Schlagwort: Frank-Walter Steinmeier

Der „Tagesspiegel“ und die „wahre Wirklichkeit“ stehen für Bundespräsidentin Merkel

Bisher ist alles, was mit Angela Merkel zu tun hat, historisch. Sie ist, zum Beispiel, die „Rekordkanzlerin“. Keiner war länger Bundeskanzlerin als sie. Gut, Konrad Adenauer und Helmut Kohl waren länger im Amt. Aber die waren ja nicht Kanzlerin, sondern bloß Kanzler. Kanzlerin war keiner länger als sie. Schon vom ersten Tag im Amt war sie die Kanzlerin mit der längsten Amtszeit in der Bundesrepublik. Das muss ihr erst mal jemand nachmachen! (Beziehungsweise: hätte ihr erst einmal jemand vormachen müssen.)

Nun sagen Sie nicht voreilig, das sei ja wohl der größte Unfug. Das ist nur einer von vielen Unfugen, die Stephan-Andreas Casdorff, der Chefredakteur des „Tagesspiegel“, am Wochenende online und am Montag leicht verändert Form auf Zeitungspapier veröffentlicht hat, und den größten davon auszuwählen, ist gar nicht so einfach.

Casdorff hat sich von den Spekulationen inspirieren lassen, die angeblich das politische Berlin umtreiben: Was passiert, falls Joachim Gauck nicht für eine zweite Amtszeit als Bundespräsident kandidiert? Bis zur Wahl sind es nur noch zwei Jahre, und da ist es fast schon zu spät, Namen voreilig in die Diskussion zu werfen. „Spiegel Online“ berichtete vor einer Woche, dass der Name Frank-Walter Steinmeier bei der „Nachfolgedebatte in den Parteien und politischen Zirkeln Berlins“ „immer häufiger genannt“ werde.

Allerdings verpassten die Kollegen von „Spiegel Online“ – untypischerweise – die Gelegenheit, die Meldung maximal aufzusexen und sich vorzustellen, ob nicht auch Merkel 2017 Bundespräsidentin werden wollen würde. Das tat stattdessen der „Tagesspiegel“, und dessen Chefredakteur Casdorff nahm seine Leser deshalb mit auf eine faszinierende Reise durch seinen Kopf, den er extra vorher nicht aufgeräumt hatte. „Das klingt …“, begann er,

Ja, das klingt erst einmal weit entfernt: Bundespräsidentin Merkel. Und tatsächlich steht es auch nicht gleich morgen an, wenn je. Aber es steht die wahre Wirklichkeit dafür.

Es ist keine der anderen vielen Wirklichkeiten, in denen sich dieser „Tagesspiegel“-Chefredakteur so bewegt, die dafür steht, dass Angela Merkel – nicht morgen, vielleicht nie – Bundespräsidentin wird, sondern die wahre. Und wie tut sie das?

Irgendwann ist die Amtszeit eines jeden Regierungschefs zu Ende.

Tatsache. Irgendwann wird Merkel nicht mehr Kanzlerin sein. Das ist die wahre Wirklichkeit, und insofern steht die auch dafür ein, dass Merkel dann irgendetwas anderes sein wird; warum also nicht Bundespräsidentin?

Selbst die [Amtszeit] von Helmut Kohl war es mal [nämlich: zuende], obwohl eine ganze Generation dachte, er werde ewig Kanzler sein. So ist es auch bei seiner, sagen wir frei nach Willy Brandt, Politik-„Enkelin“ Angela Merkel. Gerade Kohl kann ihr ein Vorbild sein; in der Ausübung der Macht ist er es ja schon, obzwar unausgesprochen.

Obzwar „obzwar“ nichts anderes bedeutet als „wenngleich“, wertet so ein Wort einen Kommentar natürlich ungemein auf! Und lenkt womöglich davon ab, dass die Logik schon an dieser Stelle Casdorffs Kommentar fluchtartig verlassen hat. Denn wenn Kohl Merkel ein Vorbild wäre, würde sie ja gerade nicht davon ausgehen, dass ihre Amtszeit endlich ist und entsprechend einen selbstbestimmten Abgang planen, sondern sich immer weiter an das Amt klammern, obzwar erfolglos.

Keiner konnte sich seiner Konkurrenten so entledigen wie der Alt- und Rekordkanzler. Keine kann es wie die Rekordkanzlerin – die sie jetzt schon ist, als erste ihrer Art. Und das soll keine Verlockung sein: der erste selbstgewählte Abgang?

Nun: Für Kohl, den sie sich zwei Sätze zuvor noch als Vorbild nehmen sollte, war das gerade keine Verlockung, jedenfalls keine so große wie die minimale Chance, noch vier weitere Jahre im Amt zu bleiben. Aber dafür war Merkel ja auch, anders als Kohl, schon immer Rekordkanzlerin.

Natürlich ist es keine Schande, vom Souverän, vom Volk abgewählt zu werden. Etwas, das nach aller Wahrscheinlichkeitsrechnung ja dann doch irgendwann passiert. Diesen Zeitpunkt selbst zu gestalten, nicht zu erleiden, das wäre neu. Das wäre: historisch. So wie bisher alles, was mit Merkel zu tun hat. Die erste Kanzlerin ist sie schon, die erste Bundespräsidentin könnte sie werden, den Umstieg schaffen, was Konrad Adenauer nicht gelang, ihre Nachfolge regeln überdies.

Bisher alles, was mit Merkel zu tun hat, ist historisch, sagt Casdorff. Weil sie die erste Kanzlerin ist. Weil das historisch ist, ist vermutlich alles, was mit ihr zu tun hat, historisch. (Lustigerweise wäre es nach dieser Logik auch historisch, wenn sie nicht die erste Bundespräsidentin wird, denn das hat vor ihr auch noch keine Kanzlerin geschafft.)

Klar ist, dass Merkel nach ihrer Amtszeit als Bundeskanzlerin natürlich auch privatisieren kann.

Klar. Und das wäre, wie gesagt, auch historisch.

Sie hat vielfältige Interessen, die nicht im Geschäftlichen liegen.

Welche auch immer das sein mögen.

Das ist anders als bei ihrem Vorgänger, der hart daran arbeitet, dass man bald seinen Namen nicht mehr ohne Vorbehalte nennen mag, obwohl er sich wegen der Reformen um Deutschland verdient gemacht hat.

Ach guck: Der Schröder hat sich nur deshalb so blöd mit dem Putin eingelassen, weil er keine anderen Hobbys hat, mit denen er seine Tage füllen könnte?

Wegen ihres untadeligen Rufs ist Merkel für die CDU allerdings auch so viel mehr wert als der Ex-Kanzler für die SPD. Dieses Kapital muss nutzbar bleiben. Wie besser denn als Bundespräsidentin?

Ähm, vielleicht als Bundeskanzlerin? Solange ihr Ruf im Volk noch, wie war das, „untadelig“ ist?

Das klingt… Weit entfernt? Genau betrachtet nicht. Merkel regiert schon präsidial, im Präsidialamt könnte das sogar noch ausgeprägter werden und eine Kräfteverschiebung zur Folge haben. „Die Kanzler in der Ära Merkel“ hieße es dann, nicht umgekehrt. Und die CDU könnte mit ihrer Strahlkraft sogar auch noch das Amt des Ersten der Exekutive halten.

Nun geht’s aber im Galopp. Wenn Merkel also als Bundeskanzlerin schon so bundespräsidentinnenhaft agiert, könnte sie als Bundespräsidentin ja noch bundespräsidentinnenhafter agieren, sagt Casdorff, wobei: Er sagt „regieren“, was streng genommen gar nicht das ist, was ein Bundespräsident tut. Eigentlich meint er also (womöglich), dass sie als Bundespräsidentin vergleichsweise bundeskanzlerinnenhaft agieren könnte. Jedenfalls fände das Volk es dann so toll, dass Merkel bundeskanzlerinnenhafte und superbundespräsidentinnenhafte Bundespräsidentin ist, dass sie dann auch jemanden von der Union zum Kanzler wählen würden. Wegen der Strahlkraft.

Das muss nicht Ursula von der Leyen sein, wie es schon heißt, der Regierungschef kann dann auch immer noch Thomas de Maizière heißen. Er würde dann in etwa so arbeiten wie als Kanzleramtsminister, vor allem administrativ also.

Also, kurz nochmal rekapituliert: Wenn Gauck nicht noch einmal antritt und wenn Merkel 2017 sich zur Wahl als Bundespräsidentin stellt und wenn sie gewählt wird und wenn Thomas de Maizière als Kanzlerkandidat der Union aufgestellt wird und wenn er eine Mehrheit bekommt – dann könnte er in etwa so arbeiten wie als Kanzleramtsminister, falls die Merkel als Bundespräsidentin das präsidiale Regieren übernähme.

Die SPD müsste, um diese strategische Entwicklung nicht zuzulassen, logischerweise den Beliebtesten aus ihren Reihen aufstellen und für eine Mehrheit in der Bundesversammlung kämpfen: Frank-Walter Steinmeier. Und weil alles mit allem zusammenhängt, müsste sie im Blick darauf ihre Koalitionsoptionen für Regierungen in den Ländern erweitern.

Natürlich würde die SPD das nicht tun, um einfach in möglichst vielen Ländern an der Regierung beteiligt zu sein, sondern um einer potentiellen (und historischen!) Bundespräsidentinnenkandidatin Angela Merkel eine Mehrheit in der Bundesversammlung entgegensetzen zu können.

Verzwickt ist das für die SPD deshalb, weil es das Bündnis Rot-Rot-Grün ins Zentrum der Überlegungen rückt; das will in der Partei, überhaupt in den drei Parteien, beileibe nicht jeder. Und Steinmeier zählt bekanntermaßen zu denen.

Ja, blöd. Steinmeier verhindert sich also quasi selbst als Bundespräsidenten. Und nun?

Sigmar Gabriel, der SPD-Parteichef, könnte von einem Kandidaten Steinmeier, wohlgemerkt Präsidentenkandidaten, nur profitieren. Dann stünde der nicht mehr als Kanzlerkandidat zur Verfügung (was Steinmeier vom Naturell her sowieso nicht so liegt wie das andere), und ein etwaiger Sieg würde umgekehrt die Chancen der SPD erhöhen, der ewigen Merkel in der Regierung zu entrinnen.

Hilfe! Wenn Steinmeier als Präsidentenkandidat antritt (weil er sich aufgrund von rot-rot-grünen Landeskoalitionen, die er nicht will, Chancen ausrechnet), kann Gabriel auch einfacher Kanzler werden? Weil Steinmeier ja entweder Bundespräsident ist oder nicht? Und Merkel ja entweder Bundespräsidentin ist oder nicht? Womöglich will der „Tagesspiegel“-Chefredakteur sagen, dass die Chance Gabriels, Kanzler zu werden, darin besteht, dass alle anderen außer ihm entweder erfolgreich oder erfolglos als Bundespräsident kandidieren, vielleicht habe ich das aber ganz falsch verstanden.

Das Ende seines Textes ist jedenfalls keine Hilfe:

Weit entfernt: Manchmal müssen wie in der Physik bei einem Experiment die Kräfte so weit wie möglich berechnet werden. Dennoch kann dabei etwas ganz anderes herauskommen. Möglich ist auch so eine Art politische Relativitätstheorie. Wenn keiner ein Experiment will, dann kann Joachim Gauck ja auch Bundespräsident bleiben.

Welches Experiment? Was hat Einstein damit zu tun? Verwechselt Casdorff vielleicht die Chaos- mit der Relativitätstheorie? Ist sein Text der Schmetterling, der mit seinem Flügelschlag einen Wirbelsturm im Schloss Bellevue auslöst? Und: Würde man diesen Artikel relativ blöd nennen? Oder bewegen wir uns hier in historischen Dimensionen?

Steinmeier beklagt „erstaunliche Homogenität“ und „Konformitätsdruck“ in Medien

Frank-Walter Steinmeier hat auf den Lead-Awards gestern in Hamburg eine Rede über den Zustand des Journalismus in Deutschland und die Glaubwürdigkeitskrise deutscher Medien gehalten, die ich für außerordentlich hellsichtig halte. Der deutsche Außenminister sagte:

(…) Medienbashing ist in diesen Tagen zu einer Art Trendsportart geworden. Wer über verlogene, korrupte oder gemeine Journalisten schimpft, verkauft viele Bücher. Wenn dagegen ein Korrespondent in Krisengebieten falsch recherchiert oder ein Kommentator eine unpopuläre These zuspitzt, kann er sich auf Beschimpfungen und Verschwörungstheorien in den sozialen Medien gefasst machen. (…)

Was sind die Ursachen der Glaubwürdigkeitskrise? Die einfachste Erklärung wäre: Der Leser ist schuld, der ist halt dumm und frech. Der kapiert nicht, wie gut die Zeitungen sind. Aber mit dem Leser ist es wie mit dem Wähler. Man kann sich über ihn ärgern, aber man sollte ihn nicht ignorieren und am besten sehr ernst nehmen.

Die zweite Möglichkeit: Die Umstände sind schuld. Das wäre in diesem Fall mal wieder das Internet. Es hat der Individualisierung unserer Gesellschaft einen zusätzlichen Schub gegeben. Engagierte Leser finden im Netz persönliche Informationskanäle, und sie können selbst Informationen und Meinungen produzieren, ohne Redaktion und Druckerpresse, einfach zu Hause per Computer und W-Lan. Damit hätte das Internet das Entstehen einer „fünften Gewalt“ begünstigt: des Publikums. (…) Die Leser schauen der vierten Gewalt der Medien bei der Arbeit über die Schulter und klopfen ihr manchmal feste auf die Finger.

Es gibt aber auch eine dritte mögliche Ursache für das Misstrauen: Vielleicht waren sich die Journalisten einfach ihres Deutungsmonopols zu sicher. Vielleicht haben sie ihr Herrschaftswissen zu lange vor sich her getragen und nicht gemerkt, welche neue Form von Öffentlichkeit das Internet entstehen ließ. Vielleicht aber auch haben die täglichen Abrechnungen mit dummen, ignoranten Politikern in den Zeitungen das Interesse der Leser an Politik beeinflusst — und am politischen Journalismus. (…)

Vielfalt ist einer der Schlüssel für die Akzeptanz von Medien. Die Leser müssen das Gefühl haben, dass sie nicht einer einzelnen Meinung ausgesetzt sind. Reicht die Vielfalt in Deutschland aus? Wenn ich morgens manchmal durch den Pressespiegel meines Hauses blättere, habe ich das Gefühl: Der Meinungskorridor war schon mal breiter. Es gibt eine erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen, wenn sie Informationen gewichten und einordnen. Der Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten scheint mir ziemlich hoch.

Das Meinungsspektrum draußen im Lande ist oft erheblich breiter. Wie viele Redakteure wollen Steuersenkungen, Auslandseinsätze, Sanktionen? Und wie viele Leser? Journalisten müssen nicht dem Leser nach dem Munde schreiben, genauso wenig, wie wir Politiker nur auf Umfragen starren sollten. Aber Politiker und Journalisten gleichermaßen sollten die Bedürfnisse ihrer Leser und Wähler nicht dauerhaft außer Acht lassen. (…)

Die „FAZ“ dokumentiert die Rede heute in ihrer gedruckten Ausgabe und im E-Paper.

Nachtrag, 15:30 Uhr. Die vollständige Rede kann man jetzt auch auf der Seite des Auswärtigen Amts nachlesen.

Bürger fragen, Steinmeier fragt zurück


Foto: RTL

Ich war heute Nachmittag bei der Aufzeichnung der RTL-Bürgersprechstunde mit Frank-Walter Steinmeier und habe mich davon noch nicht wieder erholt. Zum Glück waren wir Presseleute (überwiegend bemitleidenswerte Agenturkollegen, nehme ich an) in einem abgedunkelten Nebenraum untergebracht, so dass ich während der Sendung meinen Kopf in den Händen vergraben konnte, was nicht nur half, das Elend nicht mitansehen zu müssen, sondern auch verhinderte, dass er mit einem lauten TOCK auf die Tischplatte knallte.

Hintergrund und Thema des ersten Fragers hätte Steinmeier mühelos vorher erraten können: Es war ein Mitarbeiter von Hertie, der nun, nachdem die letzten Kaufhäuser geschlossen wurden, arbeitslos wird und wissen wollte, warum die Bundesregierung für seinen Arbeitgeber nicht gekämpft habe wie für Opel und Arcandor. Steinmeier beantwortete die Frage nicht. Stattdessen stellte er fest, dass so eine Insolvenz und Arbeitslosigkeit ja eine Zäsur sei. „Ich selbst komme an vielen Kaufhäusern von Hertie vorbei“, sagt er, „in denen es jetzt dunkel sein wird.“ Er bescheinigte dem Mann, dass er als langjähriger Verkäufer sicher „gut und freundlich mit Kunden umgehen“ könne, was ja eine schöne Qualifikation sei, und Leute mit Erfahrung würden ja immer gebraucht. „Rücken Sie den Mitarbeitern von der Arbeitsagentur richtig auf die Pelle; sagen Sie denen, ich kann was, ich will was, ich will arbeiten, so schnell wie möglich, und ich bin mir sicher, da geht auch noch was“, fügte er hinzu und riet dem Mann: „Nicht den Kopf hängen lassen, immer wieder nach vorne schauen!“

Anstatt die schlichte Frage zu beantworten, versuchte sich Steinmeier an einer Instant-Lebensanalyse des Hertie-Mannes. Er fragte ihn, ob er verheiratet sei und Familie habe („Wenn man Kinder hat, ist die Verantwortung noch größer“), erkundigte sich nach seiner „Belastungssituation“ („Belastungssituation?“, fragte der Verkäufer verständnislos zurück), wollte wissen, welches Finanzierungsinstitut für seinen Hauskredit zuständig sei. Ich bin mir fast sicher, dass er sich noch nach Haustieren, Sternzeichen, vererbbaren Krankheiten in der Familie und der Farbe des Läufers im Flur erkundigt hätte, wenn die Moderatoren nicht das Thema gewechselt hätten.

Als nächstes kam eine Frau an die Reihe, die nach irgendeinem geisteswissenschaftlichen Studium gerne in die PR gegangen wäre, aber nicht aus der endlosen Schleife von Praktika herauskommt. Sie wollte von Steinmeier wissen, wie er die versprochenen 500.000 Arbeitsplätze in der Kreativindustrie schaffen wollte. Aber irgendein schlechter Berater muss dem Kanzlerkandidaten eingeimpft haben, dass es in dieser Show darum gehe, sich um Einzelschicksale zu kümmern — dabei wären die Betroffenen schon glücklich gewesen, wenn Steinmeier einfach nur ihre Fragen beantwortet hätte. Mit vereinten Kräften mussten die Moderatoren und die Frau selbst Steinmeier davon abbringen, darauf zu bestehen, dass sie einen Bewerbungsaufruf in die Kamera spricht, um so einen Arbeitgeber zu finden. (Die 500.000 Arbeitsplätze in der Kreativindustrie entstehen übrigens, wenn ich es richtig verstanden habe, durch ein verbessertes Urheberrecht und höhere Rentenansprüche für Künstler.)

Ein „Internet-Frager“, wie RTL das nannte, stellte Steinmeier die berechtigte Frage, ob er keine Angst habe, dass sein Versprechen von den vier Millionen Arbeitsplätzen ins Buch der Geschichte eingehen werde — gleich neben die „blühenden Landschaften“ von Helmut Kohl. Steinmeier antwortete, man könne sowas natürlich immer karikieren, aber: „Ich finde, wir müssen uns selbst ein bisschen ernst nehmen.“ Ja, wenn es schon kein anderer tut.

Wenn die Moderatoren Maria Gresz und Peter Kloeppel versuchten, Steinmeiers Monologe zu unterbrechen und ihn mit konkreten Fragen konfrontierten, redete der Außenminister einfach weiter, was im Fernsehen nicht so richtig gut wirkt. In der Nicht-Antwort auf die Frage eines Unternehmers, warum die Regierung den Mittelstand nicht so fördere wie die Großunternehmen, brachte Steinmeier die Formulierung unter: „Wenn Sie meine Rede gehört haben, die ich hier kürzlich bei der Karl-Schiller-Stiftung gehalten habe…“

Vermeintliche Erfolge verkaufte Steinmeier mit der Formulierung: „Auch das ham wir einigermaßen hingekriegt.“ Ansonsten sprach er sich entschieden dafür aus, gute Dinge zu erreichen: Altenhelferinnen besser behandeln, Verantwortung für die Soldaten in Afghanistan übernehmen, was für die Bildung tun.

Ich kann mich nur an einen einzigen Grund erinnern, den er nannte, warum man ausgerechnet seine Partei wählen sollte: Weil die Union Steuersenkungen verspricht, die sie eh nicht umsetzen kann. Wirtschaftsminister Guttenberg wolle sogar die Mehrwertsteuer erhöhen, warnte Steinmeier. Irgendwie glaube ich nicht, dass es viele Menschen gibt, die dumm genug sind, noch einmal die SPD zu wählen, weil sie verspricht, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen.

Können wir nicht folgenden Deal machen? Wir einigen uns darauf, dass Union und FDP die Wahl gewinnen und lassen dafür die noch ausstehenden sechs Wochen Wahlkampfelend ausfallen. Irgendwie habe ich nach dem heutigen Nachmittag das Gefühl, dass sogar Frank-Walter „Wahlkampf macht Spaß“ Steinmeier dafür zu gewinnen wäre.

Ich würde schätzen, dass die Sendung heute Abend noch schlechtere Zuschauerzahlen hat als die erste Ausgabe mit Angela Merkel. Dass RTL diese Wahlkampfshows trotzdem macht, liegt vermutlich an einem Restgefühl von gesellschaftlicher Verantwortung als großer Fernsehsender. Das ist theoretisch lobenswert, führt aber praktisch in die Irre. Jede weitere Sendung wie diese erhöht die Politikverdrossenheit und schadet der Demokratie.

Nachtrag, 17. August. Die Quote war tatsächlich katastrophal.

Überraschung!

Um 13 Uhr lief über die Ticker die Nachricht, auf die alle gewartet hatten. Reuters meldete:

Steinmeier präsentiert Wahlkampfteam ohne Überraschungen

Die Überraschung war perfekt: Der SPD-Kanzlerkandidat hatte sich tatsächlich, wie erwartet, gegen Überraschungen entschieden. Seit Tagen hatten die Medien atemlos spekuliert, ob Steinmeiers Wahlkampfteam wohl Überraschungen enthalten könnte, denn das ist ja, wie alle wissen, das, wonach sich die Menschen in diesen Krisenzeiten wirklich sehnen. Begierig hatten sich die Journalisten auf überraschend vorab bekannt gewordene Details über geplante Überraschungen gestürzt und überrascht festgestellt, dass die Bekanntgabe geplanter Überraschungen Überraschungen ihren Überraschungscharakter nimmt.

Heute Mittag aber beendete Frank-Walter Steinmeier alle Spekulationen, und endlich konnten die Politprofis in den Medien sich der entscheidenden politischen Frage zuwenden, die mit der Vorstellung eines Wahlkampfteams verbunden ist, nämlich: ob es eine Überraschung war.

Zeichnen wir also den politischen Diskurs der vergangenen Tage noch einmal nach:

  • „Und was macht die Parteispitze? Sie stellt in dieser Woche ein Kandidatenteam vor. Darin finden sich die allseits bekannten Minister der Bundesregierung und – der Versuch einer Überraschung – ein paar bundesweit bislang weniger bekannte Sozialdemokratinnen.“
    — Süddeutsche Zeitung, 27. Juli
  • „Auftrieb erwarten die Wahlkampfberater um Steinmeier und SPD-Chef Franz Müntefering nun von der Präsentation eines Spitzenteams am Donnerstag. (…) Als sicher gilt, dass die bewährten SPD-Minister aus der großen Koalition allesamt mit dabei sein werden — auch die Gesundheitsministerin. Zugleich soll es aber neue Personen geben, Bekannte und auch Überraschungen.“
    — dpa, 28. Juli.
  • „Doch mit größeren Coups, die die Republik elektrisieren könnten, wird in Berlin nicht gerechnet. Als Überraschung gilt allenfalls das Engagement der bis dato weithin unbekannten 35-jährigen Manuela Schwesig, über das der „Spiegel“ vorab Kenntnis erlangte.“
    — Hamburger Abendblatt, 28. Juli.
  • „Die größte Überraschung dürfte Manuela Schwesig, Sozialministerin aus Mecklenburg-Vorpommern, sein.“
    — Rheinische Post, 28. Juli
  • „Es wäre eine riesengroße Überraschung, wenn SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag mit seinem Kompetenzteam auch eine prominente Persönlichkeiten aus der Welt jenseits der Politik als Wahlhelfer vorstellen würde.“
    — Tagesspiegel, 29. Juli.

  • „Frank-Walter Steinmeier zog gestern die logische Konsequenz: Die Gesundheitsministerin werde vorerst nicht zum Kompetenzteam der SPD gehören. Doch ob das als Befreiungsschlag reicht? Denn das Kompetenzteam, das der Außenminister heute offiziell vorstellen will, um neuen Schwung für den Wahlkampf zu entfachen, enthält wenig Überraschungen.“
    — Handelsblatt, 30. Juli.
  • „Größere Überraschungen erwartet dabei niemand mehr: Mit Ausnahme der 35-jährigen Manuela Schwesig setzen die SPD und ihr Kandidat offenbar auf bekannte Kräfte.“
    — Mannheimer Morgen, 30. Juli.
  • „Einzige positive Überraschung in der Mannschaft ist die Schweriner Sozialministerin Manuela Schwesig.“
    — Frankfurter Rundschau, 30. Juli.
  • „Bei der Besetzung seines Kompetenzteams für den Wahlkampf hält SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier einige Überraschungen bereit.“
    — B.Z., 30. Juli.
  • „Eine Überraschung hat Steinmeier im Bereich Kulturpolitik zur Hand: Auch Christina Rau, Witwe des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau, soll im SPD-Team sein.“
    — Hamburger Abendblatt, 30. Juli.
  • „Steinmeiers Schattenkabinett: Bekannte Gesichter, wenig Überraschungen.“
    — Spiegel Online, 30. Juli.
  • „Es ist ein grundsolides Team geworden. Ohne Ecken und Kanten, ausgewogen, was die Geschlechter angeht, die Parteiflügel und die wichtigen Landesverbände. Aber eben auch ein Team, das nicht gerade regelmäßig in den Glamour-Gazetten auftauchen dürfte und keinerlei wirkliche Überraschung bietet.“
    — Spiegel Online, 30. Juli.
  • „Ansonsten bot die bunte Truppe, die sich am Seeufer gutgelaunt zum Foto-Termin präsentierte, wenig Überraschendes. Dass Deutschlands jüngste Ministerin, Mecklenburg-Vorpommerns Sozial-Ressortchefin Manuela Schwesig (35) zumindest optisch der Star sein würde, war bereits am vergangenen Freitag durchgesickert.“
    — Bild.de, 30. Juli.
  • „Eine Überraschung ist sicher auch Nominierung von Harald Christ.“
    — Zeit Online, 30. Juli.
  • „Namhafte Überraschungen blieben aus. Steinmeier präsentierte in seinem Team auch einen Multimillionär, den Jungunternehmer und Vermögensverwalter Harald Christ.“
    — Reuters, 30. Juli, 15:55 Uhr.
  • „Der selbstständige Finanzinvestor und ehemalige Banker Harald Christ ist die größte Überraschung im SPD-Kompetenzteam, das Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier auf der Potsdamer Halbinsel Hermannswerder am Donnerstag vorstellt.“
    — Stuttgarter Nachrichten, 30. Juli.

  • „Große Überraschungen blieben aus.“
    — dpa, 30. Juli, 16:02 Uhr.
  • „Der ganz große Überraschungscoup blieb bei der Präsentation des SPD-Wahlkampfteams aus.“
    — dpa, 30. Juli, 16:31 Uhr.
  • „Der Kanzlerkandidat überrascht mit seinem Team durch unbekannte Namen. Prominente Überraschungen gibt es nicht. Vor allem zwei Gesichter sind es, die niemand auf der Liste hatte und Neugier wecken: Unternehmer Harald Christ, der sich um Mittelstandspolitik kümmern soll, und Landwirt Udo Folgart, dessen Kompetenz die Agrarpolitik ist.“
    — n-tv.de, 30. Juli.

  • „Acht Wochen vor der Bundestagswahl hat SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier sein ‚Schattenkabinett‘ vorgestellt. Viele Frauen und ein Multimillionär sind dabei – aber keine Überraschungen.“
    — Deutsche Welle, 30. Juli.
  • „Doch größere Coups, die die Republik elektrisieren könnten, gab es nicht. Als Überraschung gilt nur das Engagement der weithin unbekannten Manuela Schwesig.“
    — Westfälische Rundschau, 30. Juli.
  • „Viele Namen dieses Wahlkampfteams kennt man. Andere muss man sich nicht merken. Große Überraschungen hat es nicht gegeben.“
    — Westfalen-Blatt, 31. Juli.
  • „Steinmeier bläst zum Angriff – mit einem Kompetenzteam, das alles andere als eine Überraschung ist – sieht man mal von dem Multimillionär aus dem Arbeitermilieu ab.“
    — Express, 31. Juli.

Was bleibt also als Fazit über dieses Schattenkabinett? Abgesehen von den Überraschungen war es nicht überraschend. Und natürlich:

Steinmeier beruft Karin Evers-Meyer. Bundestagsabgeordnete: Das hat mich völlig überrascht.