.

Erstaunlich ist auch, dass die Autoren bei ihrem Wunsch nach mehr gutem öffentlich-rechtlichen Fernsehen indirekt anregen, dass die ARD doch „Wer wird Millionär“ hätte kaufen und dafür „mehrere Plätze zur Primetime freischlagen“ sollen. Bei aller berechtigten Kritik an der Trägheit und dem föderalen Alptraum der ARD und bei aller Liebe zu „Wer wird Millionär?“: Ich glaube, dass das ein ganz gesunder Unterschied zwischen privatem und öffentlich-rechtlichem Fernsehen ist, dass RTL für ein solches Quiz drei Primetime-Plätze freischlagen kann — und die ARD nicht.

Zum „Dossier“ gehören neben dem langen Artikel noch ein paar Tabellen und Statistiken, zum Beispiel diese:

Ja, das ist nicht uninteressant, was die Menschen 2007 so im Fernsehen geguckt haben, und vermutlich muss man froh sein, dass die „Zeit“ nicht die meistgesehenen Sendungen von 2005 oder 1998 dort präsentierte. Die Zahlen von 2008 liegen ja auch erst seit sieben Wochen vor.

So gesehen ist die „Zeit“-Übersicht über die Reichweite der Fernsehnachrichten immerhin scheinbar aktuell:

außer, dass die „Newstime“ von ProSieben schon seit Anfang 2007 nicht mehr gegen 20 Uhr läuft, sondern um kurz vor sechs, dafür aber die „Sat.1 News“ seit fast einem Jahr unter dem Namen „Sat.1 Nachrichten“ um 20 Uhr zu sehen sind.

Man kann das alles natürlich als Kleinigkeiten und Nachlässigkeiten abtun, aber wir reden hier immerhin vom Dossier der „Zeit“. Mich bestätigt das alles eher in meiner These, dass man keinen Artikel über ARD und ZDF zu lesen braucht, in dem die Wörter „Zwangsgebühren“ und „Staatsfernsehen“ vorkommen.

Ich hätte übrigens eine These, warum die „Zeit“ alle paar Jahre groß auf Seite 1 den Niedergang von ARD und ZDF beschreibt. Gut, bei Zeitungen nennt man es nicht „Quote“.

Nachtrag, 20. Februar: mehr hier.