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stern.de: Anatomie einer Attrappe (3)

Der Braanchendienst „Meedia“ hat mit Chefredakteur Frank Thomsen über meine Kritik an stern.de gesprochen. Thomsens Kernaussage ist möglicherweise:

Eine News-Seite ist ein komplexes Gebilde aus verschiedensten Dingen, die auch gewürdigt werden von Usern.

Die Tatsache, dass stern.de systematisch Bildergalerien, Videos, aber auch Artikel vervielfältigt und umdatiert und so zum Beispiel auch eine vier Jahre alte Falsch-Meldung als aktuell ausgibt, hält Thomsen für „sehr tiefgehende Technik-Diskussionen und viel Klein-Klein“. Das Veröffentlichungsdatum eines Artikels für das Veröffentlichungsdatum eines Artikels zu halten, nennt er ein „Missverständnis“.

stern.de für Runden Tisch zu Kommentaren

Für meinen „FAS“-Artikel über Kommentare bei den großen Online-Medien habe ich mich auch über die Kommentar-Praxis bei stern.de erkundigt. Von den ausführlichen Antworten, die ich von Chefredakteur Frank Thomsen und der Community-Managerin Katarina Rathert (per E-Mail) bekam, konnte ich nur einen Bruchteil im Artikel verwerten. Aber zum Glück ist hier ja noch ein bisschen Platz.

Welche Themen laden besonders zum Kommentieren ein?

Rathert: „Die User melden sich besonders dann gern zu Wort, wenn sie persönlich betroffen sind oder wenn es um politische Diskussionen geht. Kommt beides zusammen, erleben wir regelmäßig Rekorde hinsichtlich der Zahl der Kommentare: zuletzt etwa beim Thema Rauchverbot in Restaurants, Steuerhinterziehung oder der Privatisierung der Bahn.“

Was sind das für Leute, die kommentieren?

Rathert: „Wir haben einen festen Stamm von Usern, die sich regelmäßig mit Kommentaren beteiligen. Insgesamt machen aber alle mit – vom studierten Experten bis zum Hartz-IV-Empfänger. Die große Mehrheit sind ganz normale Menschen, denen es Spaß macht, ihre Meinung mitteilen zu können.“

Wie wird bei stern.de moderiert?

Rathert: „Wir moderieren. Wir rügen auch, wenn es nötig ist. Und wir schalten ab, wenn es gar nicht anders geht. Alles nach dem Grundsatz: Mit und für den User, nicht gegen ihn. Alle User-Beiträge auf stern.de gehen ohne vorherige Kontrolle online. Nur so ermöglichen wir den Usern eine schnelle und direkte Diskussion. Für uns als Betreiber der Seite erhöht das die Notwendigkeit, zügig und aufmerksam zu lesen, denn selbstverständlich wollen wir weder Pöbeleien noch gar Gesetzesverstöße auf stern.de haben. Wird ein User ausfallend, löschen wir zunächst den Kommentar. Wiederholt er ihn, sperren wir seinen Account. Laufen ganze Diskussionen aus dem Ruder, rufen wir zur Mäßigung auf. Hilft das nicht, schalten wir die Kommentarfunktion ab. Das mussten wir zum Beispiel beim Brand des Hauses in Ludwigshafen tun. Hier hatten ein paar ausländerfeindliche Störer so viele Kommentare eingestellt, deren Inhalte mit dem Recht auf Meinungsäußerung nicht mehr gedeckt waren, dass eine vernünftige Debatte nicht mehr möglich war.“

Was sind die größten Probleme, die auftauchen?

Rathert: „Weniger als 5 Prozent der Kommentare machen Probleme. Das reicht von harmlosen Unsinnstexten über Beleidigungen bis zu rechtsradikalen oder menschenverachtenden Kommentaren. Wenn wir die User ermahnen, sind manche ganz überrascht oder fühlen sich ehrlich missverstanden – der Reiz, mal deftiger seine Meinung zu sagen als von Angesicht zu Angesicht, wirkt auf manche User verführerisch. Andere löschen wir.“

Thomsen: „Wir möchten gern daran festhalten, dass die Kommentare bei uns zu jeder Zeit geöffnet sind. Kommentare ermöglichen den direkten Kontakt zwischen User und Redakteur. Unsere kritische Berichterstattung über pornografische und rechtsradikale Inhalte bei SchülerVZ etwa ging auf einen Leserkommentar zurück, dem wir nachgegangen sind. Außerdem dienen die Kommentare auch der Anregung: Themen, die besonders bewegen, greifen wir verstärkt auf.

Bislang gelingt es uns ganz gut, die Meinungsrandalierer im Griff zu behalten. Aber wir diskutieren intern sehr ernsthaft, ob wir zum Beispiel das Anmeldeverfahren so ändern müssen, dass sich jeder mit seinem echten Namen an den Kommentaren beteiligen muss. Das würde vielleicht die Rüpel abhalten, denen stern.de keine Plattform geben will.

Nach der Phase der fast kindlichen Euphorie darüber, dass user generated content so einfach zu bekommen ist, müssen wir Medien nun dringend in die nächste Phase eintreten: User herzlich willkommen — aber nur die, die sich an die Mindestregeln von Communities halten. Ich rege einen runden Tisch der publizistischen Sites an, um nach einem Weg zu suchen, wie wir Rechtsradikale und Beleidiger nach Möglichkeit komplett von unseren Seiten fernhalten. Zum Wohle der 95-%-Mehrheit unter unseren Usern, die sich mit Verstand und Freude an den Kommentaren beteiligen.“

„Ums Kaufen geht es nicht“

Ich habe — in Nachklapp zu meiner Kritik an „Stern-Shortlist“ — stern.de-Chef Frank Thomsen ein paar Fragen gestellt:

  • Spricht es wirklich für die Entertainment-Kompetenz des „Stern“, dass die Rezensionen auf den Seiten nicht vom „Stern“, sondern von Amazon kommen?
  • Wäre es nicht fair (und im Sinne einer Trennung von redaktionellen und werblichen Inhalten auch rechtlich notwendig), den Absender dieser Rezensionen zu kennzeichnen? Wäre es vorstellbar, im „Stern“ Rezensionen abzudrucken, die für Hugendubel oder Thalia angefertigt wurden, ohne dies kenntlich zu machen?
  • Stimmt es, dass eine Erweiterung in Richtung Klingeltöne geplant ist, und ist Ihr Partner dann Jamba?

Seine Antworten lauten wie folgt:

  • Amazon-Rezensionen: Sie sind eine Handreichung für User, die sich überlegen, eines der Angebote zu erwerben, die man auf stern-shortlist findet. Sie sind aber für das, was stern-shortlist ausmacht, nicht weiter wichtig. Das Angebot soll eine unterhaltsame Community werden für alle die, die Spaß haben und sich auskennen bei Film, Musik, Büchern, Games.
  • Nennung der Herkunft: Eine gute Idee! Nehme ich mit in unsere nächste Redaktionssitzung von stern-shortlist.
  • stern-shortlist wird erweitert werden, das stimmt. Klingeltöne sind eine Option, vorrangig aber sind Songs. Wir werden auch hier die Option zum Kauf anbieten, mit wem, steht noch nicht fest. Und auch hier gilt: Mit wem, ist auch gar nicht wichtig, denn ums Kaufen geht es nicht – es ist nur der aus unserer Sicht sinnvolle Service, wenn jemand kaufen will.

Thomsen bemängelt auch „einige leider gravierende Fehler“ in meinem Blog-Eintrag, die er wie folgt korrigieren möchte:

  • stern-shortlist ist ein werbefinanziertes Angebot. Erfolg und Misserfolg werden sich daran entscheiden, ob eine ausreichende Zahl von Menschen Spaß an dem Angebot findet — und ob die Werbewirtschaft es bucht. Provisionserlöse werden allenfalls 5 Prozent des Umsatzes ausmachen.
  • Man kann Listeneinträge natürlich kommentieren (Ihr Beispiel Fernsehserien, Star geboren). Jeder User kann kleine Kommentare zu seinen Listeneinträgen schreiben, die dann als Mouse-over zu lesen sind.
  • Und: Die Listen sind nicht so angelegt, dass man nur käufliche Produkte eintragen kann. Das Gegenteil ist richtig: Man kann sowohl Käufliches als auch Nicht-Käufliches eingeben, wie man ja auch reichlich auf der Seite sieht. Der Grund: Es ist uns letztlich egal, ob jemand was kauft oder nicht.

Mit Verlaub, alles in „Stern-Shortlist“ ist auf den Verkauf angelegt. Mag sein, dass die Provisionserlöse nur einen kleinen Anteil am Umsatz ausmachen werden (ich habe gar nichts Gegenteiliges behauptet), aber das gesamte Angebot ist darauf angelegt, dass Leute Dinge empfehlen, die man kaufen kann, was „Stern-Shortlist“ zu einem hochinteressanten Werbeumfeld macht (genau das habe ich behauptet).

Um zu erleben, in welchem Maß es bei „Stern-Shortlist“ um käuflich zu erwerbende Produkte geht, muss man nur einmal selbst eine Liste anlegen. Als erstes wählt man eine „Rubrik“ aus — aus neun Kategorien von Dingen, die man dann gleich kaufen kann (!), und einer namens „Mix“, die mutmaßlich dafür gedacht ist, zum Beispiel Bücher und Musik mischen zu können.

Im nächsten Schritt ist es nicht möglich, einfach einen Listenpunkt einzugeben. Man muss, bevor man weitermachen kann, auf „Suche“ klicken…

…und die Suche wirft einem dann käuflich zu erwerbende Produkte zum Suchbegriff aus:

Erst wenn man unten das hellgraue Feld, in dem man eigentlich, wenn man „nicht zufrieden“ ist mit den Suchergebnissen, Dinge wie „Titel, Quelle, Bezugsmöglichkeiten etc.“ eingeben soll, zweckentfremdet und hier nochmal den eigenen Begriff wiederholt, taucht er in der Liste auf. Und das System dankt es einem, indem es den neuen Listeneintrag in die Kategorie „unbekannte Produktart“ packt.

(Und wie man kleine Kommentare zu seinen Listeneinträgen schreiben kann, so dass sie per Mouse-Over sichtbar werden, weiß ich nicht. Sonst aber anscheinend auch keiner. Ich habe keine Redaktionsliste gefunden, die diese Möglichkeit nutzt. Nachtrag: Doch, es gibt sie.)

Wer Internet-Fundstücke groß rausbringt

Es war, sagt stern.de-Chefredakteur Frank Thomsen, „für stern.de der größte Scoop der letzten Zeit“: das „Motherfucker“-Bundeswehr-Video. Dabei war die Recherche eher unspektakulär. Der Film war seit Monaten auf myvideo zu sehen, und dann gab irgendwer stern.de einen Tipp.

Auch Thomsen scheint an dem Scoop eine andere Leistung von stern.de interessanter zu finden, als die Recherche — die Verbreitung. Gegenüber medienhandbuch.de sagt er:

Etwas online stellen, heißt noch lange nicht, dass es gefunden wird. Dieses Video stand seit Januar bei myvideo. Jeder hat es sehen können. Dadurch, dass man alles sehen kann, sieht man nichts. Das Internet ist wie ein riesiger Brei, in dem man nichts mehr findet. Journalistische Marken wie der Stern dagegen werden viel stärker wahrgenommen.

Das ist sicher nicht ganz falsch. Und über stern.de ist das Thema ja zweifellos zu einer großen Mediengeschichte geworden. Aber für das Aufspüren und Bekanntmachen von interessanten Klümpchen im Internet-Brei gibt es längst Marken, die mindestens so gut funktionieren.

Thomsen sagt stolz, die stern.de-Artikel zum Thema hätten „bisher ca. 200.000 Zugriffe“ gehabt. Zum Vergleich: Als die schlichte, politisch etwas weniger brisante Galerie von bizarren Kloschüsseln aus dem Job- und Karriereblog von Marcus Tandler auf der Startseite von digg.com auftauchte, zählte er nach eigenen Angaben über 120.000 Besucher in 14 Stunden. Auch heute, fünf Wochen später, ist sein Blog noch weit vorne in den einschlägigen Charts.

Ich will stern.de den Erfolg gar nicht madig machen, aber ich glaube, die großen Medienmarken sollten sich nicht darauf verlassen, dass wir sie auch in Zukunft als Wegweiser, Trüffelschwein, Suchscheinwerfer, Verstärker oder Lupe brauchen. Wir brauchen sie, um die Sachen herauszufinden, zu bewerten und ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, die nicht einfach im Internet herumliegen und nur auf ihre Entdeckung warten.