Auch wenn es diesmal schwer ist, das schlechte Abschneiden von Ländern wie Deutschland oder Großbritannien beim Eurovision Song Contest auf den bösen Osten zu schieben: Die Mär vom Ostblock, von benachbarten und befreundeten Ländern, die sich unabhängig von der Qualität der Beiträge gegenseitig die Punkte zuschanzen, ist nicht tot zu kriegen.
Ich habe deshalb, wie im vergangenen Jahr, einmal errechnet, wie der Wettbewerb ausgegangen wäre, wenn man die osteuropäischen und westasiatischen Punkte aus der Wertung nimmt. Das Ergebnis ist verblüffend. Tatsächlich hätte es Russland dann nicht geschafft, sondern wäre nur auf Platz 5 gelandet. Aber stattdessen gewonnen hätte …
… Armenien!
(Und Deutschland läge — ohne Punkte aus Bulgarien — ganz allein auf dem letzten Platz.)
Fiktiver Platz | Land | Punkte* | Tatsächl. Platz |
1 | Armenien | 103 | 4 |
2 | Griechenland | 103 | 3 |
3 | Norwegen | 94 | 5 |
4 | Ukraine | 92 | 2 |
5 | Russland | 88 | 1 |
6 | Türkei | 68 | 7 |
7 | Island | 62 | 14 |
8 | Portugal | 62 | 13 |
9 | Serbien | 60 | 6 |
10 | Bosnien-Herzeg. | 57 | 10 |
11 | Lettland | 54 | 11 |
12 | Spanien | 53 | 16 |
13 | Dänemark | 44 | 15 |
14 | Israel | 42 | 9 |
15 | Schweden | 38 | 18 |
16 | Aserbaidschan | 35 | 8 |
17 | Rumänien | 33 | 20 |
18 | Frankreich | 25 | 18 |
19 | Georgien | 23 | 11 |
20 | Albanien | 22 | 16 |
21 | Finnland | 22 | 22 |
22 | Polen | 14 | 24 |
23 | Großbritannien | 14 | 25 |
24 | Kroatien | 8 | 21 |
25 | Deutschland | 2 | 23 |
*) Die Punkte beruhen auf den Wertungen von Andorra, Belgien, Zypern, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Island, Irland, Israel, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Spanien, Schweden, Schweiz, Türkei, Großbritannien und San Marino. |
Die These vom Ostblock beim Grand-Prix beruht auf einem doppelten Wahrnehmungsfehler.
Erstens verändern die tatsächlichen Sympathie- und Nachbarschaftspunkte kaum das Gesamtergebnis. Kroatien zum Beispiel hat gestern von seinen Nachbarn Slowenien und Bosnien-Herzegowina die meisten Punkte bekommen. Da es aber von ungefähr nirgends sonst Punkte gab, war das folgenlos.
Und zweitens gibt es eine psychologische Täuschung: Wenn es vermeintliche Freundschaftspunkte gibt, fällt es uns auf, aber nicht, wenn es sie nicht gibt. Norwegen bekam extrem viele Punkte von den Kollegen aus Schweden, Dänemark und Island. Ein klarer Beweis für skandinavischen Zusammenhalt? Eher nicht — Schweden zum Beispiel bekam aus Dänemark, Island und Norwegen deutlich weniger Punkte. Bei aller nachbarschaftlichen Sympathie bleibt es offenbar ein Votum für den jeweiligen Auftritt.
Wie sehr ein flüchtiger Blick auf die Punkte täuschen kann, zeigen die baltischen Länder. In diesem Jahr trugen sie erheblich zum russischen Sieg bei: alle drei gaben 12 Punkte. Klar, sagt Peter Urban dann, in allen drei Ländern leben sehr viele Russen. Das stimmt, ist aber nicht entscheidend. In den vergangenen Jahren waren Estland, Lettland und Litauen nämlich meistens extrem knauserig mit Punkten für den großen verhasssten Nachbarn. Nur 2006 gab es schon einmal ähnlich viele Punkte von den Balten für die Russen: Es war das Jahr, in dem ebenfalls Dima Bilan für Russland antrat. Die genaue Analyse lässt kaum einen Zweifel: Nicht die Nachbarschaft oder irgendein Gemauschel ist der Grund für die vielen Punkte in diesem Jahr, sondern die Tatsache, dass Bilan auch in den Nachbarländern Russlands ein Star ist. Aber natürlich ist es einfacher, vom westlichen Verliererplatz aus ahnungslos „Schiebung!“ zu rufen.
Übrigens hätte sich das Gesamtergebnis in diesem Jahr auch dann nicht wesentlich verändert, wenn nur die Länder, die es ins Finale geschafft hatten, dort stimmberechtigt gewesen wären — eine Variante, die auch immer mal wieder ins Gespräch gebracht wird.
Natürlich kann man jetzt wieder alle möglichen Änderungen der Spielregeln diskutieren, wie es Peter Urban schon in der Sendung andeutete. Einen legitimen Anlass dafür gibt es aber nicht. Vielleicht diskutieren wir dann lieber gleich die einzig ehrliche Regel, dass Deutschland unabhängig von der Qualität des Beitrages aus jedem Land mindestens sechs Punkte bekommen muss. Falls auch das nicht reicht, das Zuschauervotum in Deutschland anzuerkennen, lässt sich die Zahl in den Folgejahren ja bis auf zwölf erhöhen.
Lesetipp: Irving Wolther bei „Spiegel Online“ zum selben Thema