Schlagwort: Hamburger Abendblatt

Schweigen fürs Leistungsschutzrecht

Nachtrag, 14:40 Uhr. Okay, keine Glanzleistung, dieser Eintrag. Zwei wichtige Korrekturen unten.

Im Juni haben zwölf Verlage und die von ihnen gestützte Verwertungsgesellschaft VG Media Beschwerde beim Bundeskartellamt gegen Google eingelegt. Sie werfen dem Suchmaschinen-Unternehmen vor, im Zusammenhang mit dem neuen Presse-Leistungsschutzrecht seine Vormachtstellung am Markt zu missbrauchen.

Das Bundeskartellamt hat diese Beschwerde, wie die „Frankfurter Allgemeine“ berichtete und die Agenturen dpa, epd und Reuters meldeten, zurückgewiesen.

Über die Beschwerde berichtete die „Welt“, deren Verlag Axel Springer zu den Beschwerdeführern zählt, im Juni:

Über die abschlägige Antwort des Kartellamtes berichtete die „Welt“: nicht.

Über die Beschwerde berichtete das „Hamburger Abendblatt“, dessen Verlag Funke zu den Beschwerdeführern zählt, im Juni:

Über die abschlägige Antwort des Kartellamtes berichtete das „Hamburger Abendblatt“: nicht.

Über die Beschwerde berichtete der „Kölner Stadt-Anzeiger“, dessen Verlag DuMont Schauberg zu den Beschwerdeführern zählt, im Juni:

Über die abschlägige Antwort des Kartellamtes berichtete der „Kölner Stadt-Anzeiger“: nicht*.

Über die Beschwerde berichtete die „Hannoversche Allgemeine“, deren Verlag Madsack zu den Beschwerdeführern zählt, im Juni:

Über die abschlägige Antwort des Kartellamtes berichtete die „Hannoversche Allgemeine“: nicht*.

„Wir Verlage“, sagt Thomas Düffert, Chef der Madsack-Mediengruppe, „sind ein Garant der Meinungsbildung und damit für die Demokratie in Deutschland.“ Solche Sätze dienen offenkundig nur dazu, Forderungen an andere zu bekräftigen. Sie sind keine Verpflichtung für die eigene tägliche Arbeit.

*) Korrektur, 14:15 Uhr. Die „Hannoversche Allgemeine“ hat zwar nicht online, aber am Samstag in ihrer Print-Ausgabe berichtet. Und auch der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat zwar online keine Meldung gebracht, aber in der Zeitung.

 
Aus dem Archiv:

Ausgestrunzt

Claus Strunz räumt seinen Posten als Chefredakteur des „Hamburger Abendblattes“ und verantwortet von Juli an die Bewegtbild-Inhalte der Axel Springer AG, was insofern konsequent ist, als Videos ja journalistisch bestimmt in den Kreis der Top vier neben „FAZ“, „Süddeutsche Zeitung“ und „Welt“ gehören. Außerdem geht Herr Strunz gerne dann, wenn es am Schönsten ist, und schöner wäre es beim „Abendblatt“ unter ihm vermutlich nicht mehr geworden.

Der Braanchendienst „Meedia“ schwurbelt:

Ein Blick auf die Auflagenentwicklung von Abendblatt zeigt, dass der Käufermarkt für das renditestarke Regional-Flaggschiff von Springer unter Druck steht (…).

Das soll wohl heißen: Immer weniger Menschen kaufen das „Hamburger Abendblatt“. Und seit Claus Strunz dort vor zweieinhalb Jahren Chefredakteur wurde, ist alles noch schlimmer geworden.

Der Einzelverkauf ist im ersten Quartal gegenüber dem Vorjahr um erstaunliche 13,5 Prozent zurückgegangen. Die Zahl der Abonnenten sank im gleichen Zeitraum um fast fünf Prozent — so schnell wie die zehn Jahre zuvor nicht.

Dabei hatte Strunz ein Jahr nach seinem Antritt behauptet, die Print-Auflage „weitestgehend stabilisiert“ zu haben (was auch damals schon halb gelogen war); Springer hatte von einer Trendwende gesprochen. Dass sich kein Aufschwung einstellen wollte, kann jedenfalls nicht an mangelnder heißer Luft gelegen haben. Strunz erfand sogar den Begriff „Abendblatt 3.0“. Der sollte stehen für: das Jahr 3000, einen mehr als „2.0“ sowie die drei Säulen Lokales, Regionales und Bundesweites.

Nun darf Strunz nicht einmal drei Jahre voll machen.

Aber man muss den Springer-Verlag als Arbeitgeber für die Treue zu seinem Leitungspersonal bewundern: Bislang fand sich für jeden immer noch ein Titel und ein Schreibtisch, wo er — unbelastet von den Unheilanrichtungsmöglichkeiten des Tagesbetriebs — vor sich hinwerkeln konnte. Für Strunz wurde der Bereich „TV- und Videoproduktionen“ neu geschaffen. Strunz berichtet sicherheitshalber direkt an den Vorstandsvorsitzenden.

Vermutlich castet er in diesem Moment schon vor dem Badezimmerspiegel Moderatoren für neue Videoformate.

Aussichtslos, selbstmörderisch, unverschämt

Die Axel Springer AG hat also das „Hamburger Abendblatt“ dazu erkoren, der Branche vorzumachen, wie Bezahlinhalte („Paid Content“) im Internet vermutlich nicht funktionieren.

Ohne jede Ankündigung standen die Leser heute plötzlich vor geschlossenen Schranken mit Euro-Zeichen. Und nicht nur die Leser: Auch viele Mitarbeiter wussten nichts davon, dass die Angebote, für die sie arbeiten, nicht mehr frei zugänglich sind. Die Online-Inhalte der Lokalausgaben sind komplett kostenpflichtig; in den Haupt-Ressorts ist es eine größere Auswahl.

Wer alle Texte lesen will, muss entweder Abonnent der gedruckten Zeitung sein oder für 7,95 Euro im Monat Abonnent der Online-Ausgabe werden. Sich einen einzelnen Artikel, an dem man besonders interessiert ist oder über den man vielleicht bei Google gestoßen ist, für ein paar Cent freizuschalten, ist nicht möglich. Damit folgt das „Abendblatt“ exakt der tödlichen Strategie der Musikindustrie, die sich jahrelang geweigert hatte, dem offenkundigen und technisch leicht zu erfüllenden Wunsch der Kundschaft nachzukommen, einzelne Musiktitel erwerben zu können. Die Musikindustrie aber wollte um jeden Preis am für sie lukrativen Geschäftsmodell der CD festhalten — mit dem Ergebnis, dass sie fast am Ende ist und branchenfremde Unternehmen wie iTunes jetzt groß im Geschäft sind.

Die Zeitungsbranche glaubt aber immer noch, dass ihr Geschäft so läuft, dass die Leser die Inhalte gefälligst so zu kaufen haben, wie die Verlage sie verkaufen wollen. Die Verleger glauben offenkundig, dass sich bei Journalismus nicht um eine Dienstleistung handelt, bei der die erfolgsversprechendste Strategie die ist, die den Wünschen der Kundschaft so weit wie möglich entgegenkommt. Sie halten sich für unverzichtbar und ihre Produkte für unersetzbar. Sie folgen der Musikbranche in den Abgrund.

Das Bezahl-„Konzept“ des „Abendblattes“ ist kein neues Geschäftsmodell. Es ist der verzweifelte Versuch, das alte, für die Verlage komfortable Geschäftsmodell des Abonnements und des Kaufs ganzer Zeitungen, in ein neues Medium zu retten, das die Kunden von den Fesseln solcher Geschäftsmodelle befreit.

Man muss den Text „In eigener Sache“ vom stellvertretenden „Abendblatt“-Chefredakteur Matthias Iken lesen, der heute auf der Startseite von abendblatt.de steht. Man könnte denken, dass ein Händler, der plötzlich eine so radikale Verteuerung seines Angebotes bekannt geben muss, alles dafür tut, seine Kunden zu umwerben, ihm treu zu bleiben. Ikens Text aber ist eine Frechheit. Er liest sich fast, als müsste man sich als Leser von Online-Medien schämen, dafür so lange nichts gezahlt zu haben. Das muss man erst einmal bringen: Bei der Bewerbung seines eigenen „Qualitätsjournalismus“ Absätze lang rumzuschimpfen wie ein einarmiger Renter 1968 über die langhaarigen Studenten.

Viele Nutzer, schreibt er, hätten „eine echte Freibiermentalität entwickelt“. Man kann nicht oft genug wiederholen, dass das Problem der Verlage im Internet nicht die angeblich dort herrschende Kostenlos-Mentalität ist. Eigentlich würden sich die Online-Inhalte auch allein durch Werbung finanzieren lassen, da die Vertriebs- und Druckkosten wegfallen und die Reichweite größer ist. Der Grund, warum die Werbeeinnahmen in den meisten Fällen (noch) nicht ausreichen, hat nichts mit den Lesern und ihrer „Freibiermentalität“ zu tun, sondern damit, dass die Medien im Internet ihr Monopol als Werbeflächen verloren haben. Früher musste ein Unternehmen, das Kunden mit Werbung erreichen wollte, auf Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehen, Radio und Außenmedien zurückgreifen. Heute kann es auf eine Vielzahl weiterer Werbeflächen zurückgreifen, darunter solche, die in vielen Fällen ein weitaus erfolgversprechenderes Umfeld darstellen als Journalismus: Suchmaschinen zum Beispiel. Vor allem deshalb sind die Werbeerlöse im Internet so frustrierend niedrig: Das Angebot an Werbeflächen ist viel größer. Man nennt das Markt.

Und wenn der „Abendblatt“-Vize ernsthaft glaubt, dass in der Anfangszeit des Web vor lauter Begeisterung über die technischen Möglichkeiten die Frage der Einnahmen „vergessen“ worden sind — vielleicht könnte ihm jemand erklären, wie das zum Beispiel war mit Google. Wo auch alle jahrelang dachten, die hätten kein Geschäftsmodell, dabei hat Google nur eine interessante Reihenfolge gewählt: Das Unternehmen hat erst alles daran gesetzt, die größtmögliche Reichweite aufzubauen und seine Kunden glücklich bis süchtig zu machen. Und dann Wege gesucht und gefunden, diese Reichweite und diese Treue in Geld zu verwandeln. Mag sein, dass das mit Journalismus schwerer ist als mit einer Suchmaschine. Aber wenn man die Augen fest vor der Realität verschließt, ist es unmöglich.

Das Geschäftsmodell der vergangenen Jahre nennt Iken das „Mutter-Theresa-Prinzip“, was vermutlich tatsächlich der Selbstwahrnehmung vieler seiner Kollegen entspricht: Sie haben ihre Inhalte nicht ins Internet gebracht, um ihre Reichweite zu vergrößern; um neue, junge Leser zu erreichen; um eine Zukunft zu haben, wenn in absehbarer Zeit kaum noch Menschen Zeitung lesen; um mit Texten, die ohnehin durch die Print-Ausgabe schon finanziert waren, noch zusätzliche Werbeerlöse zu generieren, nein: Sie haben ihre Inhalte kostenlos ins Internet gebracht als gute Gabe für die armen Menschen, die sonst nicht wüssten, was in der Welt passiert. Das „Mutter-Theresa-Prinzip“.

Der Gedanke, dass Medien sich zumindest teilweise über Werbung finanzieren, kommt in Ikens verlogenem Text nicht einmal so vor. Er behauptet, man habe „vergessen, Geld zu verdienen“. Er schreibt: „Wer Qualitätsjournalismus zum Nulltarif will, will keinen Qualitätsjournalismus.“ Was für ein „Nulltarif“? Ikens Text ist umgeben von Werbeflächen. Man kann darüber reden, inwiefern eine vollständige Abhängigkeit von Werbeeinnahmen gefährlich sein kann für unabhängigen Journalismus, aber mit jemandem, der so unredlich ist wie Iken, kann und muss man darüber nicht reden.

Iken behauptet, dass der Leser von abendblatt.de etwas „Werthaltiges“ bekommt (womöglich hat irgendein versehentlich eingebauter Realitätscheck im Redaktionssystem verhindert, dass er „wertvoll“ schreibt). Er schreibt:

Längst ist der Online-Journalismus zu einer eigenen Gattung geworden. Das einfache Verfügbarmachen von Texten aus der Zeitung im Netz war noch wenig originell, inzwischen aber sind neue und aufwendige Formate hinzugekommen.

Ja, „originell“ war es natürlich vom „Hamburger Abendblatt“, Inhalte so für das Internet aufzubereiten, dass man Dutzende Male klicken musste, um sie lesen zu können, was insofern natürlich ein „aufwendiges Format“ ist — für den Leser. Es lohnt sich übrigens, die gewaltige Zahl von empörten Leserkommentaren unter Ikens Text zu lesen, die keineswegs nur je zur Hälfe aus Angetrunkenen und Durstigen bestehen, die ihr Freibier vermissen, sondern auch aus enttäuschten „Abendblatt“-Lesern (die ohnehin damit geschlagen sind, in einer Millionen-Metropole zu leben, in der das die einzige ernstzunehmende Lokalzeitung ist wäre). Das heißt: Es würde sich lohnen, die Kommentare zu lesen, wenn die qualitätsbewussten Leute von abendblatt.de das nicht geschickt so programmiert hätten, dass man immer nur drei Beiträge angezeigt bekommt. Für die aktuell über 300 Kommentare müsste man also 100-mal klicken.

Iken fragt:

Ist es zu viel verlangt, in Zeiten, wo aufgeschäumter Kaffee im Pappbecher drei Euro kostet oder das Telefonvoting für sinnbefreite Casting-Shows mindestens 50 Cent, für das Produkt Qualitätsjournalismus knapp 30 Cent am Tag zu bezahlen?

Was er offensichtlich nicht verstanden hat: Die Antwort auf diese Frage gibt nicht er. Die Antwort geben die Menschen, denen vielleicht tatsächlich der „Kaffee im Pappbecher“ drei Euro wert ist, aber der Artikel aus dem „Abendblatt“, und sei er noch so aufwendig recherchiert, keine drei Cent. Weil sie der Kaffee glücklich macht, und sie sich nicht von irgendeinem dahergelaufenen Vize-Chefredakteur bei Springer erzählen lassen wollen, ob die Casting-Show, bei der sie mitfiebern und mitwählen, „sinnbefreit“ ist.

Die einzige Chance, die der Journalismus hat, liegt darin, den Menschen etwas anzubieten, das sie lesen wollen. Das einen Wert hat für sie, weil sie sich gut informiert fühlen oder gut unterhalten oder beides. Das sie so gut und so wichtig finden, dass sie darauf nicht verzichten wollen und bereit sind, dafür etwas zu geben: Zu allererst ihre Zeit. Das ist der eigentliche Tausch, der da stattfindet: Leser belohnen Medien dadurch, dass sie ihnen Aufmerksamkeit schenken, ein rares Gut. Und vielleicht geben sie sogar Geld. Aber dazu lassen sie sich nur überzeugen durch ein Angebot, das ihnen Geld Wert ist — und vermutlich nicht durch das Gefühl, dass so Journalismus ja theoretisch wichtig ist und jemand dafür zahlen sollte. Und ganz sicher nicht durch einen Verkäufer, der ihnen Vorwürfe macht, dass sie ihr Geld für sinnlose Sachen wie „Kaffee in Pappbechern“ ausgeben.

Ikens Text ist ein notdürftig als Werbetext getarnter Abwasserrohrbruch. Er endet mit den Worten:

Vielleicht ist es aussichtslos. Vielleicht ist es selbstmörderisch. Vielleicht ist es auch unverschämt. Doch vor allem ist es eins: Es ist alternativlos.

Anscheinend glauben die Verantwortlichen beim „Abendblatt“, die Redensart vom „Selbstmord aus Angst vor dem Tode“ sei keine Warnung, sondern ein Ratschlag.

Nachträge, 17. Dezember.

Warum Paid-Content-Versuche gut sind

„Wir müssen als Verleger alles versuchen, um eine Wirtschaftsgrundlage für die digitale Welt zu schaffen.“

Das hat Mathias Döpfner, der Vorstandsvorsitzende der Axel-Springer-AG, nicht gesagt. Gesagt hat er:

„Wir haben als Verleger geradezu eine heilige Verantwortung, alles zu versuchen, um eine Wirtschaftsgrundlage für die digitale Welt zu schaffen.“

So groß ist die Hybris dieser Menschen. So ungetrübt ihr Glaube an das Heilsbringende, das geradezu Göttliche der eigenen Existenz.

In einem Interview mit der „FAZ“ kündigte Döpfner am Freitag an, bei den Online-Auftritten der Regionalzeitungen des Verlages ein „Freemium-Modell“ einzuführen:

„Allgemeine Nachrichten sind für den Leser gratis, Premiuminhalte kosten Geld. Wer etwa die Exklusivgeschichte aus der Stadtverordnetensitzung lesen möchte, das Archiv oder den Staumelder nutzen will, muss zahlen.“

Nun gibt es zwar weder in Berlin noch Hamburg überhaupt Stadtverordnete, und ich habe weder auf den Seiten des „Hamburger Abendblattes“ noch der „Berliner Morgenpost“ Staumelder gefunden (dafür aber — kostenlos — auf denen von NDR und RBB), aber vermutlich darf man einem Kreuzritter nicht mit so lächerlichen Details kommen. So ein Döpfner denkt in ganz anderen, heiligen, Kategorien, und meint, dass die Leser „über Jahrhunderte“ bewiesen hätten, dass sie für wirklich attraktive Inhalte auch Geld bezahlen würden.

Nun ja.

Ganze Heerscharen von Verlegern haben der angeblichen „Kostenlos-Kultur“ im Internet den Kampf angesagt. Angeführt von Rupert Murdoch wollen sie ihre Inhalte — oder wenigstens einen Teil davon — nur noch zahlenden Kunden zugänglich machen. Dafür ernten sie viel Spott von Bloggern und Netzaktivisten.

Doch bei aller Skepsis, ob die Pläne aufgehen: Ihre Versuche sind eine große Chance, weil sie die Verlage zu einem entscheidenden Umdenken zwingen. Wer überhaupt eine Chance haben will, Leser zum Bezahlen für seine Inhalte zu bringen, muss Qualität liefern.

Dass der deutsche Online-Journalismus in einem so trostlosen Zustand ist, liegt nicht nur an den geringen Einnahmen. Es liegt auch daran, dass er in weiten Teilen gar nicht für Leser gemacht ist, sondern für die Klickzähler der IVW und für Google.

Journalismus ist eine Dienstleistung, und über Jahrtausende, wie Döpfner sagen würde, versuchten gute Journalisten, Nachrichten so aufzuschreiben, dass die Leser möglichst viel davon hatten. Ob es darum ging, Sachverhalte möglichst einfach oder knapp zu erklären oder in großer Tiefe verständlich zu machen — Geschäftsgrundlage war der Versuch, den Leser zufrieden zu stellen und zu einem glücklichen Kunden zu machen.

Im real-existierenden Online-Journalismus geht es darum häufig nicht. Nicht einmal die komischen Leute vom „Hamburger Abendblatt“ werden annehmen, dass sich ihre Leser freuen, wenn ihnen „alle 68 neuen Fahrradstationen“ in der Stadt auf 68 einzelnen Seiten verteilt präsentiert werden. Oder dass sie es zu schätzen wissen, dass sie bis zu 175-mal klicken dürfen, wenn sie herauszufinden wollen, ob sie mit ihrem Auto „Gewinner und Verlierer bei der neuen Kfz-Steuer“ sind.

Diese Klickstrecken sind nicht nur ein merkwürdiger Spleen, sie sind ein Symbol für die Perversion des journalistischen Selbstverständnisses in vielen Online-Medien. Die Unzufriedenheit des Lesers wird in Kauf genommen, um die Klickzahlen in die Höhe zu treiben.

Außer auf die IVW ist diese Inhalteproduktion auch auf die Suchmaschinen hin optimiert. Ob zum Beispiel die Überschrift über einem Artikel den Lesern gefällt, ist häufig nur noch ein Zweitargument neben der wichtigeren Frage, ob sie Google gefällt, sprich: Ob der Aufbau und die enthaltenen Schlagwörter dazu führen, dass der Artikel weit oben in den Suchergebnissen auftaucht.

Bei bezahlten Angeboten sind solche Kriterien nachrangig. Wer in einem Umfeld aus kostenlosen Inhalten Geld nehmen will, kann überhaupt nur eine Chance haben, wenn er den Leser als Kunden ernst nimmt und alle anderen Erwägungen seiner Zufriedenheit unterordnet. Verlage, die Inhalte kostenpflichtig machen wollen, werden gezwungen zu überlegen, was ihre Angebote besser macht als die der Konkurrenz oder wenigstens einzigartig. Sie werden Andersartigkeit als Chance entdecken müssen und nicht mehr auf bloße Reproduktion des Vorhandenen setzen können. Sie werden Konzepte entwickeln müssen, wie Leser mit möglichst wenig Klicks an gewünschte Informationen kommen und nicht mit möglichst vielen. Vielleicht entdecken sie auch andere Themen als lukrativ, weil sich zwar Trilliarden von Menschen für die neuesten Britney-Spears-Gerüchte interessieren, wenn man sie frei Haus bekommt, aber doch eher nur einem Bruchteil von ihnen das auch Geld wert wäre, und plötzlich Relevanz wieder ein Auswahlkriterium werden könnte. Sie werden so attraktiv sein müssen, dass sie Menschen etwas wert sind, und nicht mehr bloß attraktiv genug, um kostenlos angeklickt zu werden. Womöglich werden die Medien sogar transparent werden und ihre Fehler korrigieren, weil jemand, der für Journalismus zahlt, das zukünftig erwartet.

Okay, ein Traum.

Aber genau darum geht es ja: Die Verleger träumen davon, für ihre journalistischen Inhalte im Internet Geld nehmen zu können. Sie werden das, wenn überhaupt, nur mit guten Journalisten und gutem Journalismus erreichen — was bisher nicht unbedingt die dominierenden Mittel im Wettlauf um Klicks und Werbeeinnahmen waren.

Ich freue mich auf den Versuch.

Geht sterben (9)

(Vielleicht machen Sie sich einfach den Spaß und denken beim Lesen dieses Eintrages daran, wie sehr die Verlage die vermeintliche „Kostenlos-Kultur“ im Internet verfluchen, und fragen sich, für welche der journalistischen Leistungen, die Ihnen gleich begegnen, Sie bereit wären, Geld zu bezahlen, und sei es noch so wenig.)

Seit einigen Tagen zündet das „Hamburger Abendblatt“ ein eindrucksvolles Wahl-Werbe-Feuerwerk für Ursula von der Leyen. Es meldet, dass die Familienministerin eine mögliche Schweinegrippeimpfung von den Krankenkassen bezahlen lassen will. Es berichtet (gleich zweimal), dass die Familienministerin mehr Unterstützung für alleinerziehende Eltern fordert. Es freut sich (gleich zweimal), dass die Familienministerin Hamburgs Familienpolitik für „vorbildlich“ hält. Es meldet, dass die Familienministerin kritisiert, dass die Dienstwagenaffäre von Ulla Schmidt dem Ansehen der Politik schade (was eine gewisse Ironie hat, wenn man nicht nur das „Abendblatt“ liest). Und es freut sich, dass die Familienministerin den Kampf gegen „den Schmutz“ im Internet verstärken will.

Der Wortwechsel zwischen den „Abendblatt“-Redakteuren Jochen Gaugele und Maike Röttger und der Ministerin über die Säuberung des Internets ist ein Dokument journalistischer Arbeitsverweigerung. Nicht nur, dass den Text offenbar vor der Veröffentlichung niemand mehr gelesen hat. Fast jede Frage ist in dem Bewusstsein formuliert, dass Fragesteller und Gefragte sich einig sind. Die „Abendblatt“-Leute legen ihr einen Ball nach dem anderen vors Tor, damit sie verwandeln kann. Sie behelligen sie mit keinem einzigen Argument der Gegner der Netzsperren, die sogar ein ehemaliger Bundesverfassungsrichter für verfassungswidrig hält. Sie fragen zum Beispiel auch nicht, ob die Anhänger der jungen „Piratenpartei“ ein legitimes Anliegen haben. Sie fragen, ob von der Leyen nicht die Sorge habe, dass auch Unions-Wähler sich davon angezogen fühlen können. (Antwort: überhaupt nicht.) Am Ende machen sie sich nicht einmal mehr die Mühe, eine echte Frage zu formulieren.

Die Piratenpartei hat den ehemaligen SPD-Politiker Jörg Tauss aufgenommen, der20wegen [sic] des Besitzes von Kinderpornografie angeklagt ist. Wie kommt Ihnen das vor?

Ja, wie mag Frau von der Leyen das wohl vorkommen, als politische Gegnerin von Tauss, wenn schon die „Abendblatt“-Leute es offenkundig total daneben finden. (Mal abgesehen davon, dass Tauss noch gar nicht angeklagt ist — vorher muss mindestens noch die Immunität des Bundestagsabgeordneten aufgehoben werden. Aber wen kümmern so lästige Details des Rechtsstaates, wenn wir von ekligen Kinderschändern und ihren Verteidigern reden?)

Noch bevor sie ihr Schmierenstück im eigenen Online-Auftritt veröffentlichten, reichten die „Abendblatt“-Leute es an die Nachrichtenagentur dpa weiter, die prompt daraus eine Meldung mit dem Titel „Von der Leyen will gegen rechte Inhalte vorgehen“ machte.

Diese Überschrift ist in jeder Hinsicht überraschend, denn Frau von der Leyen hatte gegenüber dem „Abendblatt“ nichts dergleichen gesagt. Die entscheidende Stelle lautet:

abendblatt.de: Sie argumentieren, Grundregeln unserer Gesellschaft müssten online wie offline gelten. Warum sperren Sie dann nicht auch Internetseiten, die Nazipropaganda verbreiten oder Gewalt gegen Frauen verherrlichen?

Von der Leyen: Mir geht es jetzt um den Kampf gegen die ungehinderte Verbreitung von Bildern vergewaltigter Kinder. Der Straftatbestand Kinderpornografie ist klar abgrenzbar.20Doch [sic] wir werden weiter Diskussionen führen, wie wir Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenwürde im Internet im richtigen Maß erhalten. Sonst droht das großar tige [sic] Internet ein rechtsfreier Chaosraum zu werden, in dem man hemmungslos mobben, beleidigen und betrügen kann. Wo die Würde eines anderen verletzt wird, endet die eigene Freiheit. Welche Schritte für den Schutz dieser Grenzen notwendig sind, ist Teil einer unverzichtbaren Debatte, um die die Gesellschaft nicht herumkommt.

Was Frau von der Leyen fordert, ist eine Debatte. Von „Nazipropaganda“ spricht allein das „Abendblatt“. Die dpa-Schlagzeile „Von der Leyen will gegen rechte Inhalte vorgehen“ ist durch das Interview nicht gedeckt. Sie ist nicht einmal durch die Agenturmeldung selbst gedeckt. An keiner Stelle nimmt der dpa-Text jenseits der Überschrift auch nur Bezug auf „rechte Inhalte“. Der erste Satz zum Beispiel lautet:

Nach der Sperrung kinderpornografischer Seiten will Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) gegen weitere rechtswidrige Inhalte im Internet vorgehen.

„Rechtswidrige“ — vielleicht. „Rechte“ — keine Rede.

Das ist schon ein außerordentlich grober Schnitzer für eine Nachrichtenagentur. Aber können wir bitte auch endlich über die unsägliche Praxis reden, dass es genügt, dass irgendein Medium eine E-Mail mit angeblichen Vorabinformationen an eine Nachrichtenagentur schickt, um sämtliche die wenigen verbliebenen Prüfmaßstäbe außer Kraft zu setzen?

Ich meine, ein Blatt wie „Die Aktuelle“, das sich nicht schämt, über einen Menschen auf seinen Titel zu schreiben, er habe sich „zum Sterben in die Berge“ zurückgezogen, ein Blatt, das, wenn es nicht auf Papier, sondern im Internet erschiene, Frau von der Leyen und ihren Freunden vom „Abendblatt“ sofort als Beweis für die Notwendigkeit einer Schmutz-Säuberung diente, ein solches Blatt teilt dpa mit, was es herausgefunden hat, und dpa bringt das dann unters Volk.

Anderes Beispiel: „Die Welt“ tut so, als habe sie exklusiven Zugriff auf eine EU-Studie über Arbeitszeiten, und dpa, Reuters, epd, AP verbreiten die einseitige „Welt“-Interpretation, ohne die zehn Minuten zu investieren, die es dauern würde, sich bei der Quelle selbst zu informieren und ein eigenes Bild zu verschaffen.

Und diese ungeprüften Agenturmeldungen werden dann wieder ungeprüft weiterverbreitet. Und nicht nur von all den Online-Medien, bei denen das automatisch passiert. Unter dem „Spiegel Online“-Artikel über die Arbeitszeiten-Studie stehen nicht weniger als drei Agenturkürzel. Der Mitarbeiter hat sich richtig Mühe gegeben, seinen Text aus mehreren Quellen zusammenzusetzen — Quellen, die alle auf derselben einseitigen Interpretation durch die „Welt“ beruhen. Den Weg zur Quelle suchte er nicht — so wenig wie seine Kollegen von „Focus Online“ und viele andere. Noch einmal: Er bräuchte dazu keine Kontakte nach Brüssel. Er braucht nur eine Suchmaschine und Englischkenntnisse und ein kleines bisschen Zeit und einen Widerwillen gegen unnötiges Abschreiben.

Aber zurück zur Internetgeschichte vom „Abendblatt“ und Frau von der Leyen. Obwohl einem Redakteur schon bei einer flüchtigen Prüfung auffallen müsste, dass die dpa-Überschrift nicht von der dpa-Meldung gedeckt ist, tauchte die grenzwertige Meldung mit der Falschüberschrift zum Beispiel bei „Focus Online“ auf.

Heute Nachmittag hatte die Agentur dann endlich ihre Hausaufgaben gemacht — vielleicht hat sich auch nur das Familienministerium selbst gemeldet, um auf den Irrtum hinzuweisen –, jedenfalls brachte dpa um 15:23 Uhr eine Art Korrektur mit dem Titel:

Ministerium: Von der Leyen nicht für mehr Internetsperren

Und damit kommen wir zum erwartbaren, vorläufigen Ende dieses Trauerspiels mit vielen Beteiligten. Denn die Leute von „Focus Online“ bringen zwar nun die neue richtige dpa-Meldung statt der alten falschen, aber weisen natürlich an keiner Stelle darauf hin, dass sie selbst mehrere Stunden lang das Gegenteil dessen behauptet hatten, was sie jetzt behaupten. Die alte Adresse (http://www.focus.de/…/familie-von-der-leyen-will-gegen-rechte-inhalte-vorgehen…) leitet einfach auf die neue um (http://www.focus.de/…/familie-ministerium-von-der-leyen-nicht-fuer-weitere-sperren…) Auch bei „Focus Online“ werden nicht einmal die elementarsten Regeln für einen transparenten Umgang mit Korrekturen eingehalten.

Darüber müssen wir endlich reden — über Mindeststandards beim Recherchieren und Korrigieren. Und dann können wir gerne über neue Bezahlmodelle reden. Die Leistung, die die beteiligten Medien am Sonntag wieder zeigten, ist selbst umsonst noch zu teuer.

(Kunstpause.)

Und während all diese vermeintlich professionellen Journalisten mit Nichtnachdenken und Nichtrecherchieren beschäftigt waren, hat der Rechtsanwalt Udo Vetter in seinem Lawblog diese fundierte Analyse der tatsächlichen Äußerungen von der Leyens veröffentlicht.

[via Spiegelfechter]

Die Frau, die nicht Frau von der Leyen ist

In ein paar Stunden wird Frank-Walter Steinmeier sein Wahlkampfteam vorstellen, und die Frau, die für die Familienpolitik zuständig sein soll, wird aller Voraussicht nach Manuela Schwesig heißen.

Manuela Schwesig ist seit vergangenem Oktober Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern, und ihr größter Vor- und Nachteil ist, dass sie noch kein Mensch kennt. (Vielleicht ist das in Wahrheit auch nur ihr zweitgrößter Vor- und Nachteil, und ihr tatsächlicher größter Vor- und Nachteil ist, dass sie so gut aussieht, aber das ist jetzt gar nicht das Thema*.)

Um den Menschen eine solche Unbekannte vorzustellen, oder genauer: anstatt den Menschen eine solche Unbekannte vorzustellen, bekommt sie von den Medien sogleich ein Label oder eine Schublade, und der „Spiegel“, der Frau Schwesig passend zu ihrer Bundes-Premiere in dieser Woche einen Tag lang begleiten durfte, hatte gleich eine naheliegende Kurzformel gefunden und sie direkt in die Überschrift geschrieben: „Die Anti-von-der-Leyen.“ Inhaltlich belegt der Artikel die Behauptung, die darin steckt, zwar nicht so recht. Eigentlich besteht der politische Gegenentwurf im „Spiegel“ nur aus einem Satz: „Dass [Schwesig] aber das Gefühl habe, bei all dem Geburtenratensteigern gerate anderes aus dem Blick: die Kinderarmut, die Probleme Alleinerziehender, die mangelnde Bildung schon bei den Jüngsten.“

Aber es gibt ja eine viel offenkundigere und eingängigere Art des Anti-von-Leyenismus: die Biographie. Der „Spiegel“ schreibt:

Schwesig ist für Ursula von der Leyen eine durchaus ernstzunehmende Gegnerin, sie ist ihr erster leibhaftiger Gegenentwurf. 35 Jahre alt, ostdeutsch, ein Kind, sozialdemokratisch. Von der Leyen ist 50 Jahre alt, westdeutsch, sieben Kinder, konservativ.

Ihr erster leibhaftiger Gegenentwurf? Nun gut. Das erschien am Montag.

Am Dienstag berichtete das „Hamburger Abendblatt“ über das Schattenkabinett Steinmeiers und das „Engagement“ der „bis dato weithin unbekannten 35-jährigen Manuela Schwesig“ — einer Frau, von deren Existenz der Autor vermutlich auch erst durch den „Spiegel“ erfahren hat:

Die Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern soll das Gegenmodell zur beliebten CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen geben. Lange hatte die Parteiführung nach einer geeigneten Kandidatin für diesen Job gesucht. Schwesig ist alleinerziehende Mutter eines zweijährigen Sohnes, sie steht anders als von der Leyen nicht für eine konservative heile Welt. Ob das reicht, um den in den Umfragen taumelnden Genossen Auftrieb geben zu können, wird aber bezweifelt.

Die Logik ist von erschütternder Schlichtheit: Als sei es etwas Bemerkenswertes, dass nicht schon die bloße Tatsache, dass die Schattensozialministerin „nicht für eine konservative heile Welt“ steht, die SPD aus dem Getto einer 20-Prozent-Partei befreit. Der Text ist auch merkwürdig reaktionär in der Art, wie er schon aus dem Fehlen eines Ehemannes eine nicht-heile Welt im konservativen Sinne konstruiert. (Es sei denn, man geht davon aus, dass außer einem Mann auch noch 1 bis 6 Kinder fehlen.)

Der „Abendblatt“-Text hat aber ein größeres Problem: Es heißt Stefan, ist seit neun Jahren Manuela Schwesigs Mann und wähnte sich bis Dienstag glücklich verheiratet.

Was tat der Autor, nachdem er auf den Fehler hingewiesen wurde? Er ließ das Wort „alleinerziehend“ unauffällig aus der Online-Version seines Textes löschen. Und, immerhin: Die Zeitung druckte am Mittwoch eine Korrektur, in der sie darauf hinwies, dass die Sozialministerin in Wahrheit verheiratet sei.

Ohne dieses, nun ja: Detail wirkt die Argumentation des „Abendblatts“ zwar noch verwegener. Aber das wäre ja nur dann ein Problem, wenn die Argumentation auf den Fakten aufbauen und daraus Schlussfolgerungen ziehen würde — und nicht von der Behauptung des Gegensatzes ausgehen und sich dann entsprechende (Schein-)Belege zurechtsammeln würde.
 

*) „Financial Times Deutschland“: „Die 35-Jährige Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern wird in Schwerin als ‚Deutschlands jüngste und schönste Ministerin‘ gefeiert.“ — dpa: „Jung, Frau, Mutter, Ostdeutsche und dazu noch ausgestattet mit einem gewinnenden Lächeln. Es dürften zunächst wohl diese offenkundigen Eigenschaften gewesen sein, die Manuela Schwesig auf die Liste möglicher Mitglieder im Schattenkabinett von SPD- Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier brachten.“ — „Der Spiegel“: „Es ist ein schwüler Sommertag, sie trägt die blonden Haare offen, sie ist sehr hübsch. Vermutlich spricht sie deswegen besonders ernst und bedacht. Das Schöne und die Politik sind einander häufig feind.“

Der Strunzer (2)

Ich wüsste gern, ob Claus Strunz manchmal nachts schweißgebadet aufwacht, weil ihm im Traum die Realität erschienen ist. Wahrscheinlicher ist, dass ihn die dicke Schicht aus Selbsttäuschung und Wahn, die er sich zugelegt hat, auch davor schützt.

Der Medienfachdienst Meedia hat das halbe Jahr, das Strunz Chefredakteur des „Hamburger Abendblattes“ ist, zum Anlass genommen, ihm kritische Fragen zu stellen wie: „Wie fällt Ihre Bilanz aus?“ und: „Was planen Sie als nächstes?“

Na, wie mag Strunz‘ Urteil über Strunz schon ausfallen? „Überaus positiv“, natürlich:

„Rechtzeitig zum Halbjahres-Jubiläum von „Abendblatt 3.0″ sind wir unter den vier wichtigsten Tageszeitungen Deutschlands angekommen (…)“

Sensationell. Herzlichen Glückwunsch! Und auch wenn als Grundlage für den behaupteten vierten Platz nur die Quatschzählungen des „Media Tenors“ dienen, ist das ein großer Erfolg für Strunz. Denn als bekannt wurde, dass er von der „Bild am Sonntag“ zum „Abendblatt“ wechselte, fragte ihn der „Spiegel“ am 14. Juli 2008, ob das nicht ein Abstieg sei. Und Strunz antwortete:

Klar, ich arbeite nicht mehr in der Hauptstadt, aber das „Hamburger Abendblatt“ ist eine Weltstadt-Zeitung mit stolzer Tradition und mehr als doppelt so vielen Redakteuren wie „BamS“. Journalistisch gehört das Blatt in den Kreis der Top vier neben „FAZ“, „Süddeutsche“ und „Welt“.

Neun Monate sind seitdem vergangen, davon sechs unter Strunz als Chefredakteur, und das „Abendblatt“ ist immer noch unter den Top vier! Das muss dem Mann erst mal einer nachmachen.

Wer hat Angst vor Eva Herman?

Vergangene Woche Freitag ist bei BILDblog einmal kurz Hektik ausgebrochen. Wir hatten erfahren, dass Eva Herman zwei Prozesse gegen Axel Springer gewonnen hat, und wollten möglichst schnell einen Eintrag produzieren, damit uns nicht alle anderen zuvorkommen. Das war großer Quatsch.

Denn über die juristischen Erfolge der früheren Fernsehmoderatorin berichtet ungefähr niemand.

Das Landgericht Köln hat Herman in gleich zwei Fällen Recht gegeben und je 10.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen. Der eine Fall ist eher banal, aber lustig und absolut Vermischtenseiten-tauglich: „Bild“ darf Eva Herman nicht mehr eine „dumme Kuh“ nennen, wie es der feinsinnige Franz Josef Wagner in seiner Kolumne getan hatte.

Der andere Fall ist komplexer und heikler, betrifft aber nichts weniger als den Auslöser des Skandals um Eva Herman, an dessen Ende ihr Ausschluss aus dem Kreis medial akzeptabler Personen stand. Es geht um eine Buchvorstellung, bei der Eva Herman wörtlich gesagt hatte:

„Und wir müssen vor allem das Bild der Mutter in Deutschland auch wieder wertschätzen lernen, das leider ja mit dem Nationalsozialismus und der darauf folgenden 68er-Bewegung abgeschafft wurde. Mit den 68ern wurde damals praktisch alles, das alles [abgeschafft], was wir an Werten hatten. Es war eine grausame Zeit, das war ein völlig durchgeknallter, hochgefährlicher Politiker, der das deutsche Volk ins Verderben geführt hat, das wissen wir alle. Aber es ist damals eben auch das, was gut war, und das sind Werte, das sind Kinder, das sind Mütter, das sind Familien, das ist Zusammenhalt – das wurde abgeschafft.“

Das „Hamburger Abendblatt“ fasste Hermans Aussagen über das Dritte Reich so zusammen:

Da sei vieles sehr schlecht gewesen, zum Beispiel Adolf Hitler, aber einiges eben auch sehr gut. Zum Beispiel die Wertschätzung der Mutter.

Ich halte das für eine zulässige Zusammenfassung von Hermans wirren Sätzen und Gedanken. Das Kölner Landgericht findet das nicht und hat sie untersagt.

Der NDR beendete die Zusammenarbeit mit Herman erst, nachdem sie gegenüber der „Bild am Sonntag“ ihr Lob für die Förderung der „Werte“ wie „Familie, Kinder und das Mutterdasein“ im Dritten Reich wiederholt hatte. Zu diesem Zeitpunkt war auch der Wortlaut von Hermans Äußerungen bei der Buchvorstellung bekannt.

Die umstrittene Formulierung im „Abendblatt“ ist also nicht Ursache für ihre Kündigung, aber sie war Auslöser der ganzen Aufregung. Wenn also ein Gericht diese Formulierung für unzulässig erklärt und Herman ein Schmerzensgeld zuspricht — dann ist das kein Thema für deutsche Medien? Die Meldung stammt von der evangelikalen Nachrichtenagentur idea.de vom vergangenen Freitag. Aufgenommen wurde sie vom Online-Auftritt der rechtskonservativen Zeitung „Junge Freiheit“ und von BILDblog, wo sie der Mediendienst „Meedia“ abschrieb. [Nachtrag: epd Medien hat auch berichtet.]

Das war’s.

Wenn ich es richtig sehe, hat keine Zeitung und kein größeres Online-Medium über Hermans Erfolge berichtet (die deutsche Nachrichtenagentur dpa meldet grundsätzlich nichts, was „Bild“ nicht gefallen könnte). Die Urteile sind zwar noch nicht rechtskräftig, Springer kann in Berufung gehen. Aber in einer Medienwelt, in der jeder Schluckauf zur Aufmacher-Meldung taugt, war für ausgerechnet diese Nachricht kein Platz mehr?

Wohlgemerkt: Ich finde es angesichts der Unfähigkeit von Eva Herman, ihre Thesen so zu formulieren, dass man sie nicht als Lob des Nationalsozialismus verstehen kann, zulässig, sie aus dem Kreis der Leute auszuschließen, die man in irgendwelche Talkshows einlädt, um über ihr neues Buch zu plaudern oder Kochrezepte zu tauschen. Ich finde es richtig, wenn die etablierten Medien ihr deshalb kein Podium mehr geben wollen.

Gerade dann muss man aber so fair sein, darüber zu berichten, wenn Eva Herman sich erfolgreich gegen diese Medien wehrt. Schon deshalb, weil mit jeder Meldung, die die etablierten Medien auf diese Weise totzuschweigen scheinen, die Gruppe derjeniger wächst, die glaubt, dass diese Medien ohnehin ein Meinungskartell bilden, das gemeinsam unerwünschte Informationen unterdrückt. Und es den Anhängern von Herman leichter gemacht wird, sie zur Märtyerin zu stilisieren.

Bei „Spiegel Online“ heißt es, es sei eine „rein journalistische Entscheidung“ gewesen, nicht über Eva Herman zu berichten: Man habe „zu der Zeit Anderes, Besseres zu vermelden“ gehabt. Das stimmt natürlich, der Freitag vergangener Woche war schließlich der Tag, an dem der Papst seinen eigenen YouTube-Kanal startete, ein Wachmann am Buckingham Palace einen Touristen beim Kragen packte, Berlusconis Frau ihre Schwäche für Obama offenbarte und Giulia Siegel exklusiv gegenüber „Spiegel Online“ enthüllte, Ingrid van Bergen im RTL-Dschungelcamp zweimal den Bauch massiert zu haben.

Gibt es womöglich wirklich einen Konsens, Eva Herman und ihre Erfolge totzuschweigen? Oder graut es den Medien nur davor, dass sie ihre Leserkommentare und E-Mail-Fächer wieder feucht durchwischen müssen, wenn Eva Hermans wutschäumende Anhänger dort durchgetrabt sind?

Vielleicht ist die Antwort aber auch ganz einfach die, dass eine Meldung, die weder von dpa noch von der „Bild“-Zeitung verbreitet wird, für 98 Prozent der deutschen Medien gar nicht existiert.

Der Strunzer

Toll, der Claus Strunz. Ist erst seit 15. Oktober Chefredakteur des „Hamburger Abendblatts“, hat dessen Niedergang aber schon messbar beschleunigt. Im vierten Quartal ging die verkaufte Auflage um über vier Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück — schneller als in den zehn Quartalen zuvor. Gleichzeitig ist die Heiße-Luft-Produktion in den vergangenen Wochen explodiert.

Zur Zeit ist er auf Medienseitentournee mit seinem aktuellen Schlager vom „Abendblatt 3.0“. Die Zahl steht für dreierlei Dreien: Erstens „Abendblatt 3000“, zweitens die drei Säulen Lokales, Regionales und Bundesweites und drittens das Weiterzählen von 2.0, „die konsequente Umsetzung von ‚Journalismus first'“.

Ich kenne keinen Chefredakteur, der im gleichen Maße bereit ist, sich für Eigen-PR lächerlich zu machen oder die Unwahrheit zu sagen, wie Claus Strunz. Während seiner Amtszeit als „Bild am Sonntag“-Chefredakteur ist die Auflage der Zeitung um rund 30 Prozent gesunken — noch schneller als die der werktäglichen „Bild“. Als er sich von seinen Lesern verabschiedete, tat er dies mit den Worten: „Man soll gehen, wenn es am schönsten ist“. Gegenüber dem „Spiegel“ überraschte er mit der Aussage, das „Abendblatt“ gehöre „journalistisch in den Kreis der Top vier neben ‚FAZ‘, ‚Süddeutsche‘ und ‚Welt'“.

Aber vielleicht ist das eine Kernkompetenz für den Chefredakteur einer Zeitung in diesen Zeiten: die Fähigkeit, sich die Wirklichkeit zurecht zu lügen. Dies ist die Entwicklung von Abonnements und Einzelverkäufen des „Abendblatts“ in den vergangenen elf Jahren:

Es ist nicht so leicht, darin einen Beleg dafür zu finden, dass „nach wie vor auch eine Menge für die Zeitung auf Papier spricht“, wie Strunz gegenüber dem Mediendienst „Meedia“ sagte. Aber Strunz fand ihn:

„Jedenfalls haben wir 2008 fast zehn Prozent mehr Abonnements verkauft als im Vorjahr.“

Flüchtig gelesen, könnte man glauben, dass die Zahl der Abonnenten des „Abendblattes“ zugenommen hat. Hat sie natürlich nicht: Sie ist um fast 6000 rund 4700 zurückgegangen. Strunz spricht davon, mehr neue Abonnenten gewonnen zu haben als im Vorjahr. Das würde aber bedeuten, dass sich die Geschwindigkeit, mit der das „Abendblatt“ alte Abonnenten verliert, ebenfalls beschleunigt hat.

Auf Nachfrage erklärt ein Springer-Sprecher, dass das „Abendblatt“ 2008 sogar 15 Prozent mehr Abonnenten gewonnen habe als im Vorjahr, und nur 5 Prozent mehr Abonnenten verloren als im Vorjahr. Weil die absolute Zahl der Kündigungen aber höher ist als die der Neuabschlüsse, entspricht das einem Netto-Verlust.

Der Sprecher will in den Zahlen dennoch eine Trendwende erkennen, was erstaunlich ist, denn das Tempo, in dem das „Abendblatt“ Abonnenten verliert, hat sich nicht verlangsamt: Es liegt relativ konstant bei rund 2,5 Prozent pro Jahr.

Das sind natürlich immer noch lächerlich kleine Zahlen, verglichen mit dem Auflagenschwund, den Strunz bei der „Bild am Sonntag“ produziert hat. Aber die guten Zeiten für das „Abendblatt“ fangen ja auch gerade erst an.