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Die Aserbaidschan-Connection von dapd

Erinnern Sie sich an die merkwürdig regimefreundliche Berichterstattung der deutschen Nachrichtenagentur dapd über Aserbaidschan? Als ich darüber vor einigen Wochen gebloggt habe, kannte ich das hier noch nicht:

Martin Vorderwülbecke, Vorstand und Miteigentümer von dapd, war im vergangenen Dezember in Baku. Er hat sich dort mit Vertretern der staatlichen Nachrichtenagentur AzerTAc getroffen. Und die berichtet darüber wie folgt (Übersetzung von mir):

Die deutsche Nachrichtenagentur dapd betrachtet eine Kooperation mit der staatlichen aserbaidschanischen Nachrichtenagentur AzerTAc als sehr wichtig. (…)

Die Diskussion konzentrierte sich auf die Frage, wie eine Zusammenarbeit zwischen AzerTAc und dapd etabliert und ein Erfahrungsaustausch durchgeführt werden kann. (…)

Martin Vorderwülbecke sagte, die Etablierung einer Zusammenarbeit zwischen AzerTAc und dapd würde dazu beitragen, die Beziehungen zwischen Deutschland und Aserbaidschan anzukurbeln. Er fügte hinzu, dass es dapd wichtig sei, Nachrichten über Aserbaidschan nach Deutschland zu liefern.

Vorderwülbecke wies darauf hin, dass dapd ein neues Büro in Aserbaidschan eröffnen werde. Er sagte, ein Erfahrungsaustausch zwischen dapd und AzerTAc sei für die beiden Agenturen nützlich.

Tsis.

Das ist aber alles sehr kuschelig da. Der Eigentümer von dapd reist nach Aserbaidschan und möchte die deutsch-aserbaidschanischen Beziehungen verbessern? Ein Beiratsmitglied von dapd hat beste Kontakte zur PR-Agentur, die das Image von Aserbaidschan aufpolieren hilft? Und der dapd-Mann vor Ort taucht das Regime gelegentlich in ein mildes freundliches Licht?

Kann natürlich sein, dass das alles Zufall ist.

Ich habe bei dapd nachgefragt, wie ich mir die Kooperation mit AzerTAc vorstellen muss, ob die Agentur ihre Aufgabe darin sieht, für gute Beziehungen zwischen Staaten allgemein oder diesen beiden konkret zu sorgen, und wie dpad von einem Erfahrungstausch mit AzerTAc profitieren könnte. Ich bekam die folgende Antwort:

Es gibt keine Kooperation mit AzerTAc. Insofern erübrigen sich Ihre Fragen.

Ging dann aber noch weiter:

Richtig ist, dass dapd bilaterale Vertragsbeziehungen mit Nachrichtenagenturen in 25 Ländern unterhält, u.a. China, Japan, Tschechien und Schweden. Außerdem führt dapd laufend Sondierungsgespräche, um für die Kunden eine eigene Berichterstattung (z. B. aus Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan oder Iran) sicherzustellen. dapd berichtet seit einigen Wochen mit zwei eigenen Korrespondenten unabhängig aus Aserbaidschan und wird von dort auch weiterhin berichten. dapd setzt zudem auf das Netzwerk von unabhängigen AP-Journalisten.

Das klärt natürlich in keiner Weise, warum kein Geringerer als der Vorstandsvorsitzende von dapd nach Baku fährt und Kontakte pflegt, die seine Gesprächspartner als weitreichende Kooperationsangebote darstellen.

(Der dapd-Sprecher wies dann noch dezent darauf hin, dass die dapd-Konkurrenz dpa mit AzerTAc kooperiere: Beide sind im Agenturennetzwerk EANA. Dabei handelt es sich allerdings nach Angaben von dpa bloß um einen Dachververband, wie es ihn für viele Branchen auf europäischer Ebene gibt: „Es gab und es gibt keinerlei Kooperation zwischen der dpa und AzerTAc“, so ein Sprecher. „Die dpa bezieht keine Informationen von AzerTAc und wertet deren Agenturdienste nicht aus. Umgekehrt liefern wir auch keine Inhalte und Dienste an AzerTAc.“)

dapd-Feature über Baku: „Naiv, blind oder bezahlt“

Im Herbst 2010 hat die Nachrichtenagentur dapd einen dreiköpfigen Beirat berufen, der die journalistische Unabhängigkeit ihrer Berichterstattung schützen soll. Seitdem können sich Redakteure, wenn sie unzulässige Versuche der Einflussnahme wahrnehmen, direkt zum Beispiel an den ehemaligen ZDF-Intendant Dieter Stolte wenden.

Das hätte im Fall des auffallend regimefreundlichen dapd-Features über Aserbaidschan, das vor zehn Tagen erschien, eine schöne Ironie. Denn Dieter Stolte schützt nicht nur die Unabhängigkeit der Berichterstattung von dapd. Dieter Stolte sitzt auch im Beirat der PR-Firma Consultum Communications. Und Consultum Communications ist eine Agentur, die im Auftrag Aserbaidschans daran arbeitet, das Image des autoritär regierten Landes in Deutschland zu verbessern.

dapd sieht darin kein Problem. Sprecher Tobias Lobe schließt eine Einflussnahme Stoltes aus: „Professor Stolte steht seit Jahrzehnten für journalistische Unabhängigkeit und Integrität. Er beschäftigt sich nicht mit tagesaktuellen Fragestellungen der dapd.“

Lobe sieht auch keinen grundsätzlichen Interessenskonflikt darin, dass jemand, der die journalistische Unabhängigkeit sicherstellen soll, seinerseits im Beirat eines Unternehmens sitzt, das davon lebt, Medien in seinem Sinne zu beeinflussen: „Herr Prof. Stolte würde sich für Derartiges auch nicht missbrauchen lassen.“

In dem dapd-Feature wird ein autoritäres Regime zur demokratisch legitimierten Herrschaft eines allseits geschätzten, gütigen und großzügigen Präsidenten verklärt. Die Staatsgewalt, die durch willkürliche Entscheidungen, Verstöße gegen Menschenrechte und Übergriffe gegen Demonstranten und Kritiker von sich reden macht, tritt hier in Gestalt von gemütlichen Polizisten auf, die Tee trinken, weil nichts zu tun ist. Auf meine Frage, ob dieser Text den journalistischen Standards von dapd entspricht, antwortet Lobe nicht direkt. Stattdessen erklärt er unter anderem:

Journalistischer Standard einer objektiv und professionell arbeitenden Nachrichtenagentur ist, gewissenhaft zu informieren und nicht zu manipulieren. In diesem Fall handelte es sich um ein Reise-Feature, dass auch online im Reiseressort einer Zeitung verbreitet wurde. Das Autorenstück — verfasst von einem Korrespondenten, der viele Jahre für dpa gearbeitet hat — legt einen besonderen Schwerpunkt auf die dynamische Entwicklung des Landes als Magnet für Tourismus und die internationale Geschäftswelt. Es handelt sich um ein Stadtportrait und keine Analyse der politischen Verhältnisse. Es ist wohlgemerkt ein Artikel im Rahmen eines sehr umfangreichen Themenangebots der Aserbaidschan-Berichterstattung, die zahlreiche kritische Artikel umfasst. Wir regen an, die Frage nach journalistischen Standards auch anderen Agenturen zu stellen. Ein ähnliches Feature ist u.a. von Focus, Stern, Welt, FR online veröffentlicht worden. Nachzulesen z. B. unter www.stern.de/reise/baku-das-dubai-des-kaspischen-meeres-1812943.html. In diesem Beitrag eines Mitbewerbers werden Fragen nach Menschenrechten und Pressefreiheit auch nicht thematisiert, da ein anderer thematischer Fokus gesetzt wurde. Das kritisieren wir jedoch ausdrücklich nicht.

Der Unterschied zwischen dem erwähnten dpa-Stück und dem dapd-Stück ist allerdings, dass bei dpa die Politik ganz ausgeblendet ist. Bei dapd ist sie ein entscheidender Aspekt des Features — und das ganz im Sinne des Regimes.

Markus Löning, der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, kommentiert den dapd-Beitrag über Aserbaidschan so:

Entweder hat hier ein Blinder geschrieben oder ein Dummkopf oder es war ein PR-Auftrag. Unglaublich wie man so an der Realität dieses Landes vorbei schreiben kann. Ich kenne Aserbaidschan aus vier Besuchen in den letzten zehn Jahren. Es gibt dort viel interessantes zu sehen und zu entdecken. Faszinierendes aus einer unruhigen und bewegten Geschichte, spannendes über den rasanten Zufluss an Ölgeld und abstossendes über die gewissenlose Durchsetzung von Macht– und Geldinteressen. Es ist ein buntes Bild mit heftigen Schattenseiten. Wer nur den Sonnenschein schildert muss sich gefallen lassen, naiv, blind oder bezahlt genannt zu werden.

Der Menschenrechtsbeauftragte ist beim Auswärtigen Amt angesiedelt. Das Außenministerium hat Ende vergangenen Jahres spektakulär entschieden, einen Großauftrag nicht mehr dpa, sondern der Konkurrenz von dapd zu erteilen. dpa wirft dapd unter anderem Preisdumping und Qualitätsmängel vor.

Nachtrag, 30. April. Markus Löning rudert zurück: Nach der Lektüre weiterer Berichte des Autors habe er sich bei ihm für den Vorwurf der einseitigen Berichterstattung und seine „scharfe Wortwahl“ entschuldigt, schreibt er.

Wulffs „400 Fragen, 400 Antworten“

Der „Tagesspiegel“ war sichtlich stolz auf seine Exklusiv-Meldung. Online hob er sie mit einem gelben Textmarker-Hinweis hervor; gedruckt brachte er sie ganz oben auf Seite 1.

Sie lautete:

Wulffs Anwalt: Antworten bleiben geheim

Berlin – Bundespräsident Christian Wulff verweigert die Herausgabe von Fragen und Antworten zu seiner Affäre. Dies teilte sein Anwalt Gernot Lehr, der die Fragen für Wulff beantwortet hat, dem Tagesspiegel mit. „Der im Mandantenauftrag geführte Schriftverkehr zwischen Anwälten und Dritten fällt unter die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht. Aus diesem Grund sowie aus Gründen der praktischen Handhabbarkeit für alle Beteiligten ist eine zusammenfassende Stellungnahme erfolgt“, sagte Lehr. In seinem TV-Interview hatte Wulff gesagt: „Ich geb Ihnen gern die 400 Fragen, 400 Antworten.“ (…)

Die Agenturen sprangen sofort darauf an. Schon um 5:55 Uhr morgens verbreitete Reuters die Meldung mit folgendem Hintergrund:

Wulff hatte in der vergangenen Woche in seinem Interview mit ARD und ZDF gesagt: „Ich gebe Ihnen gern auf die 400 Fragen 400 Antworten.“ Man müsse die Transparenz weitertreiben, was auch neue Maßstäbe setze. „Morgen früh werden meine Anwälte alles ins Internet einstellen. Dann kann jede Bürgerin, jeder Bürger, jedes Detail zu den Abläufen sehen (…).“

AFP, dapd, dpa zogen alle noch im Lauf des Vormittags nach. Bei dpa las sich der entscheidende Widerspruch so:

Wulff hatte in der vergangenen Woche im Interview von ARD und ZDF angekündigt, er wolle in der Affäre für vollständige Transparenz sorgen. „Morgen früh werden meine Anwälte alles ins Internet einstellen. Dann kann jede Bürgerin, jeder Bürger jedes Details zu diesen Abläufen sehen und bewertet sehen, auch rechtlich“, sagte er. „Ich geb‘ Ihnen gern die 400 Fragen, die 400 Antworten.“

In späteren Meldungen behauptete dpa, der Bundespräsident habe „eine öffentliche Dokumentation der Fragen und Antworten zu den Vorwürfen gegen das Staatsoberhaupt“ „versprochen“.

Hat er das wirklich?

Die Zitate Wulffs stimmen. Sie stammen alle aus dem Interview, das er in der vergangenen Woche ARD und ZDF gegeben hat. Aber der Satz, dass seine Anwälte „alles ins Internet einstellen werden“, und der Hinweis auf „die 400 Fragen, die 400 Antworten“, fielen keineswegs im selben Zusammenhang.

Wulff sagte einerseits:

Morgen früh werden meine Anwälte alles ins Internet einstellen. Dann kann jede Bürgerin, jeder Bürger jedes Detail zu diesen Abläufen sehen und bewertet sehen, auch rechtlich.

Er sagte das im Kontext, dass „man“ (er meint: „ich“) „die Transparenz weitertreiben muss“. Über die „400 Fragen“ spricht er sehr viel später:

Schausten: Können Sie denn garantieren, dass nicht noch etwas anderes nachkommt in der Affäre, über die wir jetzt sprechen?

Wulff: Also bei 400 Fragen und wenn gefragt wird, was es zu essen gab, bei Ihrer ersten Hochzeit und wer Ihre zweite bezahlt hat und ob Sie den  Unterhalt für Ihre Mutter gezahlt haben und ich könnte jetzt tausend Sachen mehr nennen und wer die Kleider für Ihre Frau gezahlt hat, welche geliehen waren, welche sozusagen als geldwerter Vorteil versteuert  werden, dann kann ich nur sagen, ich geb Ihnen gern die 400 Fragen – 400 Antworten. Da ist jetzt etwas, was einen dann innerlich auch nach solchen drei Wochen irgendwo freimacht, dass man sagt, also jetzt ist wirklich alles von innen nach oben und umgekehrt gewendet. Und man muss sich dann auch fragen, ob nicht dann auch es irgendwann akzeptiert wird, dass auch ein Bundespräsident ein privates Leben haben darf.

Er spricht hier davon, dass er glaubt, sich keine Sorgen darüber machen zu müssen, dass noch neue Enthüllungen ans Tageslicht kommen. Die 400 Fragen, auf die er ebenso viele Antworten gegeben habe, hätten wohl alles abgedeckt. Er blickt nicht in die Zukunft, wenn die Anwälte irgendetwas veröffentlichen würden, sondern in die Vergangenheit: Es hätte ihn „innerlich freigemacht“, das Gefühl zu haben, alles gefragt worden zu sein und alles beantwortet zu haben.

Womöglich kann man das auch anders verstehen. Ganz sicher war Wulff — wieder einmal — dumm, dass er das Veröffentlichen eines sechsseitigen Papiers mit Antworten als revolutionären Akt der Transparenz verbrämte. Aber es spricht einiges dafür, dass er nicht angekündigt oder versprochen hat, alle 400 Fragen und Antworten im Internet veröffentlichen zu lassen.

Die Agentur Reuters ist immerhin genau genug, in einer Meldung am Dienstagabend so zu formulieren:

Mittwoch vergangener Woche hatte Wulff im Interview von ARD und ZDF angekündigt, auf die bis dahin 400 eingereichten Fragen gebe er gerne 400 Antworten. Er wolle mit der Transparenz neue Maßstäbe setzen. Seine Anwälte würden noch am Folgetag „alles ins Internet einstellen“. Jeder Bürger könne dann jedes Detail bewerten. Dies war vielfach so verstanden worden, als werde er sämtliche Antworten auf Anfragen von Medien öffentlich machen.

Ja: Es war vielfach so verstanden worden. Eindeutig gesagt hatte er es nicht.

Doch die Medien taten so, als hätte er. Und hatten frische Munition.

„Spiegel Online“ brachte den Vorwurf auf die schlichte schlagzeilentaugliche Formel:

Wulff bricht sein Versprechen

Und komponierte entsprechend Wulffs Zitate sehr frei wie folgt zusammen:

Am Mittwoch hatte das Staatsoberhaupt in einem Interview mit ARD und ZDF noch angekündigt: „Ich geb Ihnen gern auf die 400 Fragen 400 Antworten.“ Man müsse die Transparenz weitertreiben, „die setzt auch neue Maßstäbe“. „Morgen früh werden meine Anwälte alles ins Internet einstellen. Dann kann jede Bürgerin, jeder Bürger jedes Details zu den Abläufen sehen — und bewertet sie auch rechtlich.“

Der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag Peter Altmaier sagte dem „Hamburger Abendblatt“: „Ich hielte es für unglücklich, wenn der Eindruck entstünde, dass die Anwälte des Bundespräsidenten jetzt hinter dem zurückbleiben, was er selbst in einem Fernsehinterview angekündigt hat.“ Gegenüber der WAZ-Mediengruppe nutzte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel den angeblichen Widerspruch zwischen Versprechen und Einlösung für neue, alte Angriffe auf Wulff. Die „WAZ“ behauptete in diesem Zusammenhang:

In seinem Fernseh-Interview in der vergangenen Woche hatte Wulff erklärt, er wolle die 400 Medienanfragen, die er über seine Anwälte beantwortet habe, der Öffentlichkeit zugänglich machen und so in der Transparenz „neue Maßstäbe“ setzen.

Die Agentur dapd nutzte die Kritik an der Nichtveröffentlichung am Mittwochabend für eine Meldung mit dem sich selbsterfüllenden Titel: „Wulff-Affäre nimmt keine Ende“.

Den Anlass für die weiteren negativen Schlagzeilen hat zu einem größeren Teil wieder Wulff selbst geliefert. Aber wäre es zuviel verlangt von den Medien, im Umgang mit dem Bundespräsidenten, bei dem sie jetzt alles ganz genau nehmen, alles ganz genau zu nehmen?

[via Werner Berger in den Kommentaren]

Wie der „Focus“ Thilo Sarrazins „Ehre“ rettet

Olaf Wilke ist Redakteur beim „Focus“. Das ist kein Job, um den ihn viele beneiden werden. Aber einer muss ihn ja machen, und Wilke ist immerhin „Redakteur für besondere Aufgaben“ im Berliner Korrespondentenbüro der Illustrierten.

Joachim Baier ist Korrespondent der Nachrichtenagentur dpa in Darmstadt. Er hat keinen schillernden Titel und vermutlich hat er auch noch keine Aufmachergeschichte über den anscheinend zukünftigen Bundeskanzler Karl-Theodor zu Guttenberg geschrieben. Baier schreibt Meldungen wie die, dass ein Mann in Grasellenbach-Wahlen seinen Nachbarn mit einer Motorsäge angegriffen und schwer verletzt hat. Aber er berichtet auch bundesweit über den Prozess gegen die Sängerin Nadja Benaissa, der in Darmstadt stattgefunden hat.

In dieser Woche hat Olaf Wilke einen Artikel über Joachim Baier geschrieben. Er hat ihm eine tragende Nebenrolle in einem Stück über den Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin gegeben. Der „Focus“-Redakteur nennt den dpa-Mann einen „Lokalredakteur“, und vermutlich ist das geringschätzig gemeint. In der süffisanten Schilderung von Wilke ist Baier ein kleiner Schreiberling vom Land, der sonst „acht Zeilen für die bunte Seite“ produziert, und als Sarrazin sich am 10. Juni zu einem Vortrag im „Alten Schalthaus“ einfand — einem „drögen Pädagogentreff in der Provinz“, wie Wilke schreibt — die Chance witterte, mal richtig Schlagzeilen zu machen.

Die großen Schlagzeilen sollte er bekommen. Baier meldete am Abend des 10. Juni, dass Sarrazin bei den Arbeitskreisen Schule-Wirtschaft der Unternehmerverbände Südhessen gesagt habe: „Wir werden auf natürlichem Wege durchschnittlich dümmer.“

Zuwanderer „aus der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika“ wiesen weniger Bildung auf als Migranten aus anderen Ländern, dozierte der Bundesbank-Vorstand aus Berlin und bemühte dazu umfangreiche Zahlen.

Einwanderer bekämen auch mehr Kinder als Deutsche. Es gebe „eine unterschiedliche Vermehrung von Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher Intelligenz“, sagte Sarrazin. Intelligenz werde von Eltern an Kinder weitergegeben, der Erbanteil liege bei fast 80 Prozent.“

Der „Focus“-Redakteur bezweifelt, dass Sarrazin das so gesagt hat. Er suggeriert, dass der „Lokalreporter“ sich das ausgedacht hat. Sein Artikel beginnt mit dem Satz: „Manche Tage starten gemächlich und geben unversehens Gas, sodass man Gefahr läuft, aus der Kurve zu fliegen.“ Das bezieht sich auf den 10. Juni und Joachim Baier. Später schreibt Wilke:

Es gibt Momente, da werden Lokalreporter zu Helden. Wenn sie eine Exklusivnachricht erbeuten, die zur Spitzenmeldung wird. Wenn sie den Chefs im fernen Berlin zeigen, dass ein Darmstädter Außenposten mehr kann als läppische Berichte über durchgeknallte Sensemänner. In solchen Momenten wäre es fast schade, wenn ein Knurrhahn wie Sarrazin nur einen zahlengespickten Langweilervortrag ablieferte. Baier ist der einzige Journalist im Saal.

Zwischen den letzten beiden, scheinbar harmlosen Sätzen steht unsichtbar, aber unmissverständlich der Vorwurf, der „Lokalredakteur“ Baier habe die Gelegenheit genutzte, sich einen bundesweiten Skandal zurechtzuschnitzen. Der „Focus“ schreibt, Sarrazin habe in einem Brief an „ausgewählte Zeitungsredaktionen“ beteuert, die dpa-Meldung sei falsch.

Die Nachrichtenagentur dpa weist das auf meine Anfrage zurück und hält nachdrücklich an ihrer Darstellung fest: Sarrazin sei korrekt zitiert worden.

Der „Focus“ bietet als Zeugen dagegen Reinhold Stämmler auf, den Gastgeber der Veranstaltung, der sich nicht an ausländerfeindliche Sprüche von Sarrazin erinnern könne, im Gegenteil: Der Bundesbank-Chef habe sich „ausdrücklich wertschätzend über fremde Kulturkreise geäußert“, zitiert der „Focus“ Stämmler.

(Das klingt ein bisschen wie die Beteuerung, nichts gegen Ausländer zu haben, die man doch eher selten von Leuten hört, die tatsächlich nichts gegen Ausländer haben, mal ganz abgesehen davon, dass Sarrazin ganz dezidiert etwas gegen den Islam hat, aber wer weiß, über welche „fremden Kulturkreise“ er sich wertschätzend äußerte, wenn überhaupt.)

Doch „Focus“-Redakteur Wilke geht es mit seinem Artikel in der Illustrierten nicht darum, vor den Gefahren zu warnen, die drohen, wenn kleine Lokaljournalisten über Dinge schreiben, die besser großen „Focus“-Journalisten überlassen blieben. Ihm geht es um die „Medienkultur in unserem Land“, um „politische Korrektheit“ und um die „Medienmühle“, in die Thilo Sarrazin geraten sei, weshalb er nun als „Volksverhetzer“ dastehe.

Zu schreiben, Wilke schätze Sarrazin und seine Ansichten, wäre eine Untertreibung. Der Journalist nennt den Politiker in seinem Artikel in dieser Woche einen Mann „mit Hang zur Provokation, der irrtümlich annimmt, dass seine messerscharfen Argumente allein deshalb jeden Gegner überzeugen, weil sie stimmen“. Wilke hält sich nicht damit auf, das angebliche Zutreffen Sarrazins steiler Thesen in irgendeiner Weise zu belegen, und er stellt nicht die Frage, ob das Problem, das viele Menschen mit seinen Thesen haben, mit der verletzenden, spaltenden Rhetorik zusammenhängen könnte, mit der er sie vorträgt. Wilke stellt fest: Was Sarrazin sagt, stimmt. Wer anderer Meinung ist, muss Unrecht haben.

Schon 2005 beschrieb Wilke Sarrazin im „Focus“ als „Berlins kantiger Finanzsenator mit dem Hang zur unbequemen Wahrheit“. 2008 nannte er ihn „Genosse Tacheles“ und sprach von Sarrazins „Wahrheitsdrang“. Ein Portrait Sarrazins von ihm aus dem April 2010 trug einfach die Überschrift „Der Recht-Haber“.

Dagegen ist selbst die Methode der „Bild“-Zeitung subtil, Sarrazin Recht zu geben. Sie verbrämt seine Rhetorik als „Klartext“ und nennt ihn den „Klartext-Politiker“. Wer dem SPD-Mann öffentlich widerspricht, so ist das wohl zu verstehen, traut sich bloß nicht, die Wahrheit zu sagen. (Der Dienstwahnsinnige Franz Josef Wagner schreibt Sarrazin heute: „Ihr Frevel ist, dass Sie die Wahrheit nicht sanft schreiben.“)

Die „Bild“-Zeitung veröffentlicht in diesen Tagen längere Auszüge aus Sarrazins am Montag erscheinendem Buch „Deutschland schafft sich ab“. Sie tragen Schlagzeilen wie: „Bei keiner anderen Religion ist der Übergang zu Gewalt und Terrorismus so fließend“ (gemeint ist der Islam), „Wir werden Fremde im eigenen Land!“, „Deutschland wird immer ärmer und dümmer!“ Auch das andere deutsche Leitmedium, der „Spiegel“, wirbt für Sarrazins Buch mit einem Vorabdruck. Eine mächtigere Kombination von Medienpartnern ist kaum denkbar.

Doch für den „Focus“-Mann Wilke ist Sarrazin ein Opfer der Medien. Sein Artikel trägt die Überschrift „Die verlorene Ehre des Thilo S.“ – eine Anspielung auf Heinrich Bölls Roman über eine Frau, die mit „Bild“-Zeitungs-Methoden zugrunde gerichtet wird. Vielleicht kennt man beim „Focus“ den Inhalt des Buches nicht, vermutlich will Wilke die Rolle Thilo Sarrazins allen Ernstes mit der der Katharina Blum gleichsetzen.

Denn auch Sarrazin werde gejagt, von „Meinungswächtern, die Andersdenkende mit dem politischen Strafrecht würgen“. Wilke meint die Menschen, die aufgrund der dpa-Berichterstattung Sarrazin wegen Volksverhetzung angezeigt haben. Wilke schreibt über sie:

Kein Absender einer Strafanzeige war am 10. Juni in Darmstadt selbst dabei. Jeder von ihnen beruft sich auf die dpa-Meldung oder darauf basierende Medienberichte. Die Anzeigeerstatter empören sich gewissermaßen aus zweiter Hand.

Man kann selbstverständlich darüber streiten, ob und in welchen Fällen eine solche Anzeige eine angemessene Reaktion auf eine Meinungsäußerung ist. Aber ich möchte mir keine Welt vorstellen, in der sich Menschen nur über Unrecht empören, das sie unmittelbar selbst erlebt haben.

Wilke stellt die Menschen, die Sarrazin angezeigt haben, als Querulanten dar. Namentlich erwähnt wird unter anderem Klaus-Henning Bähr, ein Beamter aus Oldenburg. Bähr hatte das Zitat Sarrazins bei „Zeit Online“ gelesen und dort kommentiert:

(Es geht hier) um die Frage, ob es hingenommen werden kann, wenn Sarrazin gegen ethnische Minderheiten mit Argumenten polemisiert, die durchaus in das Konzept nationalsozialistischer Rassenhygiene passen. (…) Was ist aus diesem Geschwurbel anderes herauszulesen als die Behauptung, die fraglichen Migranten seien vergleichsweise geistig minderbemittelt, vererben diesen Mangel an ihren vergleichsweise zahlreichen Nachwuchs, der wegen des genetisch bedingten Mangels an Möglichkeiten, diesem „Nachteil“ durch Bildung abzuhelfen, für den statistischen Zuwachs an Dummheit“ verantwortlich ist. (…) Dieser Mann ist eine wandelnde Zeitbombe für unseren inneren Frieden, den man vermutlich nur noch nicht aus dem Verkehr gezogen hat, weil man sich scheute, ihm zum Märtyrer seiner rechtsradikalen Bewunderer zu machen. Der Preis dafür ist hoch: Er schadet dem Ansehen unseres Landes, dem er als Beamter gesetzestreu zu dienen verpflichtet wäre (…).

Sarrazin hält es nicht für nötig, darauf zu antworten. Der „Focus“ schreibt, seine „Streitlust scheint erlahmt“ und zitiert ihn mit den Worten, er wolle den Absendern der Strafsanzeigen nicht durch eine Stellungnahme „zu viel Ehre“ erweisen.

Sarrazin, wir erinnern uns, der Mann, der laut „Focus“ „irrtümlich annimmt, dass seine messerscharfen Argumente allein deshalb jeden Gegner überzeugen, weil sie stimmen“.

Klare Ansage bei dpa: Lieber spät als falsch

Wolfgang Büchner, seit Jahresbeginn Chef der Nachrichtenagentur dpa, will in den Köpfen seiner Mitarbeiter einen „Check-Reflex“ aktivieren, um seltener auf Falschmeldungen hereinzufallen. „Nachdem die dpa nun zum dritten Mal innerhalb weniger Wochen auf eine Fälschung hereingefallen ist, müssen wir unsere Arbeitsweise und Sicherheitssysteme noch einmal überprüfen“, schreibt er in einer internen Mitteilung.

Vor zehn Tagen hatte dpa gemeldet, dass sich der Bundesvorsitzende der Republikaner, Rolf Schlierer, von seinem Amt zurückziehe – und sich dabei auf eine gefälschte E-Mail verlassen. Zuvor war dpa bereits auf eine von Aktivisten lancierte Pressemitteilung hereingefallen, die behauptete, die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ wolle ihren Stiftungsrat um drei Personen mit aktueller Vertreibungserfahrung erweitern. Und im September berichtete dpa, dass es in einer amerikanischen Kleinstadt Bluewater ein Selbstmordanschlag von Deutschen gegeben habe — in Wahrheit eine Inszenierung von Filmemachern.

Bereits nach dem „Bluewater“-Debakel hatte Büchner intern „sechs Lehren“ daraus für den Umgang mit exklusiven Informationen und zweifelhaften Quellen verfasst. Jetzt sah er sich dazu veranlasst, neue, verschärfte Regeln zu formulieren, denn: „Bei schwerwiegenden Fehlern mit negativen Auswirkungen auf den Ruf der Agentur können wir (…) nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.“ Die Anweisungen würden „zweifellos dazu führen, dass die dpa weniger Meldungen produzieren und in einzelnen Fällen später berichten wird“:

Informationen, die der dpa angeboten werden, SOLLEN immer überprüft werden.

Wenn es sich um sensible oder überraschende Informationen handelt, MÜSSEN sie ausnahmslos überprüft werden.

Büchner beschreibt in seiner internen Mail, dass der Aufwand, eine bei dpa eintreffende Information zu überprüfen, oft überschaubar sei und die Veröffentlichung nicht lange verzögern müsse. Aber er fordert:

Wenn wir ein Thema für meldungswürdig halten, müssen wir in der Regel auch die Zeit für Prüfung/Nachrecherche investieren, womit ja kein schlichtes Verifizieren der Echtheit des Absenders gemeint ist, sondern die Recherche weiterer Informationen, Details, Zitate. Wenn der Preis dafür weniger und dafür bessere Meldungen sind, sollten wir diesen Preis zahlen.

Büchners dramatisches Fazit:

Für den Erhalt unserer Glaubwürdigkeit ist kein Preis zu hoch, wir werden sie mit allen Mitteln schützen.

Wie schon bei seiner ersten Mail im vergangenen September lesen sich Büchners Anweisungen teilweise wie Selbstverständlichkeiten — insbesondere wenn man berücksichtigt, dass das, was dpa meldet, von einer Vielzahl von Medien ungeprüft und teilweise sogar automatisch weiterverbreitet wird. Andererseits macht der Text auch deutlich, wie groß der Druck in der Agentur und auf die Agentur ist, vor allem schnell zu publizieren. Mehrfach betont Büchner, dass kein dpa-Mitarbeiter mit Sanktionen rechnen müsse, wenn eine Berichterstattung dadurch verzögert wurde, dass er „im erforderlichen Umfang prüft und nachrecherchiert“. Auch im internen Protokoll dürfe er dafür nicht kritisiert werden.

Nach Ansicht Büchners gibt es zu dieser Herangehensweise für dpa keine Alternative:

Eine Agentur, die nicht viel mehr leistet, als Pressemitteilungen auszuwählen und umzuschlagen, braucht niemand. Wir wissen alle: Die dpa ist weit davon entfernt, simplen press release journalism zu betreiben. Aber ein Mehrwert (den die Kunden mit einem hohen Premium bezahlen sollen) einer Nachrichtenagentur mit Qualitätsanspruch muss genau darin bestehen, grundsätzlich mehr zu liefern als Informationen, die man auch bei OTS [Originaltextservice, der Pressemitteilungen verbreitet] bekommt. Und mit „mehr“ meine ich nicht nur „netter formuliert“.

· · ·

Im Folgenden einige Konsequenzen, die Büchner im Detail formuliert:

1. Journalistische Sorgfalt ist die Grundlage unserer Arbeit (…)

2. Richtigkeit geht IMMER vor Geschwindigkeit (…)

3. Alle Informationen, die der dpa angeboten werden, SOLLEN überprüft werden

Das Anrufen und Nachfragen bei schriftlichen Mitteilungen (Post, Fax, E-Mail) ist die Regel, nicht die Ausnahme.

Natürlich soll dabei nicht einfach die Echtheit der Absender überprüft werden. Beim Anrufen und Nachfragen sollten gute Zitate, weitere Details und zusätzliche Informationen eingeholt werden. So entsteht ein echter Mehrwert für unsere Kunden. Genau mit dieser anstrengenden und aufwändigen Arbeit bleiben wir unverzichtbar und erarbeiten uns den entscheidenden Wettbewerbsvorteil gegenüber Konkurrenten, die die dpa verzichtbar machen wollen. (…)

6. Mitteilungen zu Themen auf dieser Check-Liste MÜSSEN IMMER überprüft werden (…)

  • alle Mitteilungen, die den geringsten Zweifel an Inhalt und Authentizität aufwerfen
  • alle Meldungen, die wir mit „überraschende Wende“ oder ähnlichen Formulierungen aufmachen müssten
  • Mitteilungen zu Todesfällen (im Inland nie ohne zuständige, eigene Quelle melden, im Ausland auf seriöse Quelle und deren Formulierung achten (NYT…)!)
  • alles rund um Privates /Persönliches: Krankheit, Scheidung/Trennung
  • weitreichende Entscheidungen: Rücktritte, Entlassungen, Personalien generell
  • börsenkursrelevante Mitteilungen (z.B. Übernahmen, Gewinnwarnungen, Insolvenzanträge)
  • alle Meldungen über geschäftliche und personelle Vorgänge in Medienunternehmen (insbesondere bei unseren Medienkunden!)
  • kritische Äußerungen von Parteikollegen übereinander (z.B. Wulff fordert die Ablösung Merkels)
  • Informationen über spektakuläre Kriminalfälle (z.B. Geiselnahmen, Amokläufe und Prominente als Täter, Opfer oder Mitwisser), sofern sie nicht von offiziellen Stellen wie Polizei und Staatsanwaltschaft oder aus zuverlässigen Augenzeugenberichten stammen
  • Staatsanwaltschaft teilt Aufnahme oder Nichtaufnahme von Ermittlungen in brisanten Fällen mit
  • Mitteilungen über brisante Gerichtsurteile
  • Informationen über Terroranschläge
  • (vermeintlich) echte Terror-Drohanrufe
  • angeblich bahnbrechende neue Erkenntnisse in Forschung und Wissenschaft, sofern sie nicht aus den renommierten Fachorganen (Science, Nature etc.) stammen

7. Check-Verfahren

Die drei Grundregeln zur Überprüfung von Informationen lauten:

a) Immer den unbequemen Weg gehen!

b) Treffen Sie weniger denn je einsame Entscheidungen, diskutieren Sie mit Kollegen!

c) Je größer und unwahrscheinlicher eine Story ist, desto gründlicher müssen wir sie überprüfen. (…)

Für alle zwingend zu überprüfende Mitteilungen gilt (vor allem wenn uns der Absender nicht bekannt ist):

  • Mitteilungen mit ausreichend Zeit und Konzentration lesen
  • Plausibilität prüfen: Kann es wirklich sein, dass diese oder jene Behauptung/Aussage/Forderung von der betreffenden Organisation/Person erhoben/getätigt wird – oder liegt die Mitteilung weit neben dem Erwartbaren?
  • Gerade für potenziell sensationelle Mitteilungen gilt, was wir schon nach dem Bluewater-Debakel festgestellt haben: Eine Story, die zu gut ist, um wahr zu sein, ist vermutlich genau dies: nicht wahr.
  • Namen von unbekannten Sprechern oder handelnden Personen zur ersten Verifikation in der Doku DB, der dpa-Plattform suchen und/oder googeln – wenige Treffer bei Google oder keine Fundstellen in der dpa-Plattform sind ein Alarmsignal!
  • Beim leisesten Zweifel an der Echtheit einer Mitteilung gilt darüber hinaus: Nicht die Telefonnummer zurückrufen, die in einer (womöglich gefälschten) E-Mail angegeben ist, nicht nur die Website aufrufen, die dort angegeben wurde. Besser Telefonnummern bei www.telefonbuch.de oder über die Auskunft nachrecherchieren.
  • Bei zweifelhafter Quellenlage ist die Berichterstattung – vor allem im Ausland – über einen zusätzlichen „Ring der Überprüfung“ abzusichern. Nicht nur die lokalen Behörden, sondern mindestens eine übergeordnete Stelle muss die Information bestätigen können (z.B. in den USA: die Heimatschutzbehörde oder der jeweilige Bundesstaat). Bei Auslandsthemen sind unbedingt die großen nationalen Medien zu beobachten.
  • Absender möglichst über bekannte Ansprechpartner persönlich verifizieren. Wenn es keine bekannten Ansprechpartner gibt: Ansprechpartner über andere – mit dem Thema verknüpfte – übergeordnete Stellen erfragen (Beispiele: Bundespresseamt, Parteien, Verbände, etc.).

Bei der Überprüfung von Webseiten/Internet-Auftritten gilt insbesondere:

  • In dubiosen Pressemitteilungen angegebene Internetseiten schon auf ihren Namen hin prüfen (klingt er merkwürdig?)
  • Wie ist die angeblich offizielle Webseite aufgebaut? Fallen Ungereimtheiten auf? Gibt es Bestandteile, bei denen man stutzig werden könnte?
  • Webseiten immer mit der Netcraft Toolbar checken
  • Für einen Gegencheck Webpräsenz eines Absenders googeln und auch die so recherchierten Seiten mit der Netcraft Toolbar checken
  • Im Zweifel fachkundige Kollegen zur Überprüfung von Mailadresse und Internetadresse hinzuziehen

10. Transparenz

(…) In Fällen, in denen die dpa eigentlich sofort berichten müsste, wir aber Zweifel an Fakten oder dem Absender einer Information haben, müssen wir versuchen, diese Zweifel umgehend auszuräumen. Falls das nicht gelingt, müssen wir auf die Berichterstattung verzichten, bis bestehende Zweifel ausgeräumt sind. Dabei sollten wir verstärkt auf die Möglichkeit von Achtungsnotizen an die Kunden zurückgreifen. Beispiel: „Der dpa wurde mitgeteilt, dass … Wir konnten diese Information bisher nicht überprüfen. Eine Berichterstattung folgt, sobald …“

11. Medien-Infos

Für (Vorab-)Informationen deutscher Medien (vor allem unserer Medienkunden) gilt, dass die dpa diese Informationen bei entsprechendem Nachrichtenwert aufgreifen kann, auch wenn diese nicht bei der Erstquelle überprüft wurden. Wir unterstellen, dass seriöse Medien an uns übermittelte Fakten selbst hinreichend geprüft haben.

Diese Regel entbindet uns allerdings nicht von der Pflicht, die Authentizität einer Medien-Vorab selbst sowie die Plausibilität und Justiziabilität der darin enthaltenen Informationen noch einmal zu überprüfen.

12. Medien im Ausland

In einigen Fällen ist es notwendig, dass die dpa die Berichterstattung anderer Medien aufgreift, weil ein Thema durch die Veröffentlichung eine so große Dimension bekommen hat, dass wir es nicht ignorieren dürfen. Wenn die halbe Welt über etwas spricht, muss sich auch die dpa um dieses Thema kümmern.

Das gilt auch dann, wenn wir diese Informationen nicht selbst verifizieren können.

Voraussetzung für eine Berichterstattung der dpa ist auch in diesen Fällen, dass die Information plausibel und ihre Verbreitung nicht justiziabel ist.

Besonders wichtig ist es, dass wir in diesen Fällen die notwendige Distanz zur Quelle wahren und gegebenenfalls vorhandene Zweifel artikuliert werden. (…)

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Ich dokumentiere diese Regeln hier auch deshalb so ausführlich, weil sie sehr brauchbar und anschaulich sind und natürlich nicht nur für dpa oder Nachrichtenagenturen insgesamt gelten sollten. Ich glaube, dass solche oder ähnliche Grundsätze für jedes journalistische Qualitätsmedium unverzichtbar ist. Die Zukunft des Journalismus kann nur darin liegen, noch stärker als bisher Mechanismen zu installieren, die ihn durch Verlässlichkeit, Glaubwürdigkeit und Transparenz von der Flut von Schein- und Desinformationen nicht nur im Internet absetzen und unverzichtbar machen.

Frustrierend ist für mich nur Büchners elfter Punkt, durch den all die schönen Sicherheitsmechanismen außer Kraft gesetzt werden, sobald irgendein Medium eine vermeintlich exklusive Meldung vorab an dpa schickt — und sei es die „Bild“-Zeitung, die dies gern spät abends macht, wenn kein Fachredakteur mehr Dienst hat. Die Nachrichtenagentur ist hier in einem gewissen Dilemma, weil die regelmäßig unzuverlässigen Quellen ihre eigenen Kunden und teilweise sogar Gesellschafter sind. Trotzdem wird sie ganz selbstverständlich auch diese sogenannten „Medien-Infos“ vor dem Weiterverbreiten nach den sonst üblichen Kriterien prüfen müssen, wenn sie nicht im Gleichschritt mit den anderen Agenturen auf jede Scheinenthüllung von Leuten wie dem „Bild“-Chefkorrespondenten Einar Koch hereinfallen will.

Malen nach Zahlen

Man kann natürlich fragen, welches Interesse die „Bild“-Zeitung und ihr Chefkorrespondent Einar Koch daran haben, das Ausmaß rechtsextremistischer Gewalt in diesem Land kleinzureden. Ich vermute, es ist ein alter, aus ideologischeren Zeiten übrig gebliebener, rechter Reflex, der in doppelter Hinsicht gegen die Linke zielt: Man versucht ihren Generalverdacht, dass Deutschland immer noch und wieder voller Nazis sei, zu widerlegen. Und man behauptet, dass die Gewalt von links ohnehin das viel drängendere Problem ist. (Die mutmaßlich linken Brandstifter, die in Hamburg und Berlin seit Monaten Autos anzünden, nennt „Bild“ nicht zufällig „Terroristen“.)

Aber der Grund, warum ich mich über die Falschmeldung über den Rückgang rechter Gewalt besonders geärgert habe, hat weniger mit „Bild“ zu tun. Sondern mit allen anderen. In dieser Geschichte steckt fast das ganze Elend des Journalismus von heute.

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Die „Bild“-Zeitung möchte also gerne wissen, wie sich die Zahl der rechten Gewalttaten im vergangenen Jahr verändert hat. Sie möchte aber nicht abwarten, bis im Frühjahr die offiziellen Zahlen bekannt gegeben werden. Sie möchte nicht einmal abwarten, bis in einem Monat die vorläufigen Zahlen für das ganze Jahr vorliegen. Mit anderen Worten: Sie möchte gar nicht wissen, wie sich die Zahl der rechten Gewalttaten im vergangenen Jahr verändert hat. Sie möchte nur irgendwas als erster melden, was vielleicht stimmt und vielleicht nicht. Ich fürchte, damit ist sie nicht allein.

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Glaubt überhaupt irgendjemand, dass sich die Gefahr des Rechtsextremismus durch solche Statistiken messen lässt? Dass man zum Beispiel aufatmen könnte, wenn die Zahl der Gewalttaten tatsächlich um 8,5 Prozent zurückgegangen wäre? Wenn überhaupt, bräuchte man doch einen Kontext: Warum ist die Zahl zurückgegangen? Haben irgendwelche sozialen Angebote geholfen? Gab es massive Razzien? Haben die Neonazis ihr Vorgehen vom brutalen Einschüchtern aufs unauffällige Unterwandern verlagert? Oder was?

Der Zahlenfetisch der Massenmedien hat bizarre Ausmaße angenommen. Irgendwelche Prozentwerte, Statistiken und Hitparaden sagen zwar oft nichts aus, tun aber immer so, als ob. Sie wirken wie Fakten, lassen sich knackig auch in kürzesten Meldungen formulieren und ersetzen die ungleich mühsamere Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit in Form von Anschauung und Reflexion. Was will eigentlich Karl-Theodor zu Guttenberg, wofür steht er, welche Widersprüche tun sich auf? Egal, aber er ist in der Liste der beliebtesten Politiker von Platz 2 auf Platz 1 geklettert! Kein Mensch beschäftigt sich inhaltlich mit den Urteilen des Presserates, aber wenn bekannt wird, dass die Zahl der Beschwerden um 70 Prozent zugenommen hat, seit man sie einfach online einwerfen kann, schreiben das alle. Wie gut sind eigentlich die Kommentare in den „Tagesthemen“? Keine Ahnung, wer guckt das schon, aber der WDR liegt in der Kommentarhitparade an erster Stelle, und Siegmund Gottlieb BR hat zweimal häufiger kommentiert als Holger Ohmstedt vom NDR.

Und nur so kommt auch das Thema Rechtsradikalismus verlässlich in die Nachrichten: als Hitparade (die Neonazis sind zum zehnten Mal dabei, bitte nicht wiederwählen).

Wenn Journalisten Zahlen sehen, setzt bei ihnen der Verstand aus. Eine Kosmetikfirma, die sich auf natürlich-dezente Alternativen zum Make-up spezialisert hat, veröffentlicht eine angebliche „Studie“, wonach den meisten Männern dick aufgetragenes Make-Up bei ihren Partnerinnen (!) nicht gefällt. Die offenkundige PR-Geschichte geht in all ihrer Belanglosigkeit um die Welt und erscheint natürlich auch auf „Spiegel Online“ samt zehnteiliger Bildstrecke — unter der bizarr-abwegigen Überschrift „Die Lockstoff-Falle: Wenn Stars zu viel auflegen“. Und weil Autorin und Ressortleiterin Patricia Dreyer offenbar meint, dass andere Leute genau so auf den Statistik-Quatsch reinfallen müssten wie sie selbst, formuliert sie, dass die Umfrage „Katie Price und Kolleginnen zum Nachdenken anregen dürfte“. Genau. Katie Price, das Fotomodell und Gesamtkunstwerk, wird sich jetzt fragen, was sie falsch gemacht hat, all die Jahre, mit der ganzen Schminke und dem ganzen Erfolg.

Mein Lieblingsbeispiel ist natürlich von den Kollegen vom Braanchendienst „Meedia“, die es schafften, in einer Meldung über getötete Journalisten in der Welt gleich zwei Hitparaden unterzubringen: Die Länder- und die Jahres-Hitparade:

Von den weltweit 88 getöteten Journalisten starben allein bei dem Massaker auf den Philippinen Ende November 35. Durch dieses eine Ereignis steigt die südostasiatische Region zum gefährlichsten Land für die Berufsgruppe auf. Auf den weiteren Plätzen: Acht Journalisten wurden in Pakistan getötet, sieben in Mexiko und sechs in Somalia. In Russland verloren fünf Journalisten ihr Leben. Weitere europäische Länder sind in dem Bericht nicht aufgelistet.

Bereits jetzt liegt 2009 im Jahresvergleich an dritter Stelle seit Beginn der WAN-Berichte im Jahr 1998: nur 2007 mit 95 und 2006 mit 110 getöteten Medienvertretern waren noch blutiger.

Ist das nicht toll? Wenn es in diesem Jahr kein einzelnes vergleichbares blutiges Massaker auf den Philippinen gibt, wird „Meedia“ es als „Aufsteiger“ des Jahres in Sachen Journalistensicherheit feiern können. (Die Meldung ist übrigens vom 1. Dezember. Natürlich wollte keiner das Ende des Jahres abwarten.)

Aber zurück zu den rechten Gewalttaten und „Bild“: Das Blatt behauptete gestern auch, die Zahl „rechter Straftaten insgesamt (z. B. Volksverhetzung)“ sei „um 0,35 %“ gestiegen. Diese (vermutlich falsche) Aussage fanden die Agenturen AFP, AP, dpa so interessant, dass sie sie begierig in die Welt trugen. Schreiben wir einmal aus, was der Wert tatsächlich bedeutet: Derjenige Teil der rechten Straftaten zwischen Januar und November 2009, der bereits in einer vorläufigen Zählung erfasst wurde, liegt um ein winziges Fitzelchen höher, als derjenige Teil der rechten Straftaten zwischen Januar und November 2008, die damals schon erfasst wurden, sich im Nachhinein als viel zu niedrig herausgestellt hatte, wovon auch in diesem Jahr wieder auszugehen ist. Das ist eine Nachricht? Wirklich? Warum?

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Und dann ist da der Fluch der Vorabmeldung. Vermutlich gibt es bei Nachrichtenagenturen interne Regeln, wie eine Nachricht auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen ist, bevor man sie veröffentlicht. (Ich weiß, der Anschein spricht nicht dafür, aber es soll solche Regeln tatsächlich geben.) Jede Pflicht zur Überprüfung einer Information erlischt aber offenbar dann, wenn sie per Fax oder E-Mail am späten Abend eintrifft und von irgendeinem Medium kommt, das ankündigt, darüber am nächsten Tag zu berichten.

Ohne jede Kontrolle beeilten sich dpa, APD, Reuters, AFP, die Behauptung von „Bild“, die Zahl rechter Gewalttaten sei zurückgegangen, möglichst schnell und möglichst weiträuming in die Welt zu pusten. So wichtig wie es für „Bild“ war, die vermeintlichen Zahlen über das Jahr 2009 noch vor dem Vorliegen auch nur vorläufiger Zahlen für 2009 in zu veröffentlichen (egal ob sie stimmen oder nicht), so wichtig war es für die Nachrichtenagenturen, diese Informationen noch vor Tagesanbruch weiterzutragen. AP schaffte es 0.15 Uhr als erstes, AFP zog um 1.56 Uhr nach, dpa brauchte bis 2.31 Uhr und die Nachtschicht von Reuters konnte um 4.28 Uhr Vollzug melden.

Keine dieser Agenturen fand die Quelle „Bild“ zu halbseiden, keine erinnerte sich, dass der Autor der „Bild“-Meldung einschlägig bekannt ist und vor knapp vier Jahren schon einmal zum selben Thema eine Falschmeldung produziert hatte. Keine der Agenturen stutzte, dass die Behauptungen von „Bild“, die auf Zahlen des BKA beruhen sollen, den von ihnen allen damals vermeldeten Äußerungen von BKA-Chef Jörg Ziercke widersprachen, der vor drei Wochen erst gesagt hatte, er rechne für 2009 mit ähnlich vielen rechten Straf- und Gewalttaten wie im Vorjahr, und auch angesichts der besonderen Brutalität rechter Schläger davor warnte, an Aussteigerprogrammen zu sparen.

Wenn die Nachtschicht sich nur auch nur zwei Minuten genommen hätte, ins eigene Archiv zu gucken, hätten sie vielleicht auch entdeckt, dass die aktuelle Behauptung von „Bild“, linksradikale Gewalt habe in den ersten drei Quartalen um 49,4 Prozent zugenommen (nein, nicht um die Hälfte, um 49,4 Prozent!) keine Neuigkeit war. Die Zeitung hatte das schon am 16. Dezember behauptet. Das Bundesinnenministerium und das BKA hatten damals davor gewarnt, diesen Zahlen zu glauben, weil sie noch vorläufig und nicht verlässlich seien. Aber die Agenturen hatten sie natürlich trotzdem übernommen.

Das war schlimm genug. Aber nicht zu merken, dass diese Zahlen, die „Bild“ noch einmal veröffentlicht hat, weil sie so einen schönen Kontrast darstellen zur angeblich zurückgehenden Zahl rechter Gewaltdelikte, und sie als Neuigkeit zu behandeln, wie es dpa, AFP und APD getan haben, ist schlicht bekloppt. AFP packte die Scheinnachricht sogar in die Überschrift: „Zeitung: Weniger rechtsextreme Gewalttaten in Deutschland – Laut BKA aber Zunahme bei Linksextremisten“ (wohlgemerkt: jenes BKA, das sich schon von der ersten Veröffentlichung im Dezember distanziert hatte).

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Nächster Akt: Bei dpa bekommt jemand plötzlich einen Rechercheflash. Am Vormittag fragt er beim BKA nach den Zahlen, die „Bild“ unter Berufung auf das BKA nennt, und bekommt zur Antwort: Von uns ist das nicht. Nun könnte man denken, dass das ein guter Grund wäre, die halbgaren Daten aus einer Quelle von der bekannten Seriösität der „Bild“-Zeitung nicht zu verwenden. Falsch. Für dpa ist es ein Grund, die Daten noch einmal zu vermelden — nur halt mit dem Zusatz, dass das BKA sie nicht bestätigen möchte.

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An dieser Stelle muss man noch einmal darauf hinweisen, was passiert, wenn Nachrichtenagenturen Meldungen aus dubiosen Quellen wie „Bild“ übernehmen: Sie machen aus ihnen Meldungen aus seriöser Quelle. Der Presserat, das Selbstkontrollsimulationsgremium, hat erklärt, dass Journalisten sich blind auf die Meldungen von Nachrichtenagenturen verlassen dürfen. Ihnen ist kein Vorwurf zu machen, wenn sie das nicht mehr nachrecherchieren. Ist das nicht toll? Unsere Nachrichtenagenturen melden Dinge, die sie nicht nachprüfen, und andere dürfen sie dann unbesehen übernehmen, weil sie von Nachrichtenagenturen gemeldet werden.

Das passiert im Online-Journalismus natürlich inzwischen sogar weitgehend automatisch, weshalb die Quatschmeldung vom Rückgang der rechten Straftaten innerhalb kürzester Zeit von den Internet-Ablegern vermeintlich renommierter Medien wie der „Süddeutschen Zeitung“, dem „Stern“ und der „Deutschen Welle“ weiterverbreitet wurde.

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Als nächstes habe ich einen Fehler gemacht. Ich habe einem Kollegen bei dpa geschrieben, dass ich angesichts von deren Berichterstattung eine fiese Migräne bekommen habe (sinngemäß), was leider einen anderen dpa-Mann veranlasste, der Sache mit „Bild“ und dem BKA und den Zahlen noch einmal nachzugehen. Vom Bundesinnenministerium erfuhr die Agentur, dass die Zahlen nicht seriös seien, was sie in einer weiteren Meldung brav aufschrieb, bevor sie die unseriösen Zahlen zum inzwischen dritten Mal vermeldete. Vor allem aber hatte sie den Schwerpunkt ihrer, nun ja: Recherche fatalerweise auf nicht die fehlende Aussagekraft der „Bild“-Zahlen gelegt, sondern die Frage, woher die „Bild“-Zeitung schon den vorläufigen Wert für November kennt, obwohl der noch gar nicht veröffentlicht wurde.

Die dpa-Meldung trug den Titel „Wirbel um Zahlen zu rechtsextremen Gewalttaten“, was dem überaus ahnungslosen diensthabenden Nachrichten-Redakteur bei „Focus Online“ offenbar zu langweilig war. Er schmückte die ohnehin abwegige dpa-Geschichte noch weiter aus und verpackte sie so:

Wer hat geplaudert?

Eine Meldung über zurückgehende Zahlen bei rechtsextremer Gewalt hat für Wirbel gesorgt. Die Zahlen waren nicht amtlich, das BKA sucht nach der undichten Stelle. Eine angebliche Spur führt in den Bundestag.

Aus Zahlen ohne Aussagekraft (die aber ohnehin jeden Monat veröffentlicht werden) sind also nun Zahlen von höchster Brisanz geworden (die jemand lanciert hat, obwohl sie eigentlich geheim gehalten werden sollten).

Das ist nun die Art Meldung, auf die der hysterisch-paranoide Mob der Möchtegern-politisch-Inkorrekten gewartet hat. Diese Leute sind der Meinung, dass Ausländer und Moslems dieses Land in den Untergang führen, und dass ihnen dabei eine Verschwörung der Massenmedien und der herrschenden Klasse hilft, die Meldungen über Ausländerkriminalität unterdrücken und die Gefahr durch deutsche Neonazis übertreiben. Man findet diese Leute in besonders konzentrierter Form bei „Politically Incorrect“, einer riesigen Internet-Selbsthilfe- und Selbstbestätigungsgruppe für Menschen, die nicht verstehen, warum sie Rassisten sein sollen, obwohl sie doch nur was gegen Moslems und andere Ausländer haben, aber auch massenhaft in den Kommentarspalten vieler Medien.

Diese Leute verstehen die „Focus Online“-Meldung nun als Beweis für ihre Verschwörungstheorie. Jemand habe verbotenerweise ausgeplaudert, was eigentlich geheim bleiben sollte: dass das mit der Neonazi-Gewalt gar nicht (mehr) so schlimm ist (nachzulesen u.a. in den Kommentaren auf „Focus Online“, natürlich bei „Politically Incorrect“, mit Kommentaren wie: „Der Kampf gegen Rechts ist die SA der LinksgrünInnen“, aber auch in ähnlich schlimmer Form in der „Readers Edition“). Wenn irgendwann im Frühling die tatsächlichen Zahlen über rechte Gewalt veröffentlicht werden (von denen noch unbekannt ist, ob sie zugenommen oder abgenommen hat, deren Zahl aber auf jeden Fall drastisch über den von „Bild“ genannten liegen wird, weil das in der Natur der Sache der vorläufigen Zählung liegt), dann werden diese Leute auch das wieder als Bestätigung für ihre krude Weltsicht interpretieren: Man habe die Zeit genutzt, so lange die Zahlen zu manipulieren, bis das rauskam, was rauskommen sollte, nämlich dass Nazis immer noch ein großes Problem sind, obwohl doch in Wahrheit die Ausländer das Problem seien.

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Hinter der hier exemplarisch beschriebenen Form der flächendeckenden Desinformation steckt keine Panne. Sie hat System. Wenn „Bild“-Chefkorrespondent Einar Koch in seinem Wahn, die Zahl rechtsextremer Gewalt kleinschreiben zu wollen (oder auch nur derjenige zu sein, den alle mit der Exklusiv-News über die Zahl rechtsextremer Gewalt zu zitieren) nächsten Monat oder nächstes Jahr wieder denselben Unsinn veröffentlicht, wird wieder genau dasselbe passieren.

dpa und der total zue Boyzone-Sänger

Vor einem halben Jahr wurde bekannt, dass „Spiegel Online“-Chefredakteur Wolfgang Büchner dpa-Chef wird. Damit verbunden war für viele Kritiker die Hoffnung, dass sich die Nachrichtenagentur in vielerlei Hinsicht locker macht — auch was Sprache und Themen angeht. Der scheidende Chefredakteur Wilm Herlyn selbst hatte von einer „schrecklich altbackenen Nachrichtensprache“ gesprochen, in der viele dpa-Autoren „verharren“. Und Büchner sagte in einem Interview, das die Agentur mit ihren eigenen Chefs zum 60. Geburtstag führte, auf die Frage, ob die Entwicklung zur Boulevardisierung der Informationen eine Chance oder ein Risiko sei:

„Unterhaltung — auch Klatsch und Tratsch — ist seit jeher ein wichtiger Teil des Journalismus, das war schon zu Zeiten der Minnesänger so. Wenn Journalisten — ganz gleich ob bei einer Lokalzeitung, einer Website, im Fernsehen oder bei einer Agentur — diesem Bedürfnis Rechnung tragen, sorgen sie dafür, dass ihre Leser sich diese Informationen nicht an anderen Stellen suchen.“

Gestern brachte dpa mehrere ausführliche Berichte über den Tod des Boyzone-Sängers Stephen Gately auf Mallorca, und wenn man wollte, konnte man darin schon erkennen, wie das aussieht, wenn dpa sich locker macht. Um 17.15 Uhr brachte die Agentur eine Zusammenfassung, die so begann:

London/Palma de Mallorca (dpa) — Boyzone-Sänger Stephen Gately soll nach Medienberichten vor seinem plötzlichen Tod stundenlang heftig gezecht haben und später an seinem Erbrochenen erstickt sein. Der 33-Jährige habe mit seinem Mann Andrew Cowles (32) in der Nacht zum Samstag in einem Schwulenclub auf Mallorca Cocktails und Weißwein konsumiert und sei komplett betrunken gewesen, berichteten britische Boulevardzeitungen am Montag. Der Anwalt von Gatelys Familie wies die Darstellung zurück.

Drei Stunden später folgte eine neue Version, mit weiteren Details und der ein oder anderen geänderten Formulierung. Im zweiten Satz war nicht mehr davon die Rede, Gately sei „komplett betrunken“ gewesen. Nun hieß es:

Der 33-Jährige habe mit seinem Mann Andrew Cowles (32) in der Nacht zum Samstag in einem Schwulenclub auf Mallorca Cocktails und Weißwein durcheinandergetrunken und sei total zu gewesen, berichteten mehrere britische Boulevardzeitungen am Montag.

Das ist doch mal ein erfrischender Bruch mit der schrecklich altbackenen Nachrichtensprache: „total zu“ war der schwule Popstar also. Die Formulierung hat immerhin den Vorteil, dass man auch sprachlich gleich auf dem Niveau der Medien ist, die der dpa als glaubwürdige Grundlage für Spekulationen über den Tod eines Menschen dienen. Die „Sun“ will einen anonymem „partygoer“ aufgetan haben, der mit Gately und seinem Partner etwas getrunken habe, und schreibt ihm den Satz zu, Stephen sei „total betrunken“ gewesen. Die dpa glaubt’s und zitiert den unbekannten „Nachtschwärmer“. Die deutsche Nachrichtenagentur findet auch erwähnenswert, dass das Paar „den Medienberichten zufolge“ einen „jungen Mann“ kennenlernte und Gatelys Partner mit ihm die Nacht zusammen verbracht habe. Später habe Cowles „vergeblich versucht, den Sänger wiederzubeleben, hätten Freunde berichtet“, berichtet die „Sun“, berichtet dpa. Und, Tatsache: Die Quellen der berüchtigten britischen Boulevardzeitung sind, wörtlich: „Friends“ und „One Pal“. Ausführlich transkribiert die Agentur, was die „Sun“ berichtet — eine Zeitung, die nicht zögerte, schon am Montag zu behaupten, die Todesursache des Sängers zu kennen: Totgesoffen habe er sich.

Oder anders: Er war halt „total zu“.

(Inzwischen liegt das Ergebnis der Obduktion vor, und angeblich haben weder Alkohol noch Drogen beim Tod Gatelys eine Rolle gespielt. Ich wäre aber — nach Rücksprache mit dem Pathologen meines Vertrauens — vorsichtig, das für erwiesen zu halten, bis die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchungen vorliegen. Aber so wenig die Medien die Obduktion abwarten konnten, können sie wiederum das jetzt abwarten.)

Wolfgang Büchner hat seiner Agentur neulich Regeln für den Umgang mit vermeintlich „exklusiven Informationen“ gegeben. Regeln für den Umgang mit vermeintlich exklusiven Informationen anderer Medien scheint es bei dpa nach wie vor nicht zu geben. Und das Schlimme daran ist, dass dpa diese Mischung aus Gerüchten, Spekulationen und Lügen adelt: Über den Umweg über die Nachrichtenagentur wird für andere Medien aus der unseriösen Quelle „Sun“ die seriöse Quelle dpa.

Andererseits: Wenn seriöse Journalisten unseriöse Meldungen von Blättern wie der „Sun“ verbreiten, sorgen sie wenigstens dafür, dass ihre Leser sich diesen Unsinn nicht an anderen Stellen suchen.

18 Prozent

Es scheint einen breiten Konsens unter Journalisten zu geben, dass die 18 Prozent, die Horst Schlämmer angeblich bekommen würde, wenn er bei den Bundestagswahlen anträte, ein Armutszeugnis für die Politik seien. Dass die ganze Geschichte ein Armutszeugnis für ihren eigenen Berufsstand sein könnte, darauf kommen sie nicht.

Ausgangspunkt des Ganzen ist eine Forsa-Umfrage, die der „Stern“ in Auftrag gegeben hat, dessen Online-Ableger sie am vergangenen Mittwoch so zusammenfasste:

In einer Umfrage für den stern bejahten 18 Prozent der Bundesbürger die Frage, ob sie sich vorstellen können, die „Horst-Schlämmer-Partei“ zu wählen.

Nun könnte man sich fragen, ob das so spektakulär ist. Ich zum Beispiel, ich würde jetzt bei der Bundestagswahl die Horst-Schlämmer-Partei nicht wählen. Das hat die Horst-Schlämmer-Partei mit der FDP gemein, die ich auch nicht wählen würde. Grundsätzlich könnte ich mir aber vorstellen, die FDP zu wählen. Kann ich mir vorstellen, die Horst-Schlämmer-Partei zu wählen? Naja, vermutlich nicht. Ich kann mir aber vorstellen, dem Forsa-Mann, wenn er anruft und mir die lustige Frage in netter Form stellt, zu antworten, dass ich mir durchaus vorstellen könne, die Horst-Schlämmer-Partei zu wählen.

Hey, es ist eine Meinungsumfrage! Horst Schlämmer gibt es nicht, die Horst-Schlämmer-Partei gibt es nicht. Es ist absolut folgenlos, was ich sage. Warum soll ich da ein Spielverderber sein und sagen, dass ich es mir nicht einmal vorstellen könne, die zu wählen?

Vermutlich haben sie bei stern.de selbst gemerkt, dass die teure Umfrage nicht so atemberaubend ist, und ihr Ergebnis in der Überschrift gleich einmal verfälscht: „Fast jeder Fünfte würde Schlämmer wählen“.

Der Siegeszug dieser, äh, Nachricht begann, wie üblich, mit der Nachrichtenagentur dpa („Horst-Schlämmer-Partei genießt hohe Wählergunst“ und „Horst Schlämmer — alias Hape Kerkeling — hätte am 27. September eine durchaus realistische Chance, in den Deutschen Bundestag einzuziehen“) und setzte sich mit unterschiedlichen Graden der Verfälschung, der politischen Interpretation und des allgemeinen Wahnsinns fort.

Die Münchner Boulevardzeitung „tz“ gab ihr in einem Kommentar am nächsten Tag gleich mal die nötige Fallhöhe:

Wenn es nach CDU-Vizechef Christian Wulff geht, entscheidet nach der Wahl nicht die Kompetenz der Minister-Kandidaten, ebenso kein Wahlergebnis oder der entsprechende Wählerwillen. Aber wählen, ja das dürfen und sollen wir gnädigerweise doch noch — Arroganz und Abgehobenheit in Reinkultur.

Da verwundert es überhaupt nicht, wenn laut Forsa 18 Prozent der Deutschen lieber einen Spaßpolitiker wie Hape Kerkelings Horst Schlämmer zum Kanzler wählen würden. Denn bei so traurigen Realpolitikern wie Wulff hilft nur eines: Bitteres Lachen.

„Bild“ schrieb:

Horst Schlämmer fast so stark wie die SPD!

Die „Berliner Zeitung“ analysierte mit einer Ernsthaftigkeit, die an Ottos Versuch erinnert, den Schlager „Theo, wir vier fahr’n nach Lodz“ zu interpretieren:

„Ist das nun Zufall oder ebenfalls ein Spiegel der gegenwärtigen Verhältnisse, dass diese 18 Prozent vor ein paar Jahren das Wahlziel einer Partei gewesen sind, die damals unter ihrem Vorsitzenden Guido Westerwelle als Spaßpartei in den Wahlkampf zog und in diesem Jahr nach dem 27. September als FDP gemeinsam mit CDU/CSU die Bundesregierung zu stellen wünscht?“

Die „Berliner Zeitung“ nutzte auch die Gelegenheit, Kanzleramtschef Thomas de Maizière mit der Frage zu konfrontieren:

„Das Institut Forsa hat ermittelt, dass 18 Prozent die Schlämmer-Partei wählen würden, obwohl es die gar nicht gibt. Was sagt Ihnen das?“

Und die „Welt am Sonntag“ brachte in einem Interview mit der bayerischen FDP-Vorsitzenden Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die Erkundigung unter:

Die Horst-Schlämmer-Partei würde laut Umfragen 18 Prozent schaffen, gibt Ihnen das zu denken?

Der „Focus“ witzelte:

Das Programm, das Steinmeier doch noch Kanzler werden ließe, hat sich leider ein Konkurrent gekrallt: Horst Schlämmer von der HSP. Und auch wenn die CDU zugleich konservativ, liberal und links daherkommen will: Die HSP hat diese Positionen längst als ihr Glaubensbekenntnis besetzt.

Katzen würden sonst was kaufen, können sie aber nicht. Und deutsche Wähler (18 Prozent laut Umfrage) würden Horst Schlämmer wählen.

dpa raunte:

Ein brisantes Ergebnis, fanden auch die Betroffenen am roten Teppich: Denn es waren gestern Abend auch echte Politiker zur Premiere gekommen.

Der Kölner „Express“ und der „Berliner Kurier“ sprachen von einer „Ohrfeige für CDU, SPD & Konsorten“ und verrechneten sich wie folgt:

Schlämmer wäre mit seiner HSP zurzeit drittstärkste Partei. Laut der neuesten Forsa-Umfrage liegt die Union bei 38% (+1), die SPD bei 21% (+1), die FDP bei 13 (-1), die Grünen bei 12% (-1) und die Linken gleichbleibend bei 11%.

Die „Badische Zeitung“ überraschte mit der Überschrift:

Vorsprung für Schwarz-Gelb — 18 Prozent für Horst Schlämmer

Der Berliner „Tagesspiegel“ gab sich besorgt:

Die HSP würde, träte sie denn zur Wahl an, auf Anhieb auf 18 Prozent in diesem Lande kommen. (…) 18 Prozent, das ist in etwa das derzeitige realistische Wahlziel der SPD. Damit zöge die HSP locker in den Bundestag ein, wäre mit ihrem breitgefächerten Profil ein interessanter Koalitionspartner: „konservativ, links, liberal, grün“. Aus dem Stand heraus. Mit nur einem einzigen Parteimitglied. Und der, die Kröte müsste Frau Merkel, müsste Herr Steinmeier schlucken, hat selbst Machtansprüche: „Isch kandidiere“, sagt er, und „Ja, isch will Bundeskanzler werden.“ (…)

Inhalte? Wer will noch Inhalte, Pläne, Ziele? 18 Prozent der Deutschen wollen das alles nicht, schauen nicht auf Parteiprogramme, bewerten keine Taten, wollen keinen Blick nach vorne, wollen offensichtlich überhaupt nichts, was gemeinhin Politik heißt. Wahrscheinlich, weil sie beliebig ist, so beliebig, dass auch die HSP fähig erscheint. Wie gut für die Parteien, dass die HSP nicht antritt, nur fiktiv ist und ein Scherz in einem Film. Real ist alleine der Umfragewert. Das alleine kann ein bisschen Angst machen.

Der „Spiegel“ kam immerhin darauf, dass man selbst mit im Boot sitzt:

Am Donnerstag schaffte es Kerkeling auf die Titelseite der „Hamburger Morgenpost“ mit der Schlagzeile, dass 18 Prozent Horst Schlämmer zum Bundeskanzler wählen würden. Das spricht nicht für die Politik, nicht für das Volk und nicht für einen Journalismus, der politischen Klamauk allzu gern zur großen Sache macht.

„Taxi Kasupke“, seinerseits eine Art Witzfigur der „Berliner Morgenpost“, balinerte:

Kanzla-Kandidat Steinmeier hätte statt Ulla Schmidt bessa Horst Schlämmer in sein Kompetenz-Team jeholt — der is glaubwürdijer.

Und die „Hamburger Morgenpost“ fragte (leider nur rhetorisch):

Kann es wirklich sein, dass jeder Fünfte eher einen fiktiven Politiker wählt als die existierenden? Ist das nicht eine Ohrfeige für die Politik?

Mein Lieblingstext aber ist der staatstragende Kommentar von Anne-Kattrin Palmer aus dem „Berliner Kurier“ mit der ebenso mahnenden wie falschen Überschrift: „Schlämmer ist kein Witz“:

Da wählen Menschen lieber eine Kultfigur, eine Scherz-Ikone als einen „echten“ Politiker.

Denn viele Menschen identifizieren sich mit ihm. Und zwar eher als mit unseren Politikern, weil unseren Parteien leider die herausragenden Persönlichkeiten ausgehen. Viele nehmen Politik nur noch als Gemisch, als Mittelmaß wahr.

Jetzt können Politiker sagen: Ach, das ist doch nur eine Scherz-Umfrage. Da ist doch nichts dran.

Irrtum: Der schräge Schlämmer begeistert nun mal. US-Präsident Barack Obama übrigens auch. Und der ist Politiker.

Und all die Kollegen, die dies und noch viel mehr aus einer schwachsinnigen Umfrage mit unspektakulärem Ergebnis gemacht haben: Sie glauben allen Ernstes, dass es die Politik ist, um die man sich Sorgen machen muss, und die Bürger, die irgendwie fehlgeleitet sind.

Nein. Die Journalisten sind die mit dem an der Waffel.

[inspiriert durch ix, den „Postillon“ und einige Kommentare hier]

Geht sterben (9)

(Vielleicht machen Sie sich einfach den Spaß und denken beim Lesen dieses Eintrages daran, wie sehr die Verlage die vermeintliche „Kostenlos-Kultur“ im Internet verfluchen, und fragen sich, für welche der journalistischen Leistungen, die Ihnen gleich begegnen, Sie bereit wären, Geld zu bezahlen, und sei es noch so wenig.)

Seit einigen Tagen zündet das „Hamburger Abendblatt“ ein eindrucksvolles Wahl-Werbe-Feuerwerk für Ursula von der Leyen. Es meldet, dass die Familienministerin eine mögliche Schweinegrippeimpfung von den Krankenkassen bezahlen lassen will. Es berichtet (gleich zweimal), dass die Familienministerin mehr Unterstützung für alleinerziehende Eltern fordert. Es freut sich (gleich zweimal), dass die Familienministerin Hamburgs Familienpolitik für „vorbildlich“ hält. Es meldet, dass die Familienministerin kritisiert, dass die Dienstwagenaffäre von Ulla Schmidt dem Ansehen der Politik schade (was eine gewisse Ironie hat, wenn man nicht nur das „Abendblatt“ liest). Und es freut sich, dass die Familienministerin den Kampf gegen „den Schmutz“ im Internet verstärken will.

Der Wortwechsel zwischen den „Abendblatt“-Redakteuren Jochen Gaugele und Maike Röttger und der Ministerin über die Säuberung des Internets ist ein Dokument journalistischer Arbeitsverweigerung. Nicht nur, dass den Text offenbar vor der Veröffentlichung niemand mehr gelesen hat. Fast jede Frage ist in dem Bewusstsein formuliert, dass Fragesteller und Gefragte sich einig sind. Die „Abendblatt“-Leute legen ihr einen Ball nach dem anderen vors Tor, damit sie verwandeln kann. Sie behelligen sie mit keinem einzigen Argument der Gegner der Netzsperren, die sogar ein ehemaliger Bundesverfassungsrichter für verfassungswidrig hält. Sie fragen zum Beispiel auch nicht, ob die Anhänger der jungen „Piratenpartei“ ein legitimes Anliegen haben. Sie fragen, ob von der Leyen nicht die Sorge habe, dass auch Unions-Wähler sich davon angezogen fühlen können. (Antwort: überhaupt nicht.) Am Ende machen sie sich nicht einmal mehr die Mühe, eine echte Frage zu formulieren.

Die Piratenpartei hat den ehemaligen SPD-Politiker Jörg Tauss aufgenommen, der20wegen [sic] des Besitzes von Kinderpornografie angeklagt ist. Wie kommt Ihnen das vor?

Ja, wie mag Frau von der Leyen das wohl vorkommen, als politische Gegnerin von Tauss, wenn schon die „Abendblatt“-Leute es offenkundig total daneben finden. (Mal abgesehen davon, dass Tauss noch gar nicht angeklagt ist — vorher muss mindestens noch die Immunität des Bundestagsabgeordneten aufgehoben werden. Aber wen kümmern so lästige Details des Rechtsstaates, wenn wir von ekligen Kinderschändern und ihren Verteidigern reden?)

Noch bevor sie ihr Schmierenstück im eigenen Online-Auftritt veröffentlichten, reichten die „Abendblatt“-Leute es an die Nachrichtenagentur dpa weiter, die prompt daraus eine Meldung mit dem Titel „Von der Leyen will gegen rechte Inhalte vorgehen“ machte.

Diese Überschrift ist in jeder Hinsicht überraschend, denn Frau von der Leyen hatte gegenüber dem „Abendblatt“ nichts dergleichen gesagt. Die entscheidende Stelle lautet:

abendblatt.de: Sie argumentieren, Grundregeln unserer Gesellschaft müssten online wie offline gelten. Warum sperren Sie dann nicht auch Internetseiten, die Nazipropaganda verbreiten oder Gewalt gegen Frauen verherrlichen?

Von der Leyen: Mir geht es jetzt um den Kampf gegen die ungehinderte Verbreitung von Bildern vergewaltigter Kinder. Der Straftatbestand Kinderpornografie ist klar abgrenzbar.20Doch [sic] wir werden weiter Diskussionen führen, wie wir Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenwürde im Internet im richtigen Maß erhalten. Sonst droht das großar tige [sic] Internet ein rechtsfreier Chaosraum zu werden, in dem man hemmungslos mobben, beleidigen und betrügen kann. Wo die Würde eines anderen verletzt wird, endet die eigene Freiheit. Welche Schritte für den Schutz dieser Grenzen notwendig sind, ist Teil einer unverzichtbaren Debatte, um die die Gesellschaft nicht herumkommt.

Was Frau von der Leyen fordert, ist eine Debatte. Von „Nazipropaganda“ spricht allein das „Abendblatt“. Die dpa-Schlagzeile „Von der Leyen will gegen rechte Inhalte vorgehen“ ist durch das Interview nicht gedeckt. Sie ist nicht einmal durch die Agenturmeldung selbst gedeckt. An keiner Stelle nimmt der dpa-Text jenseits der Überschrift auch nur Bezug auf „rechte Inhalte“. Der erste Satz zum Beispiel lautet:

Nach der Sperrung kinderpornografischer Seiten will Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) gegen weitere rechtswidrige Inhalte im Internet vorgehen.

„Rechtswidrige“ — vielleicht. „Rechte“ — keine Rede.

Das ist schon ein außerordentlich grober Schnitzer für eine Nachrichtenagentur. Aber können wir bitte auch endlich über die unsägliche Praxis reden, dass es genügt, dass irgendein Medium eine E-Mail mit angeblichen Vorabinformationen an eine Nachrichtenagentur schickt, um sämtliche die wenigen verbliebenen Prüfmaßstäbe außer Kraft zu setzen?

Ich meine, ein Blatt wie „Die Aktuelle“, das sich nicht schämt, über einen Menschen auf seinen Titel zu schreiben, er habe sich „zum Sterben in die Berge“ zurückgezogen, ein Blatt, das, wenn es nicht auf Papier, sondern im Internet erschiene, Frau von der Leyen und ihren Freunden vom „Abendblatt“ sofort als Beweis für die Notwendigkeit einer Schmutz-Säuberung diente, ein solches Blatt teilt dpa mit, was es herausgefunden hat, und dpa bringt das dann unters Volk.

Anderes Beispiel: „Die Welt“ tut so, als habe sie exklusiven Zugriff auf eine EU-Studie über Arbeitszeiten, und dpa, Reuters, epd, AP verbreiten die einseitige „Welt“-Interpretation, ohne die zehn Minuten zu investieren, die es dauern würde, sich bei der Quelle selbst zu informieren und ein eigenes Bild zu verschaffen.

Und diese ungeprüften Agenturmeldungen werden dann wieder ungeprüft weiterverbreitet. Und nicht nur von all den Online-Medien, bei denen das automatisch passiert. Unter dem „Spiegel Online“-Artikel über die Arbeitszeiten-Studie stehen nicht weniger als drei Agenturkürzel. Der Mitarbeiter hat sich richtig Mühe gegeben, seinen Text aus mehreren Quellen zusammenzusetzen — Quellen, die alle auf derselben einseitigen Interpretation durch die „Welt“ beruhen. Den Weg zur Quelle suchte er nicht — so wenig wie seine Kollegen von „Focus Online“ und viele andere. Noch einmal: Er bräuchte dazu keine Kontakte nach Brüssel. Er braucht nur eine Suchmaschine und Englischkenntnisse und ein kleines bisschen Zeit und einen Widerwillen gegen unnötiges Abschreiben.

Aber zurück zur Internetgeschichte vom „Abendblatt“ und Frau von der Leyen. Obwohl einem Redakteur schon bei einer flüchtigen Prüfung auffallen müsste, dass die dpa-Überschrift nicht von der dpa-Meldung gedeckt ist, tauchte die grenzwertige Meldung mit der Falschüberschrift zum Beispiel bei „Focus Online“ auf.

Heute Nachmittag hatte die Agentur dann endlich ihre Hausaufgaben gemacht — vielleicht hat sich auch nur das Familienministerium selbst gemeldet, um auf den Irrtum hinzuweisen –, jedenfalls brachte dpa um 15:23 Uhr eine Art Korrektur mit dem Titel:

Ministerium: Von der Leyen nicht für mehr Internetsperren

Und damit kommen wir zum erwartbaren, vorläufigen Ende dieses Trauerspiels mit vielen Beteiligten. Denn die Leute von „Focus Online“ bringen zwar nun die neue richtige dpa-Meldung statt der alten falschen, aber weisen natürlich an keiner Stelle darauf hin, dass sie selbst mehrere Stunden lang das Gegenteil dessen behauptet hatten, was sie jetzt behaupten. Die alte Adresse (http://www.focus.de/…/familie-von-der-leyen-will-gegen-rechte-inhalte-vorgehen…) leitet einfach auf die neue um (http://www.focus.de/…/familie-ministerium-von-der-leyen-nicht-fuer-weitere-sperren…) Auch bei „Focus Online“ werden nicht einmal die elementarsten Regeln für einen transparenten Umgang mit Korrekturen eingehalten.

Darüber müssen wir endlich reden — über Mindeststandards beim Recherchieren und Korrigieren. Und dann können wir gerne über neue Bezahlmodelle reden. Die Leistung, die die beteiligten Medien am Sonntag wieder zeigten, ist selbst umsonst noch zu teuer.

(Kunstpause.)

Und während all diese vermeintlich professionellen Journalisten mit Nichtnachdenken und Nichtrecherchieren beschäftigt waren, hat der Rechtsanwalt Udo Vetter in seinem Lawblog diese fundierte Analyse der tatsächlichen Äußerungen von der Leyens veröffentlicht.

[via Spiegelfechter]

Si googlevisses …

Uli Hoeneß meint, Jürgen Klinsmann hätte lieber die Klappe halten sollen.

Leider meinte Uli Hoeneß das auf Latein, und deshalb ist nicht ganz klar, was er wirklich gesagt hat.

„Si tacuisses, philosophus manuisses“,

schreibt der Sport-Informationsdienst SID, was von stern.de, jungewelt.de, Welt Online, „Focus Online“ und dem gedruckten „Wiesbadener Kurier“ übernommen wurde.

„Si tacuisses philosophus manisses“,

buchstabiert die Nachrichtenagentur dpa, was FTD.de plausibel fand.

Und welche Variante wäre richtig?

Überraschung! Keine von beiden.

Die zweite Person Singular Plusquamperfekt Konjunktiv von manere (bleiben) ist bekanntlich mansisses, also heißt „Wenn du geschwiegen hättest, wärest du ein Philosoph geblieben“ natürlich:

„Si tacuisses, philosophus mansisses.“

Viele Medien haben das sogar richtig gemacht. Den anderen und den Agenturen aber rufe ich herzlich zu:

UDMQ!*

*) Utimini damnata machina quaesitoria, engl: UTFSE

[via BILDblog-Leser Sebastian D.; philologische Fachberatung: Alberto G.]