Schlagwort: Focus Online

16.36 Uhr: Ein Mann, der nicht aussieht wie Hollande, läuft durch den Hintergrund.

In Paris hat sich der französische Präsident François Hollande den Fragen der Presse gestellt. „Focus Online“, das Phoenix unter den deutschen Internetangeboten, berichtet in einem Live-Ticker.

Aber in solchen Online-Formaten wird ja auch immer viel redundanter und irrelevanter Quatsch verbreitet. Ich habe deshalb als kleinen Service für die politisch interessierten Leser das „Focus Online“-Geticker auf die darin enthaltenen wesentlichen Informationen reduziert:

16.02 Uhr: Der Saal im Élysée-Palast ist bereits gut gefüllt. Noch stehen die Journalisten in Gruppen zusammen herum und tauschen sich aus. François Hollande ist noch nicht zu sehen.

16.14 Uhr: Weitere Kameras sind auf den Eingang des Élysée-Palastes gerichtet. Vereinzelt tröpfeln Journalisten ein. Eine Empfangsdame öffnet die Türen der vorfahrenden Autos, um wichtige Gäste hereinzulassen. Von François Hollande allerdings auch hier noch keine Spur.

16.28 Uhr: Im Saal haben sich inzwischen alle gesetzt. Es kann in wenigen Minuten losgehen. Noch herrscht aber aufgeregtes Flüstern.

16.32 Uhr: Nun sind auch die Honorationen in der ersten Reihe eingelaufen. Alles wartet auf den Präsidenten François Hollande.

16.34 Uhr: Damit wäre schon mal klar: François Hollande verspätet sich.

16.36 Uhr: Demonstratives Husten aus den hinteren Stuhlreihen; immer wieder verstummen die Gäste, dann geht wieder das Getuschel los. Ein Mann läuft durch den Hintergrund. Wie François Hollande sieht der aber nicht aus. Immerhin steigert das alles die Spannung.

16.38 Uhr: „Monsieur le président de la republique“, sagt ein Sprecher und François Hollande tritt ein. Kurzes Lächeln, kurzes Nicken. Es geht los.

16.47 Uhr: Die Stärkung der französischen Wirtschaft sei auch ein wichtiges gesellschaftliches Thema, sagt François Hollande. Im Saal ist es während seiner Rede ganz still.

17.03 Uhr: François Hollande verliert ein wenig die Festigkeit seiner Stimme, wird etwas leiser. Es klingt, als würde er das Ende seiner Rede ankündigen. Aber er spricht weiter, über die Gesundheits- und Pflegeversorgung, springt von dort zum Militäreinsatz in Mali im vergangenen Jahr.

17.21 Uhr: Es ist kurz ganz still im Saal, kein Rascheln, kein Flüstern.

[auf Wunsch eines einzelnen Lesers]

Milchmädchen im Einsatz gegen ARD und ZDF: Der Unsinn der Steuerzahler-„Studie“

Heute erkläre ich Ihnen, wie ARD und ZDF eine halbe Milliarde Euro jährlich einsparen können. Achtung: Indem sie das Geld einfach nicht ausgeben. Ta-daa!

Und jetzt sagen Sie nicht, das sei eine Rechnung, für die man nicht einmal ein Milchmädchen wecken müsste. Der Steuerzahlerbund, ein natürlicher Gegner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, hat es mit dieser Rechnung heute in die „Welt“, die „Rheinische Post“, die „FAZ“ und diverse Online-Medien geschafft.

Er hat sie natürlich besser verpackt. Er hat sie als „Sonderinformation 1“ seines „Deutschen Steuerzahlerinstituts“ (DSi) herausgegeben und mit diversen Fußnoten, Quellenangaben und volkswirtschaftlichen Erläuterungen den Eindruck erweckt, es handele sich hier um eine seriöse wissenschaftliche Forschungsarbeit. Die Medien nennen das Papier „Studie“.

Angeblich weist es den öffentlich-rechtlichen Sendern nach, dass sie jährlich 650 Millionen Euro verschwenden.

Der größte Batzen dieses Betrages kommt aus den Sportrechte-Etats der Sender. Die ließen sich, laut der „Studie“, von jährlich 335 Millionen Euro auf 185 Millionen Euro senken. Auf die Zahl von 185 Millionen Euro kommt die „Studie“ nicht durch irgendein akribisches Nachrechnen, sondern durch den „Vorschlag“, es würde doch völlig genügen, wenn ARD und ZDF die Ausgaben für Sportgroßereignisse „generell auf z.B. fünf Prozent des Programmaufwands begrenzen“.

Hätte die „Studie“ ohne weitere Erklärung eine Begrenzung auf „z.B. vier Prozent“ oder „z.B. drei Prozent“ vorgeschlagen, hätten ARD und ZDF nach dieser Logik also noch viel mehr Geld verschwendet.

Darüber hinaus könnten ZDF, arte und Deutschlandradio laut der „Studie“ jährlich 50 Millionen Euro bei den Programmaufwendungen sparen. Diese Zahl ist nicht selbst ausgedacht, sondern stammt aus einer guten Quelle: Dem Bericht der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (KEF). Die habe ein solche Kürzungspotenzial bei den Sendern festgestellt.

Das ist richtig. Und sie hat es nicht nur festgestellt, sondern diese Summe den Sendern auch gleich abgezogen. Die KEF hat die Etats, die sie ZDF, arte und Deutschlandradio bewilligt, für die aktuelle Gebührenperiode bereits um dieses Kürzungspotenzial reduziert. Anders gesagt: Die Sender mussten bzw. müssen dieses Geld ohnehin sparen und können es nicht mehr „verschwenden“. Denselben Logikfehler macht die „Studie“ auch beim von der KEF gekürzten Personalaufwand der Sender.

Ein erheblicher Anteil der 650 Millionen Euro, die ARD und ZDF angeblich verschwenden, ist Geld, das ARD und ZDF gar nicht bekommen: Das DSi schlägt vor, die 14 Landesmedienanstalten zusammenzulegen. Die bekommen jährlich 142 Millionen Euro von den Rundfunkbeiträgen. Was man auf diese Weise sparen könnte? Die „Studie“ weiß es — wie so oft — auch nicht, glaubt aber einfach mal — wie so oft — dem ausgewiesenen Medienexperten Hans-Peter Siebenhaar vom „Handelsblatt“. Weil der einmal von einer Ersparnis „im dreistelligen Millionen Euro-Bereich“ schrieb, zählt die „Studie“ einfach mal grob 100 Millionen auf die Gesamtverschwendungssumme — wohlgemerkt: von ARD und ZDF, die damit nichts zu tun haben.

Wie seriös die „Studie“ ist, zeigt sich auch in den Fußnoten. An einer Stelle heißt es:

Der Vorwurf, Politik und Rundfunk unterlägen gegenseitiger Einflussnahme kommt nicht von ungefähr. (…) Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk spielt gelegentlich sein Machtpotenzial gegenüber der Politik aus. So wurde den Abgeordneten des nordrhein-westfälischen Landtags z.B. gedroht, wenn diese gegen den neuen Rundfunkbeitrag stimmten, würde das im WDR eine negative Berichterstattung zur Folge haben.

Urheber dieser Behauptung ist Christian Nienhaus, der Geschäftsführer der WAZ-Gruppe (heute Funke-Gruppe), der das 2011 in einem FAZ-Interview gesagt hatte. Die Passage sorgte — verständlicherweise — für einigen Wirbel; der WDR drohte Nienhaus mit rechtlichen Schritten. Eine Woche später nahm er seine Äußerungen zurück:

„Ich stelle ausdrücklich klar, das ich mit meiner Äußerung nicht die Behauptung aufstellen wollte, der WDR habe unmittelbar oder mittelbar Abgeordneten im Landtag von Nordrhein-Westfalen in Zusammenhang mit deren Abstimmungsverhalten über die Mediengebühr mit einer negativen Berichterstattung im WDR gedroht“.

Die Verfasser der „Studie“ haben das praktischerweise nicht mitgekriegt, was natürlich auch daran liegen kann, dass sie womöglich eher fachfremd sind. Autoren sind im Papier nicht angegeben, am Ende steht nur: „Bearbeitung: Karolin Herrmann“. Karolin Hermann ist Diplom-Volkswirtin und beim DSi eigentlich zuständig für Haushaltspolitik und Haushaltsrecht.

Als Positionspapier und Sammlung von Argumenten gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der bestehenden Form aus volkswirtschaftlicher Sicht ist die Veröffentlichung natürlich völlig legitim. Es lässt sich aus ihr nur nicht seriös ablesen, wieviel Geld ARD und ZDF jährlich „verschwenden“.

Aber was ist „seriös“ schon für ein Kriterium, wenn es gegen ARD und ZDF geht?

[Offenlegung: Ich habe im Sommer mein Geld hauptsächlich damit verdient, für eine WDR-Sendung zu arbeiten. Persönlich unterstütze ich die Forderungen nach einer Deckelung des Sportrechte-Etats und einer Zusammenlegung der Medienanstalten, aber das ist ja nicht der Punkt.]

Angebot aus München: Suchen Texte, bieten Reichweite

Auch ich habe eine Anfrage aus München bekommen, ob ich nicht als „Kontributor“ für ein Online-Angebot schreiben möchte. Ich könnte so, dank der großen Reichweite des Burda-Portals, meine Themen noch bekannter machen und einem großen Leserkreis präsentieren, dürfte für mich werben und auf mein Blog und Bücher oder ähnliches verlinken.

Die Anfrage kam allerdings nicht von der deutschen Version der „Huffington Post“, deren Anwerbeversuche von Gratisbloggern gerade für ein bisschen Wirbel sorgt. Sie kam von ihrer Schwester „Focus Online“.

Der Deal wird in der E-Mail wie folgt beschrieben:

Die Idee dahinter ist, dass wir unsere Reichweite als drittgrößte deutsche Nachrichtenseite zur Verfügung stellen, um ausgewiesene Experten als Marke und Ihre Themen noch bekannter zu machen und einem großen Leserkreis zu präsentieren. Diese Experten wiederum schreiben dafür regelmäßig über ein bestimmtes Thema.

Da Sie als Medienjournalist arbeiten, könnten Sie uns natürlich als Experte bei vielen Themen zur Seite stehen. Ob der Verkauf der Springer-Traditionstitel oder die Arbeit mit Prominenten in den Medien, ich bin sicher, Sie hätten etwas zu sagen. Vielleicht möchten Sie das nicht nur auf Ihrem eigenen Blog tun, sondern auch bei uns? (…)

In der Ausgestaltung der Texte sind die Autoren frei, wir geben aber gerne Hilfestellung bei der Auswahl der Themen oder dem Zuschnitt der Artikel. Bisher schreiben zum Beispiel der Politiker Thilo Sarrazin für uns, der Historiker Michael Wolfssohn, der Wissenschaftler Jack Nasher, der Verschlüsselungsexperte Klaus Schmeh, der Wirtschaftswissenschaftler Gerald Mann, der Sportmarketingsexperte Gerd Nufer, der Außenpolitikexperte Thomas Jäger usw. usf. Ich denke, Sie sehen, in welche Richtung das Modell geht. Für die Zukunft ist auch die Zusammenarbeit mit bekannten Politikern, Sportlern oder Schauspielern geplant.

Ich habe mich für die Anfrage bedankt und gefragt, ob es dafür auch ein Honorar gibt. Daraufhin habe ich nichts mehr von „Focus Online“ gehört.

Klaubbläser

Ob sie sich nicht als Blutsaugerin der traditionellen Medien sehe, wurde [„Huffington Post“-]Gründerin Huffington kürzlich gefragt. „Das ist, als würde man sich darüber beschweren, dass ein Auto schneller ist als ein Pferd“, antwortete sie. „Schon immer haben neue Technologien die alten überrollt.“

Der Vergleich stimmt nicht ganz. Die „Huffington Post“ überrollt andere Medien nicht. Sie beutet sie systematisch aus. Einen Großteil ihrer Nachrichtenschlagzeilen klaubt Huffingtons Crew einfach aus anderen Medien zusammen – viele davon sind die Online-Ausgaben traditioneller Tageszeitungen.

„Focus“, 11. Mai 2009.

„FOCUS Online“ — stolzer Partner der Huffington Post in Deutschland.

„Focus Online“, 29. April 2013.

Wir unterbrechen diese Sätze für eine Werbebotschaft

Neulich hat „Focus Online“ bekanntgegeben, sich nicht am allgemeinen Wettherunterziehen von Bezahlschranken zu beteiligen. Das Angebot soll kostenlos bleiben. Zu groß sei die Gefahr, Stammleser zu verprellen.

Doch die Umsonstheit hat ihren Preis. Die Stammleser müssen dafür an anderer Stelle besonders hart im Nehmen sein (vom Journalismus jetzt mal ganz abgesehen): Sie müssen sich darauf einstellen, dass „Focus Online“-Artikel mitten im Absatz von Werbebotschaften im Fließtext unterbrochen werden.

Nach Angaben des Werbevermakters Tomorrow Focus handelt es sich um einen Test. Die Werbeform werde den Kunden noch nicht angeboten, ob sie bei „Focus Online“ eingeführt wird, sei noch offen, sagt eine Sprecherin. Die ersten Erfahrungen seien aber „sehr positiv“. (Ich hatte konkret nach Reaktionen von Lesern gefragt, halte es aber eher für unwahrscheinlich, dass sich die Antwort darauf bezieht und stimmt.)

Es handelt sich um eine verschärfte Form von In-Text-Advertising. Das besteht sonst in der Regel daraus, dass einzelne Wörter im Text unterstrichen sind und beim Überfahren mit der Maus dazu vermeintlich passende Werbung angezeigt wird. Hier nun schiebt sich die Anzeige auch ohne (absichtliches oder versehentliches) Zutun des Lesers in den redaktionellen Text.

Selbst für den durchschnittlich desinteressierten Online-Medien-Nutzer muss dank solcher und ähnlicher Zudringlichkeiten längst unübersehbar sein, wie groß die Not der Angebote ist. Werbeformen wie diese sind Monumente der Verzweiflung, eine weitere Eskalation im zunehmend gewaltsamen Versuch, die Aufmerksamkeit der ebenso zunehmend abstumpfenden Leser auf die Botschaften der Werbekunden zu lenken.

Vermutlich muss man froh sein, dass die Werbung nicht mitten im Satz steht oder einzelne Wörter unterbricht, aber wahrscheinlich ist auch das nur eine Frage der Zeit. Die Kreativität, die man im deutschen Onlinejournalismus vermisst, sie scheint in die Erfindung solch immer neuer, immer noch aufdringlicherer Werbezumutungen zu fließen.

Sie haben übrigens noch weitere originelle Ideen bei „Focus Online“. Wenn man einen Artikel eine Weile offen lässt, erscheint oben eine Zeile, die einen informiert, dass es seit dem letzten Besuch „neue Artikel von FOCUS Online“ gebe, und dazu auffordert, die Seite „jetzt“ zu „aktualisieren“. Mit einem Klick kommt man dann auf die Startseite.

Die Einblendung erscheint natürlich unabhängig davon, ob tatsächlich in der Zwischenzeit neue Artikel auf „Focus Online“ veröffentlicht wurden. Sie kommt einfach immer automatisch nach zehn Minuten.

Gaby Köster und der „seltsame Beigeschmack“

Dreieinhalb Jahre lang haben Gaby Köster und ihr Management fast jeden Bericht über ihre schwere Erkrankung juristisch verhindert. Nun hat sie ein Buch über ihr Schicksal geschrieben und wirbt dafür, indem sie in einer Vielzahl von Medien und Talkshows all das erzählt, was sie vorher verbieten ließ. Wer dabei einen üblen Beigeschmack empfindet, soll sich von mir aus daran elend verschlucken.

Gestern hatte die Komikerin bei „Stern-TV“ ihren ersten Fernsehauftritt seit einem Schlaganfall im Januar 2008. Ihre linker Arm ist gelähmt, auch ihr linkes Bein hat sie immer noch nicht ganz unter Kontrolle. Gehen und Stehen fällt ihr schwer; ihr Gesicht wirkt um Jahrzehnte gealtert. Als ihre Begleiterin erzählt, dass sie Fortschritte mache, sagt Gaby Köster mit ihrem brutalen Gaby-Köster-Humor: „Ja, noch mehrere hundert Jahre, dann geht es vielleicht wieder.“ Sie raucht — „weil das was ist, was ich alleine machen kann“.

Sie soll in den nächsten Tagen noch beim „Kölner Treff“, bei „Volle Kanne“ und bei „Tietjen & Hirschausen“ auftreten sowie im November bei „Riverboat“. Sie hat mit der „Bild der Frau“ über ihre Erfahrungen gesprochen und mit dem „Stern“, der daraus eine Titelgeschichte gemacht hat.

Es gibt Leute, die ihr das nach der vorherigen Nachrichtensperre übel nehmen. Journalisten, vor allem. Man kann ein Beleidigtsein sogar zwischen den Zeilen einer dpa-Meldung erahnen, die erst Kösters PR-Termine aufzählt und dann anfügt:

Gegen die Berichterstattung über ihre Krankheit hatte sich Köster vor mehr als drei Jahren noch juristisch gewehrt. Jetzt tritt sie selbst damit in die Öffentlichkeit und vermarktet gleichzeitig ihr Buch „Ein Schnupfen hätte auch gereicht – Meine zweite Chance“.

„Welt Online“ vermutet, dass Gaby Köster „nicht gut von einem Management beraten war, das eine völlige Informationssperre verhängte“. „Focus Online“ spricht von einer „Medien-Strategie, die zumindest fragwürdig ist“. Und in einem selbst für „Meedia“-Verhältnisse erbärmlichen Artikel stellt die Autorin Christine Lübbers „einen seltsamen Beigeschmack“ fest. Sie spekuliert, die Buch-PR „dürfte zumindest bei den Medien für Verwunderung und Diskussionen sorgen, die zuvor Unterlassungserklärungen im Zusammenhang mit der Krankheit Kösters abgegeben haben“.

Es scheint für diese beleidigten Journalisten unmöglich, die Wahrheit zu akzeptieren: Gaby Köster darf selbst entscheiden, wann und wie sie die Öffentlichkeit über eine Erkrankung informiert. Das ist ihr Recht, und zu diesem Recht gehört nicht nur die Möglichkeit, Berichterstattung zu unterbinden, sondern auch die Freiheit, sie wieder zuzulassen und sogar zu forcieren. Den Zeitpunkt, zu dem sie das tut, darf sie frei wählen und sich dabei ganz von der Frage leiten lassen, was für sie ideal ist — persönlich, gesundheitlich, geschäftlich.

Es ist, auch wenn sie eine Person der Öffentlichkeit war, wenigstens bei etwas so Intimem wie einer Krankheit: ihr Leben. Es gehört nicht „Bild“, nicht ihren Fans und schon gar nicht „Meedia“.

Natürlich ist es zulässig, jetzt öffentlich zu diskutieren, ob das Vorgehen von Gaby Köster oder ihrem Management und ihren Anwälten geschickt war — geschickt im Sinne von: günstig für Gaby Köster. Aber das Schmollen und Raunen der Medien, der implizite Vorwurf der Bigotterie, sind unangemessen und abstoßend.

Sie fühlen sich offenbar benutzt: Erst dürfen wir nichts schreiben und nun sollen wir ihr bei der PR helfen.

Nur gibt es gar keine Pflicht dazu, Teil von Gaby Kösters Vermarktungsstrategie zu werden. Niemand zwingt „Meedia“, für Kösters Auftritt bei „Stern-TV“ zu trommeln. Gaby Köster hat „Welt Online“ nicht dazu verpflichtet, in einer sechsteiligen Bildergalerie und über einem halben Dutzend Artikeln (inklusive Klickstrecke: „Die besten Überlebensmittel: US-amerikanische Forscher haben in getrockneten Apfelringen einen starken Cholesterinblocker gefunden“) über Kösters Rückkehr in die Öffentlichkeit zu berichten. So unvorstellbar das insbesondere für die meisten Online-Redaktionen zu sein scheint: Es gäbe die Möglichkeit, darüber nicht zu berichten.

Wenn die „Meedia“-Beigeschmackstesterin fragt:

„Wenn all das über lange Zeit als Privatsache geschützt wurde, warum soll nun plötzlich und quasi auf Knopfdruck alles wieder von öffentlichem Interesse sein?“

Lautet die Antwort: Weil sie, erstens, jetzt gerade gesund genug ist, das auszuhalten, und es, zweitens, ihre verdammte Entscheidung ist.

Der stellvertretende Chefredakteur von „Meedia“ fragt dann in den Kommentaren unter dem Beitrag noch:

gelten für Krankheiten andere Spielregeln der Berichterstattung? (…) Wann werden aus Personen öffentlichen Interesses wieder private Personen? Und wann werden sie wieder öffentlich? Wer legt das fest?

Er nennt das „offene Fragen“, dabei sind sie längst beantwortet — von Gerichten und vom Deutschen Presserat, der feststellt: „Körperliche und psychische Erkrankungen oder Schäden fallen grundsätzlich in die Geheimsphäre des Betroffenen.“ Das Wort „Geheimsphäre“ ist dabei kein Synonym für „Privatsphäre“, sondern ein noch stärker geschützter Bereich.

Aber selbst wenn die Journalisten von „Bild“, „Meedia“ & Co. das verstünden, würden sie es nicht akzeptieren.

Im „Focus Online“-Artikel sagt ein Medienethiker, der „Kommunikationsberuf“, den Köster als „TV-Unterhalterin“ ausübe, bringe „doch gewisse Pflichten mit sich“. In vielen Varianten heißt es dort, das Management hätte doch wenigstens kurz sagen können, dass Gaby Köster krank ist, aber lebt. Schon Anfang 2009 schrieb „Focus Online“, die Fans wollten doch „nur etwas mehr Gewissheit. Wird die Kabarettistin jemals wieder auf einer Bühne stehen?“ Diese „Gewissheit“ hätte sicher auch Gaby Köster gerne gehabt. Vor allem aber: Was für eine rührende Naivität, zu denken, die Medienbranche funktioniere so, dass man den Leuten von „Bild“ oder RTL einen kleinen Informationsbrocken hinwirft und die sich dann damit zufrieden geben und nicht weiter versuchen, Schnappschüsse von Frau Köster im Rollstuhl zu erhaschen.

Die ganze Infamie von „Meedia“ in einem Satz:

Und mancher wird sich fragen, ob die juristische Unterdrückung der Berichterstattung nicht vor allem dazu gedient haben könnte, die Ware Information in dieser Sache über einen langen Zeitraum künstlich zu verknappen, damit anschließend der Aufmerksamkeits- wie Vermarktungswert der Story umso größer ist.

Auf welchen Zeitraum mag sich Frau Lübbers beziehen? Meint sie, die Berichterstattung wurde unterdrückt, als Gaby Köster noch im Krankenhaus zwischen Leben und Tod war, um bestens gerüstet zu sein für den Fall, dass sie ein Buch schreiben will, für den Fall, dass sie überlebt? Oder während der Zeit, als sie daran arbeitete, in ein Leben zurückzufinden, in dem sie die überhaupt in der Lage sein würde, ein Buch zu schreiben?

Und selbst wenn es so wäre, dass die ganze Informationswarenverknappung nur dazu gedient hätte, den Vermarktungswert zu steigern — wäre das nicht legitim? Gaby Köster hat sich den Schlaganfall ja nicht ausgesucht, um ihrer Karriere eine originelle Wendung zu geben. Sie habe, sagt sie im „Stern“, in den vergangenen dreieinhalb Jahren, ihre „Rente verblasen“. Es ist völlig unklar, ob sie je wieder in ihrem Beruf als Komikerin oder Schauspielerin arbeiten kann. Kann man ihr es dann nicht gönnen, wenigstens das meiste aus diesem Buch herauszuholen?

„Die Blog-Konfrontation“

Bayern 2 hat am vergangenen Sonntag in der Rubrik „Zündfunk – Generator“ eine Sendung über das Verhältnis der Blogosphäre zu den klassischen Medien ausgestrahlt (in der ich auch mit ein paar Sätzen zu Wort komme). Es ist kein Stück mit bahnbrechenden neuen Einsichten, aber es ist keine schlechte Einführung in den merkwürdigen Konflikt (auch wenn es am Ende zu einer Werbesendung für Jakob Augstein und seinen „Freitag“ wird).

Und den legendären Eingangsdialog zwischen „Focus“-Herausgeber Helmut Markwort, dem „Ersten“ „Journalisten“ von Burda, und dem Demokratie- und Medienexperten Ulrich Hoeneß zum Thema „Artikel 5 Grundgesetz — das kann doch keiner wollen?!“ kann man gar nicht oft genug hören und ausstrahlen.

[audio:http://gffstream-7.vo.llnwd.net/e1/imperia/md/audio/podcast/import/2009_10/2009_10_09_14_58_17_podcastgeneratorblog_konfronta_a.mp3]

(Am schönsten ist ja, dass Helmut „ich als professioneller Journalist“ Markwort nur von der „üblichen journalistischen Sorgfaltspflicht“ spricht, die von Medien wie seiner Illustrierten und ihrem Online-Ableger eingehalten werde. Das schließt offenbar die Möglichkeit der Verleumdung sowie die Chance, das Gegenteil dessen zu veröffentlichen, was stimmt, ohne sich hinterher korrigieren zu müssen, nicht aus.

Ich hatte damals, als „Focus“ meldete, dass Ulla Schmidt unter keinen Umständen zum Wahlkampfteam von Frank-Walter Steinmeier gehören würde, was sich als nicht hunderprozentig treffend herausstellen sollte, dem Autor der Geschichte, Kayhan Özgenc, Leiter der „Focus“-Parlamentsredaktion, eine Mail geschrieben:

Sehr geehrter Herr Özgenc,

ich würde Ihnen gern eine Frage zu Ihrer Exklusivmeldung von vergangener Woche stellen, dass Ulla Schmidt „keinesfalls in Steinmeiers Wahlkampfteam nachrücken“ werde. Diese Information hatte sich ja noch vor Erscheinen des „Focus“ als falsch herausgestellt.

Nun habe ich im aktuellen „Focus“ nach irgendeinem Hinweis gesucht, einer Korrektur, vielleicht auch einem kleinen Hintergrundstück, warum der „Focus“ in diesem Fall so falsch lag. Ich habe aber nichts gefunden. Habe ich etwas übersehen? Oder glauben Sie nicht, dass ein Medium solche Fehler richtigstellen oder ihr Entstehen erklären sollte — auch als vertrauensbildende Maßnahme? Oder ist sowas dem „Focus“-Leser egal?

Ich möchte darüber gern in meinem Blog stefan-niggemeier.de/blog berichten und würde mich über eine Antwort freuen.

Ich habe keine Antwort bekommen. Vermutlich ist Özgenzc als Journalist einfach genau so professionell wie sein Chef.)

Geht sterben (9)

(Vielleicht machen Sie sich einfach den Spaß und denken beim Lesen dieses Eintrages daran, wie sehr die Verlage die vermeintliche „Kostenlos-Kultur“ im Internet verfluchen, und fragen sich, für welche der journalistischen Leistungen, die Ihnen gleich begegnen, Sie bereit wären, Geld zu bezahlen, und sei es noch so wenig.)

Seit einigen Tagen zündet das „Hamburger Abendblatt“ ein eindrucksvolles Wahl-Werbe-Feuerwerk für Ursula von der Leyen. Es meldet, dass die Familienministerin eine mögliche Schweinegrippeimpfung von den Krankenkassen bezahlen lassen will. Es berichtet (gleich zweimal), dass die Familienministerin mehr Unterstützung für alleinerziehende Eltern fordert. Es freut sich (gleich zweimal), dass die Familienministerin Hamburgs Familienpolitik für „vorbildlich“ hält. Es meldet, dass die Familienministerin kritisiert, dass die Dienstwagenaffäre von Ulla Schmidt dem Ansehen der Politik schade (was eine gewisse Ironie hat, wenn man nicht nur das „Abendblatt“ liest). Und es freut sich, dass die Familienministerin den Kampf gegen „den Schmutz“ im Internet verstärken will.

Der Wortwechsel zwischen den „Abendblatt“-Redakteuren Jochen Gaugele und Maike Röttger und der Ministerin über die Säuberung des Internets ist ein Dokument journalistischer Arbeitsverweigerung. Nicht nur, dass den Text offenbar vor der Veröffentlichung niemand mehr gelesen hat. Fast jede Frage ist in dem Bewusstsein formuliert, dass Fragesteller und Gefragte sich einig sind. Die „Abendblatt“-Leute legen ihr einen Ball nach dem anderen vors Tor, damit sie verwandeln kann. Sie behelligen sie mit keinem einzigen Argument der Gegner der Netzsperren, die sogar ein ehemaliger Bundesverfassungsrichter für verfassungswidrig hält. Sie fragen zum Beispiel auch nicht, ob die Anhänger der jungen „Piratenpartei“ ein legitimes Anliegen haben. Sie fragen, ob von der Leyen nicht die Sorge habe, dass auch Unions-Wähler sich davon angezogen fühlen können. (Antwort: überhaupt nicht.) Am Ende machen sie sich nicht einmal mehr die Mühe, eine echte Frage zu formulieren.

Die Piratenpartei hat den ehemaligen SPD-Politiker Jörg Tauss aufgenommen, der20wegen [sic] des Besitzes von Kinderpornografie angeklagt ist. Wie kommt Ihnen das vor?

Ja, wie mag Frau von der Leyen das wohl vorkommen, als politische Gegnerin von Tauss, wenn schon die „Abendblatt“-Leute es offenkundig total daneben finden. (Mal abgesehen davon, dass Tauss noch gar nicht angeklagt ist — vorher muss mindestens noch die Immunität des Bundestagsabgeordneten aufgehoben werden. Aber wen kümmern so lästige Details des Rechtsstaates, wenn wir von ekligen Kinderschändern und ihren Verteidigern reden?)

Noch bevor sie ihr Schmierenstück im eigenen Online-Auftritt veröffentlichten, reichten die „Abendblatt“-Leute es an die Nachrichtenagentur dpa weiter, die prompt daraus eine Meldung mit dem Titel „Von der Leyen will gegen rechte Inhalte vorgehen“ machte.

Diese Überschrift ist in jeder Hinsicht überraschend, denn Frau von der Leyen hatte gegenüber dem „Abendblatt“ nichts dergleichen gesagt. Die entscheidende Stelle lautet:

abendblatt.de: Sie argumentieren, Grundregeln unserer Gesellschaft müssten online wie offline gelten. Warum sperren Sie dann nicht auch Internetseiten, die Nazipropaganda verbreiten oder Gewalt gegen Frauen verherrlichen?

Von der Leyen: Mir geht es jetzt um den Kampf gegen die ungehinderte Verbreitung von Bildern vergewaltigter Kinder. Der Straftatbestand Kinderpornografie ist klar abgrenzbar.20Doch [sic] wir werden weiter Diskussionen führen, wie wir Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenwürde im Internet im richtigen Maß erhalten. Sonst droht das großar tige [sic] Internet ein rechtsfreier Chaosraum zu werden, in dem man hemmungslos mobben, beleidigen und betrügen kann. Wo die Würde eines anderen verletzt wird, endet die eigene Freiheit. Welche Schritte für den Schutz dieser Grenzen notwendig sind, ist Teil einer unverzichtbaren Debatte, um die die Gesellschaft nicht herumkommt.

Was Frau von der Leyen fordert, ist eine Debatte. Von „Nazipropaganda“ spricht allein das „Abendblatt“. Die dpa-Schlagzeile „Von der Leyen will gegen rechte Inhalte vorgehen“ ist durch das Interview nicht gedeckt. Sie ist nicht einmal durch die Agenturmeldung selbst gedeckt. An keiner Stelle nimmt der dpa-Text jenseits der Überschrift auch nur Bezug auf „rechte Inhalte“. Der erste Satz zum Beispiel lautet:

Nach der Sperrung kinderpornografischer Seiten will Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) gegen weitere rechtswidrige Inhalte im Internet vorgehen.

„Rechtswidrige“ — vielleicht. „Rechte“ — keine Rede.

Das ist schon ein außerordentlich grober Schnitzer für eine Nachrichtenagentur. Aber können wir bitte auch endlich über die unsägliche Praxis reden, dass es genügt, dass irgendein Medium eine E-Mail mit angeblichen Vorabinformationen an eine Nachrichtenagentur schickt, um sämtliche die wenigen verbliebenen Prüfmaßstäbe außer Kraft zu setzen?

Ich meine, ein Blatt wie „Die Aktuelle“, das sich nicht schämt, über einen Menschen auf seinen Titel zu schreiben, er habe sich „zum Sterben in die Berge“ zurückgezogen, ein Blatt, das, wenn es nicht auf Papier, sondern im Internet erschiene, Frau von der Leyen und ihren Freunden vom „Abendblatt“ sofort als Beweis für die Notwendigkeit einer Schmutz-Säuberung diente, ein solches Blatt teilt dpa mit, was es herausgefunden hat, und dpa bringt das dann unters Volk.

Anderes Beispiel: „Die Welt“ tut so, als habe sie exklusiven Zugriff auf eine EU-Studie über Arbeitszeiten, und dpa, Reuters, epd, AP verbreiten die einseitige „Welt“-Interpretation, ohne die zehn Minuten zu investieren, die es dauern würde, sich bei der Quelle selbst zu informieren und ein eigenes Bild zu verschaffen.

Und diese ungeprüften Agenturmeldungen werden dann wieder ungeprüft weiterverbreitet. Und nicht nur von all den Online-Medien, bei denen das automatisch passiert. Unter dem „Spiegel Online“-Artikel über die Arbeitszeiten-Studie stehen nicht weniger als drei Agenturkürzel. Der Mitarbeiter hat sich richtig Mühe gegeben, seinen Text aus mehreren Quellen zusammenzusetzen — Quellen, die alle auf derselben einseitigen Interpretation durch die „Welt“ beruhen. Den Weg zur Quelle suchte er nicht — so wenig wie seine Kollegen von „Focus Online“ und viele andere. Noch einmal: Er bräuchte dazu keine Kontakte nach Brüssel. Er braucht nur eine Suchmaschine und Englischkenntnisse und ein kleines bisschen Zeit und einen Widerwillen gegen unnötiges Abschreiben.

Aber zurück zur Internetgeschichte vom „Abendblatt“ und Frau von der Leyen. Obwohl einem Redakteur schon bei einer flüchtigen Prüfung auffallen müsste, dass die dpa-Überschrift nicht von der dpa-Meldung gedeckt ist, tauchte die grenzwertige Meldung mit der Falschüberschrift zum Beispiel bei „Focus Online“ auf.

Heute Nachmittag hatte die Agentur dann endlich ihre Hausaufgaben gemacht — vielleicht hat sich auch nur das Familienministerium selbst gemeldet, um auf den Irrtum hinzuweisen –, jedenfalls brachte dpa um 15:23 Uhr eine Art Korrektur mit dem Titel:

Ministerium: Von der Leyen nicht für mehr Internetsperren

Und damit kommen wir zum erwartbaren, vorläufigen Ende dieses Trauerspiels mit vielen Beteiligten. Denn die Leute von „Focus Online“ bringen zwar nun die neue richtige dpa-Meldung statt der alten falschen, aber weisen natürlich an keiner Stelle darauf hin, dass sie selbst mehrere Stunden lang das Gegenteil dessen behauptet hatten, was sie jetzt behaupten. Die alte Adresse (http://www.focus.de/…/familie-von-der-leyen-will-gegen-rechte-inhalte-vorgehen…) leitet einfach auf die neue um (http://www.focus.de/…/familie-ministerium-von-der-leyen-nicht-fuer-weitere-sperren…) Auch bei „Focus Online“ werden nicht einmal die elementarsten Regeln für einen transparenten Umgang mit Korrekturen eingehalten.

Darüber müssen wir endlich reden — über Mindeststandards beim Recherchieren und Korrigieren. Und dann können wir gerne über neue Bezahlmodelle reden. Die Leistung, die die beteiligten Medien am Sonntag wieder zeigten, ist selbst umsonst noch zu teuer.

(Kunstpause.)

Und während all diese vermeintlich professionellen Journalisten mit Nichtnachdenken und Nichtrecherchieren beschäftigt waren, hat der Rechtsanwalt Udo Vetter in seinem Lawblog diese fundierte Analyse der tatsächlichen Äußerungen von der Leyens veröffentlicht.

[via Spiegelfechter]

Amok twittern

„Focus Online“ hatte heute vormittag die Idee, seine Kurzmitteilungen auf Twitter zum Amoklauf unter einer Adresse zusammenzufassen, und legte dazu einen Benutzer namens „Amoklauf“ an. Da war aber was los im Twitterland. Der „Netzeitungs“-Twitterer erregte sich als erstes:

Wie pervers ist das denn? Focus Online twittert unter @amoklauf! Die schrecken ja vor nichts mehr zurück

Und legte später an den Focus-Online-Chefredakteur adressiert nach:

Schämt Euch!!!

Viele anderer Twitterer fanden das auch „pervers“ und machten das, was bei Twitter das Gegenstück zum zustimmenden Nicken ist: Sie wiederholten den Tweet der Netzeitung alle als Retweet. Vielleicht war die kleine Welle, die dadurch entstand groß genug — jedenfalls wurde der „Amoklauf“-Account wieder gelöscht.

Nun ist mir persönlich nicht ganz klar, was daran „pervers“ und ein Grund zum Schämen ist, einen eigenen Benutzernamen für die gesammelten Kurzmitteilungen zum Thema anzulegen. Es wirkt vielleicht etwas verzweifelt aufmerksamkeitsheischend, und in einem jungen Medium, dessen Benutzer einen nicht unerheblichen Teil ihrer Aufmerksamkeit darauf verwenden, zu diskutieren, ob hinter den angeblichen Accounts von Stefan Raab oder dem Dalai Lama die echten Menschen verbergen, mag so ein Name für eine Sekunde der Verstörung führen: Twittert da der echte Amokläufer? Oder gibt sich gar jemand anders als er aus und kokettiert mit der Tat? Aber beides war ja offenkundig nicht der Fall.

Ist es eigentlich auch pervers, dass Zeit.de sofort Anzeigen bei Google geschaltet hat, die eingeblendet werden, wenn man nach „Amoklauf“ oder „Winnenden“ sucht? Wäre es pervers, wenn sich ein Online-Medium die Adresse amoklauf.de gesichert und von dort aus in sein entsprechendes Ressort umgeleitet hätte? Und wie fiele das Urteil bei irakkrieg.de, weltwirtschaftskrise.de, kindsentfuehrung.de aus?

Am Inhalt der Kurzmitteilungen von „Focus Online“ scheint sich dagegen kein größerer Protest entzündet zu haben. Sie werden jetzt unter dem Benutzernamen FOCUSlive veröffentlicht, und sie lesen sich so:

FOCUS Online hat zwei Reporter nach Winnenden entsandt

FOCUS Online Team fliegt Heber A8.Polizeiwagen blockiert Auffahrt Richtung Muenchen Nähe Dorn

Nahe dornstadt

Offenbr verwirrende Lage in #Winnenden. FOCUS-Reporter fast am Ziel, um sich selbst ein Bild zu machen.

Hubschrauber kreist über Kreuz Wendlingen auf der A8

Großaufgebot der Polizei vor #Winnenden. FOCUS-Reporter passieren erste Straßenkontrolle

Bilanz des Irrsinns: Neun Schüler, drei Lehrerinnen, drei Passanten. Tot. Und der Täter. Tot. #winnenden

Mehrere Einsatzwagen schießen an FOCUS-Online-Reportern vorbei. #Amokläufer in #Wendlingen getötet. Drehen ab nach Wendlingen!

FOCUS-Online-Reporter unterwegs vom Tatort in #Wendlingen zum Tatort in nach #Winnenden. Erster Text entsteht im Auto.

Zum Anfang hatte FOCUSlive gefragt:

Ist es verwerflich über Amokläufe zu twittern? #amoklauf #winnenden #moral 2.0

Und falls das nicht ohnehin eine rhetorische Frage war, möchte ich antworten: So? Ja.

Man muss es nicht gleich „pervers“ nennen, aber es ist in jeder Hinsicht unangemessen. Es geht um Pietät, Prioritäten und Perspektive. Ich finde es falsch, angesichts des Unglücks so vieler Menschen über die eigene Anreise zu schreiben. Ich finde es falsch, in der Hektik dieser Berichterstattung noch über die Hektik dieser Berichterstattung zu berichten, auch wenn es nur zehn Sekunden dauert. Und ich finde es falsch, die Aufmerksamkeit vom Gegenstand der Berichterstattung auf den Berichterstatter zu lenken.

Guten Tag, liebe Leser, hier ist wieder Ihr Focus-Online-Live-Team. Wir haben eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Die schlechte: Es gibt zwei weitere Todesopfer. Die gute: Unsere Reporter sind auf dem Weg zum Tatort, der Verkehr läuft flüssig, und die Frisur sitzt.

Ich weiß schon, was jetzt das Gegenargument ist: „Focus Online“ berichtet das doch gar nicht auf seiner Nachrichtenseite, sondern nur auf Twitter. Und die Existenz von Twitter ist natürlich auch der Grund dafür, warum die Leute von „Focus Online“ diese Nichtigkeiten veröffentlichen: Weil sie es können. Weil es jetzt ein Medium dafür gibt.

Auf die Gefahr hin, mich anzuhören wie mein eigener Großvater: Ich möchte das nicht. Ich möchte nicht, dass die Reporter auf dem Weg zum Ort des Dramas denken, dies sei ein guter Zeitpunkt, schnell noch ihre persönlichen Befindlichkeiten zu veröffentlichen. Dieser Gebrauch von Twitter mischt für mich auf das Unangenehmste die Beiläufigkeit dieses Mediums mit der Bedeutung des Ereignisses.

Angesichts der Kurzatmigkeit, die solche Breaking News ohnehin schon bei den Medien auslösen, sind Journalisten, die ihre ADS auch noch auf Twitter ausleben und in den drei Sekunden, in denen keine neue Statusmeldung hereinkommt, gleich selbst eine herausschicken müssen, ungefähr das letzte, das wir brauchen.

Nachtrag, 18.50 Uhr. Breaking News:

(„@jochenjochen“ ist Focus-Online-Chefredakteur Jochen Wegner)

Nachtrag, 20.25 Uhr. Jochen Wegner antwortet in den Kommentaren:

FOCUS Online publiziert seit langem seine Nachrichten-Feeds bei Twitter. Obwohl auch viele unserer Redakteure twittern, haben wir mit dem Einsatz als Kommunikationsmittel der Redaktion lange gezögert – eben weil wir es nicht angemessen fanden, wie manche Kollegen das aktuelle Kantinenessen zu vermelden oder den Gemütszustand des CvD.

Heute haben wir uns entschlossen, neben den bestehenden einen neuen Account zu starten, um den Fortgang der Ereignisse dokumentieren zu können – und auch Details unserer Arbeit vor Ort. (Wir haben uns für @FOCUSlive entschieden, mehrere andere Accounts wurden eingerichtet und wieder gelöscht – darunter @amoklauf.)

Die in meinen Augen sehr harsche Kritik ist angekommen und wir werden in der Redaktion darüber diskutieren – Journalisten, die sich selbst und ihre Arbeit zum Gegenstand der Berichterstattung machen, wandeln auf einem schmalen Grat. Wir werden einen Weg finden, Twitter und andere soziale Netzwerke so zu nutzen, dass sie beidem gerecht werden – den Netzwerken selbst und den journalistischen Standards. Ironischerweise wurden wir bisher ebenso harsch dafür kritisiert, dass wir über Twitter nicht kommuniziert, sondern lediglich Links auf unsere Beiträge publiziert haben.

(Der oben zitierte Beitrag zur „Zahnbürste“ fiel definitiv in die Kategorie „Kantinenessen“, wir haben ihn gelöscht.)

Lesenswert zum Thema: