Schlagwort: Großbritannien

„Vote to Keep Britain Great“

Angelsächsische Journalisten, erklärt Roland Tichy, sähen sich anders als deutsche weniger als „Meinungslenker“ denn als „Nachrichten-Geber“. Nun, in der Praxis sah das in den letzten Tagen vor der heutigen Unterhauswahl auf den Titelseiten der britischen Tageszeitungen so aus:

Die gelegentlich immer noch als „seriös“ und „renommiert“ beschriebene „Times“ machte vor zwei Wochen mit einer Schlagzeile auf, wonach jede Familie, deren Mitglieder arbeiten, unter einer Labour-Regierung 1000 Pfund mehr Steuern zahlen müsse. Wenige Tage später musste sie das widerrufen: Die Rechnung beruhte auf der falschen Annahme, dass die Steuererhöhungen, die Labour plant, voll von solchen Familien getragen werden müssten. In Wahrheit treffen sie zum größten Teil nur die reichsten Familien oder nur Unternehmen. Die Korrektur ihrer Schlagzeile versteckte die „Times“ unauffällig im Inneren.

Der Chefredakteur des „Daily Telegraph“ schrieb heute eine Mail an seine Leser, in der er sie warnte, dass es sich um die wichtigste Unterhauswahl seit 1979 handele, und sie drängte, unbedingt die Konservative Partei zu wählen.

[Titelseiten via Tomorrowspaperstoday]

Das „britische Erdbeben“, der „Durchmarsch“ der UKIP – und die Realität

Bei „Spiegel Online“ sind sie ganz aufgeregt. Gut, das sind sie immer, aber sie sind es auch wegen der Ergebnisse der Kommunalwahlen in England. Ein „Erdbeben“ habe sich in Großbritannien ereignet, schnappatmet der Bericht; die britische Unabhängigkeitspartei Ukip feiere einen „Durchmarsch“ und „Sieg“.

Und tatsächlich sind das ja spektakuläre Ergebnisse:

Quasi aus dem Nichts hat die United Kingdom Independence Party weit über 100 Sitze geholt. Kein Wunder, dass die anderen Parteien schockiert sind.

Winziges Detail: Die BBC-Grafik da oben ist von 2013. Es waren die englischen Kommunalwahlen vor einem Jahr, bei denen die UKIP mit ihrem Erfolg die politische Landschaft in Großbritannien erschütterte. Bei den Wahlen in dieser Woche hat sie diesen Erfolg nur in Wahlkreisen, in denen damals nicht gewählt wurde, wiederholt.

Hochgerechnet auf ganz Großbritannien hätte UKIP nach BBC-Schätzungen bei den Wahlen in diesem Jahr 17 Prozent der Stimmen bekommen. Im vergangenen Jahr waren es 23 Prozent.

Das heißt, die Zustimmung für die Partei ist gegenüber dem Vorjahr sogar ein bisschen gesunken. Das Bemerkenswerte an den Ergebnissen dieser Woche ist nicht, dass die UKIP spektakulär Stimmen gewonnen hätte. Das Bemerkenswerte ist, dass sie diesen Erfolg beinahe wiederholt hat. Es ist keine Geschichte eines Durchbruchs, sondern der Beständigkeit.

Das macht sich in einer Google-Suche, als klickträchtige Überschrift und überhaupt: für ein Medium wie „Spiegel Online“, das seinen Lesen jeden Tag die aufregendsten Nachrichten verspricht, natürlich nicht so gut wie die Zeile: „Das britische Erdbeben“.

Und um die Sache noch spektakulärer zu machen, spricht „Spiegel Online“ sogar von einem „Durchmarsch“ der UKIP. Ein „Durchmarsch“, an dessen Ende die UKIP nach Sitzen in den Bezirken, in denen gewählt wurde, viertstärkste Partei ist, hinter Labour, Konservativen und Liberaldemokraten. Ein „Durchmarsch“, an dessen Ende die UKIP keine einzige Ratsmehrheit erobern konnte.

Wenn das Wort „Durchmarsch“ nicht bloß die Bedeutung hat: „Oh mein Gott, hier ist etwas passiert, das nach einem wahnsinnigen Erfolg aussieht“, dann war das in dieser Woche kein Durchmarsch der UKIP. Aber wenn die UKIP tatsächlich irgendwann einen „Durchmarsch“ schafft, dann wird „Spiegel Online“ schon einen entsprechenden neuen Begriff finden, der dann noch größer und durchmarschiger klingt.

Es ist ein Journalismus, dem es im Zweifel darum geht, das Adrenalin zu maximieren, nicht das Verständnis.

Wikipedia & der verschobene Tod in Venedig

Die Briten haben die viel bessere Wikipedia-Manipulations-Geschichte.

Premierminister Gordon Brown erzählte neulich eine Anekdote über den venezianischen Maler Tizian, der seine besten Werke im hohen Alter geschaffen habe und 90 Jahre alt geworden sei. Gestern piesakte ihn daraufhin der konservative Oppositionsführer David Cameron im Unterhaus, der Regierungschef kriege ja wohl wieder mal seine Fakten nicht auf die Reihe: Tizian sei schon mit 86 gestorben.

Zu diesem Zeitpunkt gab die englische Wikipedia allerdings Gordon Brown recht. Also machte sich ein Mitarbeiter in der Parteizentrale der Tories kurzerhand an dem Eintrag zu schaffen und ließ Tizian vier Jahre früher sterben. Er übersah allerdings, dass jemand anders, womöglich mit der gleichen Intention, schneller war und seinerseits schon das Geburtsjahr um fünf Jahre heraufgesetzt hatte, so dass Tizian laut Wikipedia nun nicht einmal mehr 86, sondern höchstens 82 Jahre alt geworden war.

Die Konservative Partei hat sich inzwischen entschuldigt und zugegeben, dass ein „übereifriger“ Mitarbeiter am Werk war. Die genauen Lebensdaten von Tizian sind unbekannt.