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Die Mär vom Ostblock beim Grand-Prix (4)

Auch wenn es diesmal schwer ist, das schlechte Abschneiden von Ländern wie Deutschland oder Großbritannien beim Eurovision Song Contest auf den bösen Osten zu schieben: Die Mär vom Ostblock, von benachbarten und befreundeten Ländern, die sich unabhängig von der Qualität der Beiträge gegenseitig die Punkte zuschanzen, ist nicht tot zu kriegen.

Ich habe deshalb, wie im vergangenen Jahr, einmal errechnet, wie der Wettbewerb ausgegangen wäre, wenn man die osteuropäischen und westasiatischen Punkte aus der Wertung nimmt. Das Ergebnis ist verblüffend. Tatsächlich hätte es Russland dann nicht geschafft, sondern wäre nur auf Platz 5 gelandet. Aber stattdessen gewonnen hätte …

… Armenien!

(Und Deutschland läge — ohne Punkte aus Bulgarien — ganz allein auf dem letzten Platz.)
 

Fiktiver Platz Land Punkte* Tatsächl. Platz
1 Armenien 103 4
2 Griechenland 103 3
3 Norwegen 94 5
4 Ukraine 92 2
5 Russland 88 1
6 Türkei 68 7
7 Island 62 14
8 Portugal 62 13
9 Serbien 60 6
10 Bosnien-Herzeg. 57 10
11 Lettland 54 11
12 Spanien 53 16
13 Dänemark 44 15
14 Israel 42 9
15 Schweden 38 18
16 Aserbaidschan 35 8
17 Rumänien 33 20
18 Frankreich 25 18
19 Georgien 23 11
20 Albanien 22 16
21 Finnland 22 22
22 Polen 14 24
23 Großbritannien 14 25
24 Kroatien 8 21
25 Deutschland 2 23
*) Die Punkte beruhen auf den Wertungen von Andorra, Belgien, Zypern, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Island, Irland, Israel, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Spanien, Schweden, Schweiz, Türkei, Großbritannien und San Marino.

Die These vom Ostblock beim Grand-Prix beruht auf einem doppelten Wahrnehmungsfehler.

Erstens verändern die tatsächlichen Sympathie- und Nachbarschaftspunkte kaum das Gesamtergebnis. Kroatien zum Beispiel hat gestern von seinen Nachbarn Slowenien und Bosnien-Herzegowina die meisten Punkte bekommen. Da es aber von ungefähr nirgends sonst Punkte gab, war das folgenlos.

Und zweitens gibt es eine psychologische Täuschung: Wenn es vermeintliche Freundschaftspunkte gibt, fällt es uns auf, aber nicht, wenn es sie nicht gibt. Norwegen bekam extrem viele Punkte von den Kollegen aus Schweden, Dänemark und Island. Ein klarer Beweis für skandinavischen Zusammenhalt? Eher nicht — Schweden zum Beispiel bekam aus Dänemark, Island und Norwegen deutlich weniger Punkte. Bei aller nachbarschaftlichen Sympathie bleibt es offenbar ein Votum für den jeweiligen Auftritt.

Wie sehr ein flüchtiger Blick auf die Punkte täuschen kann, zeigen die baltischen Länder. In diesem Jahr trugen sie erheblich zum russischen Sieg bei: alle drei gaben 12 Punkte. Klar, sagt Peter Urban dann, in allen drei Ländern leben sehr viele Russen. Das stimmt, ist aber nicht entscheidend. In den vergangenen Jahren waren Estland, Lettland und Litauen nämlich meistens extrem knauserig mit Punkten für den großen verhasssten Nachbarn. Nur 2006 gab es schon einmal ähnlich viele Punkte von den Balten für die Russen: Es war das Jahr, in dem ebenfalls Dima Bilan für Russland antrat. Die genaue Analyse lässt kaum einen Zweifel: Nicht die Nachbarschaft oder irgendein Gemauschel ist der Grund für die vielen Punkte in diesem Jahr, sondern die Tatsache, dass Bilan auch in den Nachbarländern Russlands ein Star ist. Aber natürlich ist es einfacher, vom westlichen Verliererplatz aus ahnungslos „Schiebung!“ zu rufen.

Übrigens hätte sich das Gesamtergebnis in diesem Jahr auch dann nicht wesentlich verändert, wenn nur die Länder, die es ins Finale geschafft hatten, dort stimmberechtigt gewesen wären — eine Variante, die auch immer mal wieder ins Gespräch gebracht wird.

Natürlich kann man jetzt wieder alle möglichen Änderungen der Spielregeln diskutieren, wie es Peter Urban schon in der Sendung andeutete. Einen legitimen Anlass dafür gibt es aber nicht. Vielleicht diskutieren wir dann lieber gleich die einzig ehrliche Regel, dass Deutschland unabhängig von der Qualität des Beitrages aus jedem Land mindestens sechs Punkte bekommen muss. Falls auch das nicht reicht, das Zuschauervotum in Deutschland anzuerkennen, lässt sich die Zahl in den Folgejahren ja bis auf zwölf erhöhen.

Lesetipp: Irving Wolther bei „Spiegel Online“ zum selben Thema

Grand-Prix-Finale: Das verdiente Debakel

Was für eine wunderbare Ironie: Dass nach all dem Gewese um das Freundschaftspunktgeschacher osteuropäischer Länder der deutsche Beitrag nicht nur einfach keine Punkte von irgendwo bekommt, sondern auch noch dadurch gedemütigt wird, dass er zwölf Freundschaftspunkte aus Bulgarien bekommt, dem Heimatland von No-Angels-Sängerin Lucy. (Anderen Erklärungsversuchen für dieses Votum wie ein totaler Tonausfall im bulgarischen Fernsehens während des deutschen Auftritts fehlt schon deshalb die Plausibilität, weil es sich, wenn, um einen Ton- und Bild-Ausfall hätte handeln müssen. Auch der deutsche Kommentator Peter Urban war von einer spontanen patriotischen Blind- und Taubheit geschlagen, als er bis zuletzt von einem gelungenen und guten Auftritt der No Angels sprach.)


Es sah, um es kurz zu machen, furchtbar aus und hörte sich furchtbar an. Und nun ist der Einwand zwar berechtigt, dass es gestern genügend andere Kandidaten gab, die auch furchtbar aussahen und sich furchtbar anhörten, aber keiner war dabei so uninspiriert. Die No Angels schafften das Kunststück, mit ihren Kleidern gleizeitig nuttig und tantenhaft auszusehen. Vor allem aber war ihr Auftritt eine tödliche Kombination daraus, die Sache ernst zu nehmen, aber gleichzeitig völlig unambitioniert und leidenschaftslos zu wirken. Die Franzosen und Spanier können wenigstens sagen, sie hätten Spaß gehabt.



Jede Wette, dass als nächstes wieder die Diskussion kommt, ob „wir“ an dieser Veranstaltung überhaupt noch teilnehmen sollen. Und jede Wette, dass die Frage dann lauten wird, warum „wir“ von den anderen so schlecht behandelt werden, und nicht, warum „wir“ so schlecht darin sind, unter den bekannten Rahmenbedingungen Kandidaten zu finden, die wenigstens satisfaktionsfähig sind. (Oder wenigstens in Würde anzuerkennen, dass andere Länder bei diesem Wettbewerb besser sind, auch weil sie mehr zu gewinnen haben und ihn deshalb mit größerer Anstrengung und größerem Materialeinsatz bestreiten.)

Der Sieg Russlands gestern war auch ein Sieg der Materialschlacht. Man kann ihn sehr unsympathisch finden, diesen absoluten, teuren, kalkulierten Willen zum Sieg. Aber eigentlich kann man das den Russen nicht vorwerfen, dass sie seit Jahren versuchen, so viel in ihre Beiträge reinzupacken, sie so zu produzieren und in Szene zu setzen, dass ganz Europa gar nicht drum herum kommt, sie zu wählen.

Musikalische Relevanz hat das Finale des Eurovision Song Contest hierzulange schon seit Jahrzehnten nicht. Und wenn das Event schon musikalisch irrelevant ist, dann darf es gerne als Unterhaltungsspektakel funktionieren, als Windmaschinen- und Bühnentechnik-Showcase und Talentwettbewerb in der Disziplin rhythmisches Synchron-Singen-Tanzen-und-Umziehen.

Es war jedenfalls ein knallbunter und höchst unterhaltsamer Abend gestern — der nebenbei ungefähr alle Mythen der letzten Jahre entkräftete. Wer aus vierzig Ländern null Punkte bekommt, braucht zum Glück gar nicht erst darüber nachdenken, ob sein schlechtes Abschneiden mit irgendeiner Art von „Ostblock“ zu tun hat. Die Zersplitterung des Balkans mit der theoretischen Möglichkeit, die Veranstaltung auf Jahre abwechselnd in einem anderen Land Ex-Jugoslawiens stattfinden zu lassen, machte sich nicht in der Abstimmung bemerkbar. Und auch die unter anderem von BBC-Opa Terry Wogan (der den nichtssagenden britischen Beitrag selbst mit zu verantworten hat) vertretene These, als westeuropäisches Land könne man bei dem Grand-Prix nicht mehr vorne landen, wurde Lügen gestraft, vor allem durch das erstaunlich gute Abschneiden von Norwegen mit einer gänzlich unorientalischen und unbalkanesken Popnummer.

Und weil ich mich (dank der ein oder anderen Flasche Gutedel) an keine der 715 grandiosen Pointen erinnern kann, die mir gestern während der Sendung eingefallen sind, gibt es stattdessen ein Best-Of aus dem Coffee&TV-Liveblog von Lukas und seinen Kommentatoren:

GROSSBRITANNIEN
Sollte wie Hot Chocolate klingen, kickte aber wie heiße Milch mit Honig.

DEUTSCHLAND
Bei der Intonation von vier Sängerinnen zählt nun mal nicht das arithmetische Mittel.

Ohgott die No Angels sehen aus wie Folienkartoffeln in Dekoschleier gehüllt.

SCHWEDEN
Charlotte Perrelli für Schweden. Singt in ein diamantenbesetztes Dildo. (Heißt es der Dildo?) Und die Sängerin trägt die Lordi-Masken auf.

BOSNIEN-HERZEGOWINA
„Seltsam spannend und mutig“ ist auch ein interessanter Ausdruck für Scheiße.

Ich vermute fast, dass so ein Selbstfindungskurs, wie Bosnien-Herzegoniva es gerade zeigt, hierzulande von der Kasse bezuschusst wird.

ISRAEL
okay das war also bauer sucht song…

KROATIEN
der opa schimpft sicher über die laute musik und das früher noch ordentlich gesungen wurde und die hüftgelenke kosteten beim bäcker nur 30 groschen…

ISLAND
Dabei haben die dort so nette Ponys.

LETTLAND
Dschinghis Khan trifft Chipz!. Wo ist das Bermuda-Dreieck, wenn man es braucht?

GEORGIEN
ich will den georgiern ja nix böses unterstellen, aber das haben sie ihr doch auch nur angezogen weil sie konnten, oder?

RUSSLAND
Und was macht der Sänger da? Stellt er das Telefonbuch von Vladivostok als Ausdruckstanz dar?

PAUSENACT
Puh! Die No Angels waren doch nicht der schlechteste Show Act des Abends. Thank God for Überbrückungsmusik.

Metigel und Grillgut für Europa

Wer immer noch nicht genug hat, kann sich bei WDR 5 anhören, was Jan Feddersen und ich heute morgen in der Sendung „Funkhaus Wallraffplatz“ zum Thema Eurovision Song Contest gesagt haben [mp3]. Und für zoomer.de habe ich womöglich meine völlige Untauglichkeit als Grand-Prix-Prognostiker bewiesen (möchte aber vorsorglich darauf hinweisen, dass ich vor zwei Jahren den Sieg von Lordi vorhergesagt habe).

(Die nette Technikfrau im ARD-Hauptstadtstudio hat mich übrigens heute morgen ernsthaft gefragt, ob ich mich denn dann am Nachmittag nochmal hinlegen würde, was hoffentlich kein Kommentar zu meiner empfundenen Wachheit war. Als Kind jedenfalls war das tatsächlich Bedingung dafür, dass ich zweimal im Jahr (Silvester und Grand-Prix) bis Mitternacht aufbleiben durfte: dass ich mich am Mittag zuvor hinlege. Meine damaligen Versuche, mit wissenschaftlichen Argumenten das Konzept des Vorschlafens an sich kritisch zu hinterfragen, blieben fruchtlos.)

Ein Liveblog gibt’s hier heute abend nicht, aber nebenan bei Lukas und „Coffee & TV“. (Und wer’s muffeliger mag, wird vom Popkulturjunkie zuverlässig mit guter schlechter Laune versorgt.)

Wer möchte, kann sich natürlich auch hier in den Kommentaren mit, äh, Gleichgesinnten unterhalten — die Spalten sind, wie gewohnt, nach unten offen. SvenR hat seinen legendären Metigel schon kaltgestellt (nein, da fehlt kein „t“), Alberto Green wollte Grillgut besorgen, Micha sucht noch nach dem Käseigel, und die Herren Olly und Ommelbommel haben sich spontan bereit erklärt, hinterher aufzuräumen.

Ich wünsche einen schönen Grand-Prix-Abend und habe zur Einstimmung vier meiner All Time Favourites rausgesucht. Viel Vergnügen!

Grand-Prix-Wette 2008: Zwischenstand

Sensationelle 159 Mitspieler haben bis heute früh schon ihren Tipp für die Kleine Grand-Prix-Wette 2008 abgegeben, und nach deren kombiniertem Wissen müsste es heute abend so ausgehen:

1. Ukraine
2. Russland
3. Serbien
4. Kroatien
5. Türkei

Um die letzten Plätze prügeln sich nach diesem Zwischenstand Spanien, Großbritannien und Frankreich, und Deutschland landet auf Platz 14.

Aber bis heute Abend, ca. 23 Uhr, sind die Telefonleitungen noch geöffnet kann ja hier noch getippt werden. Einsendeschluss ist der Beginn der Punktevergabe während der Sendung. Zu gewinnen gibt es ein (auf Wunsch handsigniertes) Standardwerk und eine einmalige Trophäe mit integrierter Kaffeeaufbewahrungsfunktion (Abb. ähnlich).

Die kleine Grand-Prix-Wette 2008

Unzählige Anfragen (exakt: 1) haben mich erreicht, ob ich auch in diesem Jahr wieder das tolle Wettspiel zum Song Contest anbiete. Aber klar.

Die Spielregeln gehen diesmal so: Tippen Sie die ersten fünf Plätze und die letzten drei Plätze im Finale, und schätzen Sie außerdem, auf welchem Platz Deutschland landen wird. (Alle Teilnehmer im kommentierten Überblick finden Sie hier.)

Die Punktevergabe ist in guter Grand-Prix-Tradition unnötig kompliziert. Es gibt:

  • einen Punkt für die richtig getippte deutsche Platzierung
  • einen Punkt für jeden Top-5 getippten Titel, der unter die ersten 5 kommt
  • einen Punkt für jeden Flop-3 getippten Titel, der unter die letzten 3 kommt
  • zusätzlich einen Punkt für jeden exakt richtigen Tipp
  • sowie einen weiteren Bonus-Punkt für den richtig getippten Sieger

Einsendeschluss ist am Samstagabend zum Beginn der Punktevergabe.

Zu gewinnen gibt es auch diesmal vor allem das gute Gefühl, gewonnen zu haben. Außerdem könnte ich noch ein handsigniertes Exemplar des sehr empfehlenswerten Standardwerkes „Das Fernsehlexikon“ anbieten (und vielleicht treibe ich ja bis morgen noch einen zusätzlichen, etwas originelleren Preis auf, kann da aber nichts versprechen).

Viel Spaß beim Mitmachen!

(Die mit einem Stern markierten Felder müssen ausgefüllt werden.)

Grand-Prix: Dschinghis Khan lebt!

Oh, Nein!

Es ist …

… Kader Loth?!

Die Schweden haben es tatsächlich geschafft, jemanden zum Eurovision Song Contest zu schicken, der so nahbar, nett und natürlich aussieht wie Michael Jackson. Und wenn ich Pech habe, träume ich heute Nacht von diesem, äh, Gesicht.

Wenn ich Glück habe, ist es allerdings ein tonloser Traum und ich werde dazu nicht das Lied von Sängerin Charlotte Perrelli hören, das fast so plastikhaft ist wie sie selbst. Es ist angeblich einer der Favoriten — und hat sich vor ein paar Stunden immerhin schon mal fürs Finale qualifiziert.

Aber jenseits des Fachinteresses von Chirurgen und Plastinatoren haben ihr an diesem Abend andere die Show die Show gestohlen, im Guten wie im Schlechten. Da war der litauische Teilnehmer, der im Finale schmerzlich vermisst werden wird, weil an ihm einfach alles so ausnahmslos furchtbar und misslungen war: die Frisur, die Musik, die Lederhose, die Töne, die Atemluft, die Gürtelschnalle, alles. Sogar das Saalpublikum war so sehr damit beschäftigt, fassungslos den Mund offen zu haben, dass es sich nach Ende des Liedes nicht zu klatschen imstande sah. Erst als Sänger Jeronimas Milius dezent von der Bühne darauf hinwies, dass er fertig sei, löste sich die allgemeine Schockstarre ein wenig.

Die einzigen, die es an Unfassbarkeit mit Litauen aufnehmen konnten, war die tschechischen Frauengruppe, die, wie befürchtet, seit dem Vorentscheid weder ihre Hosen finden, noch eine Einigung über eine gemeinsame Tonart erzielen konnten.

Überhaupt war es ein Abend der schiefen Töne und der aberwitzigen Hintergrundakrobatik — und im Fall der Schweiz einer unglücklichen Kombination aus beidem. Aber man musste bei der eigentlich sehr anhörbaren Italopophymne schon Ohren und Augen zumachen, um auf einen Einzug ins Finale zu hoffen. Und zumindest der Choreograph, der die Idee hatte, die Backgroundsänger mit silberbemalten Händen Dehnungsübungen machen zu lassen, hätte dafür lebenslanges Arbeitsverbot verdient.

Keine Frage: Die Entwicklung der letzten Jahre vom Liederwettstreit zum Entertainmentwettbewerb hat sich fortgesetzt. Es geht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, darum, die größtmögliche Show zu machen, ein Drei-Minuten-Mini-Musical mit einem Gesamtpaket aus Akrobatik, Effekten und Gimmicks. Sie brachten Taschenlampen mit, Flaschen, Einpackpapier, Tücher, Wechselgarderobe, Messer, gelegentlich sogar Instrumente. Nichts ist zu albern, alles geht. Sie turnten, tanzten und posierten, was die Gelenke hergaben.


Aber es scheint nicht zu reichen, irgendeinen größtmöglichen Mumpitz zu veranstalten, wie die Bulgaren feststellen mussten, die sogar ihr DJ-Pult in Brand steckten — und trotzdem ausschieden.

Durchgesetzt haben sich überlebensgroße Inszenierungen wie die der Ukrainerin, die ihrer eher durchschnittlichen Kylie-Nummer eine sensationell schwüle Verpackung gab: Sie schubberte sich an einer Spiegelwand und holte offenbar paarungswillige Tänzer aus vier mannshohen Kisten, die sie später noch bestieg (die Kisten, nicht die Männer). Es war, wie so vieles, bizarr, hatte aber eine Energie, der man sich schwer entziehen konnte.

Auch das georgische Kalkül, mit einer blinden Sängerin ein plumpes Antikriegslied nach dem Motto „viel hilft viel“ zu inszenieren, ging auf.

Und sogar das portugiesische Über-Pathos kam an (wobei sich herausstellte, dass die Sängerin tatsächlich das Seitenverhältnis hat, das ich bislang auf eine falsche Komprimierung ihres Videos geschoben hatte).

Mein Favorit des Abends aber waren mit großem Abstand die kroatischen Straßenmusiker mit dem rappenden Opa, dem ältesten Grand-Prix-Teilnehmer aller Zeiten, einer ungewöhnlichen Nummer mit einem originellen aktionsreichen Auftritt auf der Bühne, der immer dann, wenn er fast peinlich werden konnte, doch zauberhaft blieb.

Geschafft haben es außerdem die Rocker aus der Türkei, die junge Schnulzensängerin aus Albanien und der 90er-Jahre-Eurotrash aus Island. Und als schwacher Trost für alle, die Dustin, dem irischen Truthahn, hinterhertrauern, qualifizierten sich unglaublicherweise die lettischen Piraten mit ihrer Cover-Version eines alten Klaus-und-Klaus-Hits fürs Finale. Sie hatten sich, wie viele andere, offenbar alte Bänder mit Aufnahmen von Dschinghis Khan zur Inspiration kommen lassen. Und die Oberpiratensängerin war (und das ist der andere Alptraum, der mich in Zukunft begleiten wird) mit einem so unfassbaren Riesenbusen bewaffnet, dass es nicht ganz abwegig schien, in ihrem Bikini zwei Atolle zu vermuten. (Entschuldigung.)

Wir aber verabschieden uns mit der Antwort von Ehrengast Lys Assia auf die Frage, wie es ihr vor Ort denn gefalle — Ja, das sei wunderbar hier in Serbien und Bulgarien, oder wie die Stadt noch heißt — und geben zurück in die angeschlossenen Funkhäuser.

Finale: Samstag, 21 Uhr, Das Erste
Alle Sendungen auch live und on demand auf eurovision.tv

Der große Grand-Prix-Führer 2008

Grand-Prix: Puterlos ins Finale

Vielleicht war es doch nicht die allerbeste Idee, einen Teddybär mit auf die Bühne zu bringen. Vielleicht hätten es mindestens zehn Teddybären sein müssen. Oder, noch besser: gar kein Teddybär. Europa ist noch nicht bereit für mittelalte Frauen, die mit Teddybär im Arm auf einer großen Bühne schöne jazzige Easy-Listening-Nummern singen. Das ist zwar schade, weil „Century Of Love“ von Geta Burlacu aus Moldau einer meiner persönlichen Favoriten war. Und weil sie, was bemerkenswert, aber vielleicht auch ein bisschen gewagt war, ganz alleine gesungen hat, ohne einen mehrstimmigen Background-Chor. Aber schon in der Sekunde, da ich den Teddybär sah, verließ mich mein bisschen Hoffnung.

Das erste Halbfinale ist gelaufen, und das erste prominente Opfer ist ein Truthahn. Dustin, die sehr angestrengt witzige Kinderfernsehpuppe aus Irland, hat es nicht ins Finale geschafft, was man durchaus als gutes schlechtes Zeichen für die anderen gewollt trashigen Kandidaten dieses Jahres sehen darf. Auch die Witztruppe aus Estland ist durchgefallen.

Geschafft hat es eine sehr, sehr bunte Mischung aus zehn Kandidaten: Das Spektrum reicht von den Hardrockern mit verstörenden Dschinghis-Khan-Anleihen aus Finnland über die Möchtegern-Mariah-Carey aus Norwegen bis hin zur „jemenitischen Nachtigall“ aus Israel, über die Kommentator Peter Urban sehr treffend sagte: „Ein großartiger Sänger, der ärmellos tragen darf — da zeigt sich, was Landarbeit bringen kann.“

Es war, bei allem, was man Schlechtes über den Eurovision Song Contest sagen kann (und das ist auch in diesem Jahr sehr viel) ein außerordentlich abwechslungsreicher Abend mit hohem Unterhaltungswert gewesen. Wen kümmert’s, dass es den meisten Liedern musikalisch entweder an Originalität oder Professionalität (oder beidem) mangelte, wenn sie mit soviel Willen zum Entertainment, so aberwitzigen Choreographien, so mutigen Kostümen und so hochtourigen Windmaschinen vorgetragen werden. (Übrigens müsste mal jemand nachschauen, ob an den Ventilatoren die Schalter abgebrochen sind: Sie durchwehten nicht nur fröhlich die dafür gemachten Frisuren der Frauen, sondern ließen auch schütteres estnisches Männerhaar zu Berge stehen und brachten die Mähnen der finnischen Rocker in eine interessante, aber nur halb gewollt aussehende Horizontale.)

Überhaupt ist das einer der absurdesten Vorwürfe gegen den Grand-Prix der letzten Jahre: dass es ja nur noch auf die abgefahrenste Show ankäme. Als sei der Versuch, das Publikum mit allen Mitteln zu unterhalten, irgendwie verwerflich.

Und im Zweifelsfall reicht es immer noch zu unfreiwilliger Komik, wie bei den Russen, deren Sänger barfuß auf der Bühne stand, während ein Eisläufer ihn umkreiste, was angesichts mancher schräger Töne nicht nur zu blutigen Fantasien meinerseits führte, sondern überhaupt merkwürdig aussah: Das Ersatzeis aus Plastik ließ den Sportler in unglücklicher Langsamkeit rumrumpeln.

Das große Drama, gerne musical- oder operettenhaft, kam beim abstimmenden Publikum an. Neben dem Duett von Popsängerin und Opernsänger aus Rumänien schaffte es auch Debütant Aserbaidschan auf Anhieb ins Finale. Die brachten tatsächlich ihre Engel- und Teufel-Nummer aus dem Video auf die Bühne, inklusive eines Komplettumzugs des Teufels von schwarz nach weiß (üblicherweise sind Garderobentricks beim Grand-Prix eher Sache der Frauen). Vorher übergoß der teuflische Sänger aber noch ein weibliches Wesen, das sich vor und unter ihm wand und räkelte, mit etwas, das sicher wie Blut aussehen sollte, aber vermutlich nicht einmal billiger Rotwein war:

Und auch das muss man sagen (und ist keineswegs typisch für diese Veranstaltung): Live singen konnten die meisten, die da heute um die Wette auftraten, manche Stimmen waren sogar richtig gut. Es half halt manchmal, die Augen zuzumachen. Im Radio zum Beispiel würde man Isis, die für Polen antrat, viel besser genießen, weil man nicht wüsste, dass sie während ihres Vortrags entweder Tai-Chi-Übungen macht oder versucht, mit den Fingerspitzen die entgegengesetzten Wände der Halle gleichzeitig zu berühren.

Die Bühne soll den Zusammenfluss von Donau und Save (und das Motto dieses Jahres „A confluence of sound“) darstellen — und macht, auch wenn man die Trilliarden LEDs und ihre Effekte aus dem „DSDS“-Studio kennt, richtig was her.

Das ist ja vielleicht das wirklich einzigartige an dieser Veranstaltung: Nicht so sehr die, äh, unterschiedliche Qualität der Musiktitel, sondern der Kontrast zur höchst aufwendigen und modernen technischen Präsentation.

Da sitzen dann auf der flimmernden, glitzernden, blinkenden Bühne vier strickende bosnische Bräute neben einer Wäscheleine, während zu einem merkwürdigen Stück Musik, das man wohlwollend „ambitioniert“ nennen könnte, eine Besessene vor ihnen Löcher in das Plexiglas zu tanzen versucht.

Der genauso, aber ganz anders merkwürdige belgische Beitrag hat es übrigens nicht geschafft. Ich würde die Schuld spontan bei den Kostümdesignern suchen…

…aber wahrscheinlicher ist, dass schon morgen wieder die absurde Diskussion um die Ostmafia oder Balkan-Connection beginnt. Denn obwohl die zwei Halbfinals kunstvoll so bestückt wurden, dass benachbarte Länder nach Möglichkeit getrennt wurden (Schweden und Norwegen ebenso wie zum Beispiel Kroatien und Bosnien-Herzegowina, Estland und Lettland, Weißrussland und Russland), schafften es aus Westeuropa nur Finnland und Norwegen ins Finale; Niederlande, Belgien, Irland, San Marino und Andorra blieben auf der Strecke.

Zu Recht, wie ich nicht nur mit Blick auf das Kleid von Gisela (Andorra) sagen möchte:

Sendetermine:
2. Halbfinale: Nacht auf Freitag, 0.45 Uhr, NDR-Fernsehen (Aufzeichnung)
Finale: Samstag, 21 Uhr, Das Erste

Alle Sendungen auch live und on demand auf eurovision.tv

Der große Grand-Prix-Führer 2008

Grundkurs Grand-Prix (1): Rückung

Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zu unserem kleinen Einführungskurs in die Grundlagen des Eurovision Song Contest. Im Publikum war die Frage aufgekommen, was eine Rückung ist. Nun, ohne Rückungen wäre der Grand-Prix nicht, was er ist, also machen wir das gleich zu unserem ersten Thema.

Eine Rückung ist ein Wechsel der Grundtonart in einem Musikstück. Im Gegensatz zur Modulation, bei der der Wechsel von der Ausgangs- zur Zieltonart über eine Folge mehrerer Akkorde erreicht wird, erfolgt der Wechsel bei der Rückung relativ übergangslos und unvermittelt.

In der Popmusik ist eine Rückung um einen Halb- oder Ganzton nach oben extrem häufig. Auf diese Weise entsteht der Eindruck einer Steigerung zum Beispiel trotz einer bloßen Wiederholung des Refrains.

Keine Sorge, an einem praktischen Beispiel wird das gleich viel klarer, und ich bin froh, dass Nicole eingewilligt hat, zum besseren Verständnis der Rückung ihr Lied „Ein bisschen Frieden“ noch einmal zu singen, mit dem sie 1982 den Eurovision Song Contest gewann. Es enthält die klassische Form der Rückung: vor einer Wiederholung des Refrains, kurz vor Schluss des Liedes, ohne jeden harmonischen Übergang. Achten Sie darauf — gegen Minute 2:40:

Das, meine Damen und Herren, war eine Rückung.

Nun ist die keine Erfindung des Eurovision Song Contest. Die meisten Schlager kommen nicht ohne Rückung aus, und zum Beispiel auch John Lennons „Woman“ verzichtet nicht auf den schlichten Effekt, der den Zuhörern quasi unter die Arme greift und ihnen die Illusion neuer Frische oder Dramatik gibt. Aber es ist schon auffällig, wie allgegenwärtig dieser musikalische Trick beim Grand-Prix ist, wie wenige Titel sich trauen, in ihren drei Minuten auf ihn zu verzichten. Der Siegertitel von 1981, „Making Your Mind Up“ von Bucks Fizz, ging auf Nummer sicher und baute gleich zwei Rückungen schon außergewöhnlich früh im Titel ein:

Erkannt? Ungefähr nach zwei und zweieinhalb Minuten passiert’s.

Aber es geht noch besser. Milk & Honey schafften 1979 in Israel einen Heimsieg mit „Hallelujah“ und wechselten nicht weniger als dreimal die Grundtonart:

Keine Frage: Die Rückung hat ein Imageproblem. Sie ist ein Klischee, gilt als billig. Dabei muss sie gar nicht abgegriffen sein. Der diesjährige Beitrag aus Moldau zeigt, wie sich der Tonartwechsel mit einem hübschen Break und an überraschender Stelle im Titel unterbringen lässt (2:00):

So. Und wenn Sie heute Abend das erste Halbfinale gucken, können Sie aus diesem Fachwissen ein lustiges Trinkspiel machen.

Belgrad Calling

Herr Heinser, Sie haben sich alle 43 Teilnehmer des Grand-Prix 2008 vollständig angehört. Wie würden Sie diese Erfahrung beschreiben?

Es war ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber eine große Herausforderung für einen einzelnen Menschen mit nur zwei Ohren.

In Belgrad wird schon seit Tagen geprobt, in Deutschland ist die Jagdsaison für Käseigel eröffnet und zwischen Baltikum und Kaukasus macht man sich bereit, sich die Punkte schneller zuzuschanzen, als man „Ostblockmafia“ sagen kann: Es ist Grand-Prix-Zeit!

Nach dem neuen Modus müssen sich alle Länder außer den vier großen Geldgebern (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien) und dem Vorjahressieger (Serbien) erst in einem von zwei Halbfinals für das Finale am Samstag qualifzieren. Im ersten Halbfinale am Dienstag dürfen auch die deutschen Fernsehzuschauer mitstimmen.

Wenn es einen neuen Trend gibt in diesem Jahr (neben dem weiteren Vormasch von dramatischen Balladen mit osteuropäischem Gefühl), dann ist es der zu gewolltem Trash (im Gegensatz zu dem unfreiwilligen, unvermeidlichen Trash, der seit Jahrzehnten elementarer Bestandteil des Grand-Prix ist). Die Masse des Feldes aber teilt sich ungefähr gleichmäßig auf in weniger oder weniger geglückte Versuche, internationale Poptrends zu kopieren, und eigenartige Kompositionen, die man nur beim Eurovision Song Contest zu hören bekommt, was ebenso für wie gegen die Veranstaltung spricht. Vom singenden Truthahn (Irland) über Dschinghis-Khan-Wiedergeburten (Lettland), einen Opernsänger (Rumänien), harte Rocker in Leder (Finnland) bis hin zur Hiphop-Reggae-Pop-Fusion (Bulgarien) ist gegen jeden Geschmack etwas dabei.

Lukas von Coffee & TV und ich haben uns auch dieses Jahr vorab durch die Videos der Teilnehmer gekämpft und versucht, die Spreu von der anderen Spreu zu trennen. Unseren großen Grand-Prix-Führer 2008 finden Sie hier (nicht erschrecken: mit Fotos!).

Beim britischen Buchmacher William Hill liegen aktuell übrigens Russland, Serbien, die Ukraine und Armenien vorne und Deutschland weit abgeschlagen im Mittelfeld, aber das muss nichts zu bedeuten haben.

Und hier ist ein erstes Votum der Jurys aus Bochum und Berlin:
 

Bochum Berlin
Titel, die man sich wirklich anhören kann Schweiz Serbien
Dänemark Moldau
Frankreich Kroatien
Favoriten Schweden Serbien
Polen Albanien
Kroatien Rumänien
So schlecht, dass es schon wieder gut ist Belgien Bulgarien
Andorra Schweden
Malta Malta
Nur schlecht Island Zypern
Lettland Lettland
Spanien Weißrussland

Sendetermine:
1. Halbfinale: Dienstag, 21 Uhr, NDR-Fernsehen
2. Halbfinale: Nacht auf Freitag, 0.45 Uhr, NDR-Fernsehen (Aufzeichnung)
Finale: Samstag, 21 Uhr, Das Erste

Die Videos aller Kandidaten kann man sich auf der offiziellen Seite eurovision.tv ansehen.

Die Mär vom Ostblock beim Grand-Prix (3)

Ich hör dann auch gleich wieder auf mit dem Thema, aber ich fand es dann doch ganz eindrucksvoll, was dabei herauskommt, wenn man aus dem Ergebnis des gestrigen Abends die bösen Stimmen des Ostens herausrechnet:

Na sowas, dann hätte nicht Serbien gewonnen, sondern, äh: Serbien. Und nicht vor der Ukraine, sondern vor der… na: Ukraine. Und Roger Cicero hätte einen glanzvollen 14. Platz eingefahren. Aber bestimmt hätten die Westeuropäer dann einen anderen Grund gefunden, warum sie nicht selbst Schuld sind an ihrem schlechten Abschneiden.

(via BILDblog)