Es scheint einen breiten Konsens unter Journalisten zu geben, dass die 18 Prozent, die Horst Schlämmer angeblich bekommen würde, wenn er bei den Bundestagswahlen anträte, ein Armutszeugnis für die Politik seien. Dass die ganze Geschichte ein Armutszeugnis für ihren eigenen Berufsstand sein könnte, darauf kommen sie nicht.
Ausgangspunkt des Ganzen ist eine Forsa-Umfrage, die der „Stern“ in Auftrag gegeben hat, dessen Online-Ableger sie am vergangenen Mittwoch so zusammenfasste:
In einer Umfrage für den stern bejahten 18 Prozent der Bundesbürger die Frage, ob sie sich vorstellen können, die „Horst-Schlämmer-Partei“ zu wählen.
Nun könnte man sich fragen, ob das so spektakulär ist. Ich zum Beispiel, ich würde jetzt bei der Bundestagswahl die Horst-Schlämmer-Partei nicht wählen. Das hat die Horst-Schlämmer-Partei mit der FDP gemein, die ich auch nicht wählen würde. Grundsätzlich könnte ich mir aber vorstellen, die FDP zu wählen. Kann ich mir vorstellen, die Horst-Schlämmer-Partei zu wählen? Naja, vermutlich nicht. Ich kann mir aber vorstellen, dem Forsa-Mann, wenn er anruft und mir die lustige Frage in netter Form stellt, zu antworten, dass ich mir durchaus vorstellen könne, die Horst-Schlämmer-Partei zu wählen.
Hey, es ist eine Meinungsumfrage! Horst Schlämmer gibt es nicht, die Horst-Schlämmer-Partei gibt es nicht. Es ist absolut folgenlos, was ich sage. Warum soll ich da ein Spielverderber sein und sagen, dass ich es mir nicht einmal vorstellen könne, die zu wählen?
Vermutlich haben sie bei stern.de selbst gemerkt, dass die teure Umfrage nicht so atemberaubend ist, und ihr Ergebnis in der Überschrift gleich einmal verfälscht: „Fast jeder Fünfte würde Schlämmer wählen“.
Der Siegeszug dieser, äh, Nachricht begann, wie üblich, mit der Nachrichtenagentur dpa („Horst-Schlämmer-Partei genießt hohe Wählergunst“ und „Horst Schlämmer — alias Hape Kerkeling — hätte am 27. September eine durchaus realistische Chance, in den Deutschen Bundestag einzuziehen“) und setzte sich mit unterschiedlichen Graden der Verfälschung, der politischen Interpretation und des allgemeinen Wahnsinns fort.
Die Münchner Boulevardzeitung „tz“ gab ihr in einem Kommentar am nächsten Tag gleich mal die nötige Fallhöhe:
Wenn es nach CDU-Vizechef Christian Wulff geht, entscheidet nach der Wahl nicht die Kompetenz der Minister-Kandidaten, ebenso kein Wahlergebnis oder der entsprechende Wählerwillen. Aber wählen, ja das dürfen und sollen wir gnädigerweise doch noch — Arroganz und Abgehobenheit in Reinkultur.
Da verwundert es überhaupt nicht, wenn laut Forsa 18 Prozent der Deutschen lieber einen Spaßpolitiker wie Hape Kerkelings Horst Schlämmer zum Kanzler wählen würden. Denn bei so traurigen Realpolitikern wie Wulff hilft nur eines: Bitteres Lachen.
„Bild“ schrieb:
Die „Berliner Zeitung“ analysierte mit einer Ernsthaftigkeit, die an Ottos Versuch erinnert, den Schlager „Theo, wir vier fahr’n nach Lodz“ zu interpretieren:
„Ist das nun Zufall oder ebenfalls ein Spiegel der gegenwärtigen Verhältnisse, dass diese 18 Prozent vor ein paar Jahren das Wahlziel einer Partei gewesen sind, die damals unter ihrem Vorsitzenden Guido Westerwelle als Spaßpartei in den Wahlkampf zog und in diesem Jahr nach dem 27. September als FDP gemeinsam mit CDU/CSU die Bundesregierung zu stellen wünscht?“
Die „Berliner Zeitung“ nutzte auch die Gelegenheit, Kanzleramtschef Thomas de Maizière mit der Frage zu konfrontieren:
„Das Institut Forsa hat ermittelt, dass 18 Prozent die Schlämmer-Partei wählen würden, obwohl es die gar nicht gibt. Was sagt Ihnen das?“
Und die „Welt am Sonntag“ brachte in einem Interview mit der bayerischen FDP-Vorsitzenden Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die Erkundigung unter:
Die Horst-Schlämmer-Partei würde laut Umfragen 18 Prozent schaffen, gibt Ihnen das zu denken?
Der „Focus“ witzelte:
Das Programm, das Steinmeier doch noch Kanzler werden ließe, hat sich leider ein Konkurrent gekrallt: Horst Schlämmer von der HSP. Und auch wenn die CDU zugleich konservativ, liberal und links daherkommen will: Die HSP hat diese Positionen längst als ihr Glaubensbekenntnis besetzt.
Katzen würden sonst was kaufen, können sie aber nicht. Und deutsche Wähler (18 Prozent laut Umfrage) würden Horst Schlämmer wählen.
dpa raunte:
Ein brisantes Ergebnis, fanden auch die Betroffenen am roten Teppich: Denn es waren gestern Abend auch echte Politiker zur Premiere gekommen.
Der Kölner „Express“ und der „Berliner Kurier“ sprachen von einer „Ohrfeige für CDU, SPD & Konsorten“ und verrechneten sich wie folgt:
Schlämmer wäre mit seiner HSP zurzeit drittstärkste Partei. Laut der neuesten Forsa-Umfrage liegt die Union bei 38% (+1), die SPD bei 21% (+1), die FDP bei 13 (-1), die Grünen bei 12% (-1) und die Linken gleichbleibend bei 11%.
Die „Badische Zeitung“ überraschte mit der Überschrift:
Vorsprung für Schwarz-Gelb — 18 Prozent für Horst Schlämmer
Der Berliner „Tagesspiegel“ gab sich besorgt:
Die HSP würde, träte sie denn zur Wahl an, auf Anhieb auf 18 Prozent in diesem Lande kommen. (…) 18 Prozent, das ist in etwa das derzeitige realistische Wahlziel der SPD. Damit zöge die HSP locker in den Bundestag ein, wäre mit ihrem breitgefächerten Profil ein interessanter Koalitionspartner: „konservativ, links, liberal, grün“. Aus dem Stand heraus. Mit nur einem einzigen Parteimitglied. Und der, die Kröte müsste Frau Merkel, müsste Herr Steinmeier schlucken, hat selbst Machtansprüche: „Isch kandidiere“, sagt er, und „Ja, isch will Bundeskanzler werden.“ (…)
Inhalte? Wer will noch Inhalte, Pläne, Ziele? 18 Prozent der Deutschen wollen das alles nicht, schauen nicht auf Parteiprogramme, bewerten keine Taten, wollen keinen Blick nach vorne, wollen offensichtlich überhaupt nichts, was gemeinhin Politik heißt. Wahrscheinlich, weil sie beliebig ist, so beliebig, dass auch die HSP fähig erscheint. Wie gut für die Parteien, dass die HSP nicht antritt, nur fiktiv ist und ein Scherz in einem Film. Real ist alleine der Umfragewert. Das alleine kann ein bisschen Angst machen.
Der „Spiegel“ kam immerhin darauf, dass man selbst mit im Boot sitzt:
Am Donnerstag schaffte es Kerkeling auf die Titelseite der „Hamburger Morgenpost“ mit der Schlagzeile, dass 18 Prozent Horst Schlämmer zum Bundeskanzler wählen würden. Das spricht nicht für die Politik, nicht für das Volk und nicht für einen Journalismus, der politischen Klamauk allzu gern zur großen Sache macht.
„Taxi Kasupke“, seinerseits eine Art Witzfigur der „Berliner Morgenpost“, balinerte:
Kanzla-Kandidat Steinmeier hätte statt Ulla Schmidt bessa Horst Schlämmer in sein Kompetenz-Team jeholt — der is glaubwürdijer.
Und die „Hamburger Morgenpost“ fragte (leider nur rhetorisch):
Kann es wirklich sein, dass jeder Fünfte eher einen fiktiven Politiker wählt als die existierenden? Ist das nicht eine Ohrfeige für die Politik?
Mein Lieblingstext aber ist der staatstragende Kommentar von Anne-Kattrin Palmer aus dem „Berliner Kurier“ mit der ebenso mahnenden wie falschen Überschrift: „Schlämmer ist kein Witz“:
Da wählen Menschen lieber eine Kultfigur, eine Scherz-Ikone als einen „echten“ Politiker.
Denn viele Menschen identifizieren sich mit ihm. Und zwar eher als mit unseren Politikern, weil unseren Parteien leider die herausragenden Persönlichkeiten ausgehen. Viele nehmen Politik nur noch als Gemisch, als Mittelmaß wahr.
Jetzt können Politiker sagen: Ach, das ist doch nur eine Scherz-Umfrage. Da ist doch nichts dran.
Irrtum: Der schräge Schlämmer begeistert nun mal. US-Präsident Barack Obama übrigens auch. Und der ist Politiker.
Und all die Kollegen, die dies und noch viel mehr aus einer schwachsinnigen Umfrage mit unspektakulärem Ergebnis gemacht haben: Sie glauben allen Ernstes, dass es die Politik ist, um die man sich Sorgen machen muss, und die Bürger, die irgendwie fehlgeleitet sind.
Nein. Die Journalisten sind die mit dem an der Waffel.
[inspiriert durch ix, den „Postillon“ und einige Kommentare hier]