Ein Politiker auf Wahlkampftour trifft auf der Straße eine potentielle Wählerin, die ihm kritische Fragen stellt, und weil die Presse dabei ist, setzt er sein entspanntestes Lächeln auf, bedankt sich vielmals für ihre Anmerkungen, verabschiedet sich jovial und herzlich, als würde er am liebsten noch einen Tee mit ihr trinken wollen, wenn nur die Zeit nicht so drängen würde, und setzt sich dann in seine Limousine, beschwert sich über die blöde Kuh und will wissen, welcher Idiot von seinen Mitarbeitern schuld ist, dass er mit ihr reden musste.
Ich wette, das passiert ununterbrochen. Und ich wette, die meisten anderen Menschen machen sich da ähnlich wenig Illusionen wie ich. Insofern ist es völlig banal, dass der britische Premierminister Gordon Brown heute genau dabei ertappt wurde, weil er vergessen hatte, dass er noch ein Mikrofon trug. (Mal abgesehen davon, dass es womöglich wichtigere Kriterien für die eigene Wahlentscheidung geben sollte als so ein Versehen, aber so sind die Medien, die sich jetzt auf die Sache stürzen wie ein ausgehungerter Tiger auf ein filetiertes Kaninchen — und ich fürchte: die Menschen sind auch so.)
Ich bin mir auch sicher, genau die Gordon-Brown-Szene schon einmal gesehen zu haben: In der BBC-Comedy-Serie „The Thick of It“, die im Stil einer (fiktiven) Dokumentation genau diesen Aspekt von Politik zeigt: Den krassen Kontrast zwischen der Fassade und der Wahrheit dahinter; die mühsamen Versuche, gerade dann, wenn sich gerade alles zerbröselt, der Öffentlichkeit heile Kulissen vorzuführen. (Die erste Staffel von „The Thick of It“ finde ich grandios und kann sie sehr empfehlen — obwohl ich wenig Leute gefunden habe, die die Aneinanderreihung unfassbar peinlicher Situationen aushalten können oder wollen. Die weiteren Staffeln waren mir dann aber auch zu krass.)
Doch obwohl es mir so bekannt vorkommt und so sehr der Vorstellung entspricht, die man eh hat vom Alltag von Politikern (und anderen Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen), ist es tatsächlich aufregend, das nun einmal erleben zu können — nicht lebensecht nachempfunden, sondern in echt zu hören und zu sehen. Vielleicht macht gerade das die Sache noch schockierender: Dass die Realität so exakt mit der Fiktion und der Vorstellung übereinstimmt.
Wort für Wort kann man hören oder nachlesen, was Gordon Brown über die Frau gesagt hat, die ihm erzählte, dass sie ihr ganzes Leben lang Labour gewählt habe und sich heute schäme, Labour-Anhängerin zu sein, und ihn im Zusammenhang mit Leuten, die sie auf deutsch womöglich „Sozialschmarotzer“ nennen würde, fragte, woher eigentlich diese ganzen Ausländer aus Osteuropa kämen, die plötzlich ins Land strömten. Nachdem Gordon Brown, freundlich lächelnd und sich bedankend, ins Auto gestiegen war, sagte er also:
That was a disaster. Should never have put me with that woman. Whose idea was that? (…) She’s just this sort of bigoted woman who said she used to be a Labour voter… Ridiculous.
Eine „Katastrophe“ sei das gewesen, sagte Brown, und nannte die Frau — ja, was?
- „bigott“, schreibt dpa.
- „eine Fanatikerin“, schreibt DAPD.
- „kleinkariert“, schreibt AFP.
- „borniert“, schreibt Reuters
- „verbohrt“, schreibt dpa später.
Je nachdem, auf welcher Agenturmeldung die Nachricht beruht, werden die deutschen Leser sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Art der „Beleidigung“ haben, die Gordon Brown aussprach (und für die er sich inzwischen vielfach entschuldigt hat).
Es gibt offenbar größere Meinungsunterschiede, wie das Wort „bigoted“ zu übersetzen ist — wobei ich die AFP-Version „kleinkariert“ am abwegigsten finde, weil es nicht nur „engstirnig“, sondern auch „übergenau“ bedeutet, was hier überhaupt keinen Sinn ergibt. „Kleingeistig“ würde es eher treffen. Aber auch die Wahl des deutschen Dienstes der britischen Agentur Reuters, die es wissen müsste, finde ich merkwürdig: Mit „borniert“ verbinde ich eher jemanden, der stur, überheblich, eingebildet ist.
Am treffendsten erscheint mir die einfachste Übersetzung: bigott. Das Wort bedeutet (im Deutschen wie im Englischen) ursprünglich „scheinheilig“ im Sinne eines religiösen Eiferers, ist aber zum Synonym für „heuchlerisch“, „verlogen“ geworden — was treffend erscheint, wenn Brown den Kontrast zwischen der Beteuerung lebenslanger Labour-Treue mit ihrer Ablehnung der konkreten Politik und insbesondere von Einwanderern bezeichnen will.
In der politischen Diskussion in den letzten Wahlkampftagen in Großbritannien wird die genaue Exegese aber kaum eine Rolle spielen. Da reicht der bloße Eindruck, dass der Premierminister irgendetwas gesagt hat, das er nicht hätte sagen dürfen.
Nachtrag, 29. April.