Schlagwort: Josef Joffe

Gedruckt weniger streng als online: Der Ethik-Kodex der „Zeit“

Man ahnt sowas ja nicht, aber auch die gedruckte „Zeit“ hat einen Ethik-Kodex. Es gibt ihn noch nicht so lange wie bei der Online-Schwester, nämlich erst seit Januar 2013, und er ist weniger umfangreich. Er lautet so:

CODE OF ETHICS
für DIE ZEIT

1. JOURNALISTISCHE UNABHÄNGIGKEIT

a. Redakteure der ZEIT legen mögliche Interessenkonflikte gegenüber ihrem direkten Vorgesetzten offen. Ein möglicher Interessenkonflikt liegt vor, wenn durch Mitgliedschaft, Bekleiden eines Amtes oder durch ein Mandat in Vereinen, Parteien, Verbänden und sonstigen Institutionen einschließlich Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, durch Beteiligung an Unternehmen, durch gestattete Nebentätigkeit oder durch Beziehungen zu Personen oder Institutionen der Anschein entstehen kann, dass dadurch die Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit/Objektivität der Berichterstattung über diese Vereine, Parteien, Verbände, Unternehmen, Personen und sonstigen Institutionen beeinträchtigt werden könnten. Der direkte Vorgesetzte entscheidet, ob der Auftrag aufrechterhalten wird, und ggf., ob der Umstand, der den möglichen Interessenkonflikt begründet, mit Zustimmung des Redakteurs in dem Artikel offengelegt wird.

b. Aktienbesitz wird innerhalb des Wirtschaftsressorts offengelegt.

c. Die Redaktion der ZEIT nimmt keine Journalistenrabatte in Anspruch. Auch von der privaten, außerdienstlichen Nutzung von Journalistenrabatten wird abgeraten. Insbesondere ist es nicht gestattet, bei privater Beantragung von Journalistenrabatten auf DIE ZEIT als Arbeitgeber zu verweisen.

d. Alle Arten von Geschenken werden sozialisiert, soweit sie einen Wert von 40 Euro überschreiten. Redakteure liefern Geschenke bei einer zentralen Stelle ab. Am Ende des Jahres werden sie zugunsten eines wohltätigen Zwecks versteigert.

e. Bücher oder andere Produkte von Redakteuren werden nicht redaktionell bewertet. Bei eventuellen Vorabveröffentlichungen solcher Werke wird die Befangenheit für den Leser deutlich gemacht.

f. Jede Nebentätigkeit von Redakteuren muss der Chefredaktion zur Genehmigung vorgelegt werden. Die Prüfung erfolgt unter Berücksichtigung einer möglichen Beeinflussung der Berichterstattung, einer möglichen Beschädigung der Marke ZEIT sowie unter arbeitsökonomischen Gesichtspunkten der Redakteure. Der Chefredakteur muss seine Nebentätigkeiten dem Verleger mitteilen.

g. Freie Mitarbeiter müssen Tätigkeiten in den journalismusnahen Bereichen Marketing, PR offenlegen. Eine Tätigkeit in einem dieser Bereiche schließt in der Regel die redaktionelle Bearbeitung inhaltlich verwandter Themen bei der ZEIT für den Zeitraum eines Jahres aus, wenn nicht in beiderseitigem Einvernehmen eine Regelung getroffen werden konnte, die eine Einflussnahme auf die Berichterstattung ausschließt.

2. QUALITÄTSSICHERUNG

a. Jeder in der Printausgabe der ZEIT erscheinende Text wird in aller Regel außer von dem Autor noch von mindestens zwei Personen auf sachliche und stilistische Korrektheit überprüft. Zusätzlich überprüft das Korrektorat jeden Text auf Orthografie, Interpunktion und Grammatik. Die Verantwortung für die Richtigkeit von Daten und Fakten verbleibt beim Autor bzw. beim im Impressum als „verantwortlich“ Genannten.

b. Werden in Printartikeln Fakten (insbesondere zur Stützung eigener Argumente) wiedergegeben, die sich im Nachhinein als falsch erweisen, ist dies, nach Möglichkeit vom Autor selbst, im Blatt zu korrigieren.

c. Sofern zeitnah möglich, werden auch Fehler in bei ZEIT ONLINE veröffentlichten Texten aus der Printredaktion nach Rücksprache mit dem Autor online korrigiert.

3. SELBSTVERPFLICHTUNG

Etwaige Verstöße gegen den Code of Ethics ziehen keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen nach sich. Davon ausgenommen sind Verstöße gegen Pflichten, die sich bereits aus dem Arbeitsverhältnis der jeweiligen Kollegin/des jeweiligen Kollegen ergeben.

Texte müssen also bei der gedruckten „Zeit“ von mindestens zwei zusätzlichen Personen „auf sachliche und stilistische Korrektheit überprüft“ werden, online genügt es, wenn ein Kollege redigiert.

Das ist allerdings der einzige Punkt, bei dem der Kodex für das gedruckte Produkt strengere Regeln vorsieht als für den Internet-Ableger. Eine Reihe anderer Vorgaben, die für „Zeit Online“ gelten, fehlen hingegen bei der Print-„Zeit“, darunter der komplette Block, der sich den heiklen „Beziehungen zu Anzeigenkunden“ widmet. Aus der „Zeit“ heißt es zur Erklärung: Der Gedanke, dass ein Werbekunde Einfluss auf die redaktionellen Inhalte des Wochenblattes nehmen könnte, sei für dessen Leser so abwegig, dass sie es schon zweifelhaft fänden, wenn ihre Zeitung glaubte, es ausdrücklich in einem Kodex ausschließen zu müssen.

Nun ja. Andererseits hatte die „Zeit“ ihren Kodex ohnehin bisher nicht selbst veröffentlicht. (Sie hat ihn mir allerdings auf Nachfrage ohne größere Umstände zur Verfügung gestellt.)

Erstaunlicherweise verzichtet die gedruckte „Zeit“ — anders als „Zeit Online“ — in ihrem Kodex auch vollständig auf Richtlinien, unter welchen Umständen Reisekosten für ihre Journalisten von denen übernommen werden dürfen, die ein Interesse an der Berichterstattung haben. Dabei ist gerade das ein Feld, bei dem ein Versuch hilfreich wäre, klare Vorgaben zu definieren.

Anders als ihren Online-Kollegen ist „Zeit“-Journalisten jedenfalls nicht untersagt, Politiker auf deren Kosten auf Reisen zu begleiten. Auch für den Reiseteil gibt es keine Vorgaben. „Zeit Online“ nimmt dieses Ressort von den strengen Bezahl-Regeln aus und fordert nur, die Finanzierung durch Dritte transparent zu machen. In der gedruckten „Zeit“ fehlt eine solche Kennzeichnung im Einzelnen. Stattdessen gibt es nur einen allgemeinen Hinweis in dieser Form:

Hinweis der Redaktion: Bei unseren Recherchen nutzen wir gelegentlich die Unterstützung von Fremdenverkehrsämtern, Tourismusagenturen, Veranstaltern, Fluglinien oder Hotelunternehmen. Dies hat keinen Einfluss auf den Inhalt der Berichterstattung.

Die gedruckte „Zeit“ sieht, anders als „Zeit Online“, offenbar auch keine Notwendigkeit, Werbung für kommerzielle Produkte des eigenen Verlages im Kodex zu reglementieren.

Die Vorgabe, dass Autoren, die für Corporate-Publishing-Medien (wie sie auch die „Zeit“-Schwester Tempus Corporate GmbH herstellt), nicht über ähnliche Themen für die „Zeit“ schreiben dürfen, fehlt im Print-Kodex, ist aber Teil einer separaten Vereinbarung.

Die Ethik-Regeln haben eine Sollbruchstelle. Sie hört auf den Namen Josef Joffe. Für den „Zeit“-Herausgeber gilt der Kodex offenbar bestenfalls nur bedingt. Obwohl er in einer unüberschaubaren Zahl von Vereinen, Verbänden und Gremien engagiert ist, insbesondere solchen mit engen Verbindungen zu den USA, habe ich bislang keinen Transparenzhinweis unter seinen „Zeit“-Artikeln gefunden. Auch die Pflicht, Fakten („insbesondere zur Stützung eigener Argumente“), die sich im Nachhinein als falsch erwiesen haben, im Blatt zu korrigieren, scheint für ihn nicht uneingeschränkt zu gelten.

Bei Fehlern, die Nicht-Joffes passieren, sollen Korrekturen aber in Zukunft auch bei den Online-Veröffentlichungen der Print-Artikel eingepflegt werden — vor einem Jahr war das anscheinend noch nicht umgesetzt, weshalb der „Zeit“-Irrtum über die Existenz einer „Shitstorm-Agentur“ online offenbar für alle Zeit ohne Korrektur bleiben muss.

Merkwürdig sind auch die Umstände eines Artikels, den die Redakteure Jochen Bittner und Matthias Nass in der „Zeit“ 7/2014 veröffentlichten. Sie berichteten darin über die außenpolitische Neuorientierung Deutschlands und ein dabei entscheidendes Papier namens „Neue Macht, neue Verantwortung“. Entwickelt wurde es von einer Arbeitsgruppe, in der ein Jahr lang „Beamte aus dem Kanzleramt und dem Auswärtigen Amt ebenso mit[diskutierten] wie Vertreter von Denkfabriken, Völkerrechtsprofessoren, Journalisten sowie die führenden Außenpolitiker aller Bundestagsfraktionen“. Einer der „mitdiskutierenden“ Journalisten: Jochen Bittner.

Ein „Zeit“-Autor schreibt über ein Projekt, bei dem eine neue Außenpolitik verhandelt wird, woran er selbst beteiligt war, ohne das zu erwähnen — ein klarer Verstoß gegen den Kodex. Angeblich handelte es sich nur um eine Panne: Versehentlich habe der eigentlich vorgesehene Transparenz-Hinweis gefehlt. In der folgenden Woche veröffentlichte die gedruckte „Zeit“ eine dezente „Klarstellung“ ohne Entschuldigung. Unter der Online-Fassung des Artikels fehlt bis heute jeder entsprechende Hinweis.

Es scheint mühsam zu sein. Trotz Kodex.

Angeblich gibt es trotzdem tatsächlich eine zunehmende Sensibilisierung für Fragen von Transparenz und Distanz in der Redaktion. Eine Folge davon ist, dass die „Zeit“ ihren Platz in der berüchtigten Bilderberg-Konferenz aufgegeben hat, den sie über viele Jahrzehnte inne hatte — „unwiderruflich“, wie es heißt. Dieser Sitz wird nun von Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner besetzt.

Gehirn-Gymnastik mit Hitler und Josef Joffe

Josef Joffe, der Herausgeber der „Zeit“, äußert sich in der aktuellen Ausgabe zu Kritik an seiner Arbeit:

Ein Wort in eigener Sache: Dieser Autor hat vor zwei Wochen (Zeitgeist 6/14) mit Blick auf die „Raus mit Lanz“-Petition geschrieben: „In analogen Zeiten hieß es: ‚Kauft nicht beim Juden!'“ Das geht gar nicht, echauffierten sich die Hohepriester des Digital-Tempels und deren Jünger.

(sic!)

„Die ZEIT sei ein ‚Scheißblatt‘, war einer der subtileren Kommentare. Und: ‚Mir fällt zu diesem Vergleich nichts mehr ein.‘ Dieser Spruch stammt übrigens von Karl Kraus, dem zu Hitler nichts mehr eingefallen war.“

Anscheinend habe ich Joffe also dadurch, dass ich geschrieben habe, dass mir zu seinem Vergleich nichts mehr einfällt, versehentlich mit Hitler verglichen.

Joffe hält den Nazi-Vergleich aber für zulässig, prinzipiell und konkret im Fall der Petition gegen Markus Lanz. Er kritisiert die „Sprachpolizei“ und schreibt:

Die Pauschalverdammung (…) verdeckt die eigentliche Frage: Wann ist der Vergleich legitim? Wieso ist die Kampagne gegen Markus Lanz anders als der Juden-Boykott? Beide kamen aus der Anonymität, beide wollten den Feind wirtschaftlich schädigen, beide mobilisierten das Ressentiment. Was war dann anders? Der Boykott dauerte einen Tag, am 1. April 1933; die Anti-Lanz-Kampagne steht noch heute im Netz. Natürlich ist das, was später für die Juden folgte, in nichts mit dem Fall Lanz zu vergleichen.

Maren Müller aus Leipzig, 54 Jahre alt, Betriebswirtin, alleinstehend, ehemalige SPD-Stadträtin in Borna, früher Mitglied bei Die Linke. Endlich weiß man mal, wie diese viel beschworene Anonymität im Netz aussieht.

Manche [Nazi-]Vergleiche (…) rangieren zwischen unzulässig und infam, manche sind legitim und richtig — zumindest regen sie das Gehirn zur Gymnastik an. Denken ohne Vergleichen ist nicht vorstellbar. Vergleichen ohne Denken ist unverzeihlich. Zum Schluss doch noch ein Rekurs auf Adolf H. Er hat offensichtlich Reflexe in den Hirnen hinterlassen, die selbst siebzig Jahre danach ihre Träger dazu animieren, auch den räsonierten Vergleich der Empörungslust zu opfern. Links wie rechts.

Wenn ich das richtig verstehe, ist der übermäßig Empörungslustige also laut Joffe nicht derjenige, der einen Vergleich mit den Nationalsozialisten anstellt, sondern derjenige, der einen solchen Vergleich als untauglich ablehnt. Letzterer sei ein spätes Opfer Adolf Hitlers.

PS: Joffes Irrtum, es gäbe eine Agentur, bei der man „kommerzielle ‚Shitstorm-Pakete'“ in unterschiedlichen Größen kaufen könne, korrigiert die „Zeit“ — nicht.

Anti-Lanz-Petition erinnert die „Zeit“ an Anti-Juden-Kampagne der Nazis

Immerhin ist nun der Tiefpunkt der Debatte erreicht. Gesetzt hat ihn ein Mann namens Josef Joffe, und in jeder Kommentardiskussion im Internet hätte er sich dadurch disqualifiziert, dass er die Nazi-Karte gezogen hat.

Aber das hier ist keine Kommentardiskussion im Internet, das hier ist die superseriöse, superanständige, superbürgerliche Wochenzeitung „Die Zeit“. Josef Joffe ist ihr Herausgeber.

In der aktuellen Ausgabe schreibt er:

Markus Lanz hat ein unprofessionelles, ja nervendes Interview mit der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht geführt, das — sagen wir’s so — der Wahrheitsfindung nicht gedient hat. Doch der eigentliche Skandal ist der Shitstorm, der nachdenkliche Menschen in die Depression treiben müsste. (…)

Gab’s nicht schon bei den alten Griechen eine tönerne Form des Scheiße-Orkans — das Scherbengericht? Ja, und auch damals ohne formelle Anklage und Verteidiger. Aber: Es musste ein Quorum her von mindestens 6000 Athenern und eine Abkühl-Pause. Zwischen dem Votum für einen Ostrazismus und der eigentlichen Abstimmung über die Verbannung (zehn Jahre) mussten zwei Monate liegen. So wurde verhindert, dass jemand durch eine selbst erwählte Minderheit in der momentanen Aufwallung aus Athen vertrieben wurde (er behielt Bürgerrechte und Besitz).

Ostrazismus ist, wie mir Wikipedia verrät, die latinisierte Version von Ostrakismos (ὁ ὀστρακισμός), und das bedeutet: Scherbengericht. Joffe spart sich durch das Wort also eine weitere Synonymsuche und beruhigt gleichzeitig „Zeit“-Leser, die durch das Wort „Scheiße-Orkan“ aufgeschreckt wurden: Hier schreibt jemand, der alt und gebildet genug ist, um auch die latinisierten Versionen von griechischen Wörtern von deutschen Wörtern zu kennen, und dessen Urteil über Dinge in der Welt also unbedingt zu trauen ist.

Leider weiß dieser gebildete Mann nicht, was eine Petition ist, obwohl das Wort aus dem Lateinischen kommt. Es bedeutet „Bittschrift, Gesuch, Eingabe“. (Ich habe zwar das Latinum, aber sicherheitshalber in der Wikipedia nachgeschlagen.) Es handelt sich — ich wiederhole mich — nicht um eine Abstimmung, die bei ausreichender Stimmzahl zur Folge hat, dass die jeweilige Forderung erfüllt wird. Es handelt sich um eine Bitte, die durch eine größere Zahl von Unterstützern nur lauter zu vernehmen ist, nichts mehr. Deshalb ist Joffes ganzer Quatsch mit dem Quorum und der Abkühl-Pause, nun: Quatsch. (Ich hatte jetzt keine Lust, für „Zeit“-Leser und -Autoren ein eindrucksvolles lateinisches oder griechisches Wort dafür rauszukramen.)

Aber Joffe kennt sich nicht nur in der Antike aus, sondern auch bei den Fallstricken moderner Kommunikation:

Heute bieten die Nachfahren kommerzielle „Shitstorm-Pakete“ in den Größen von S bis XL an — von 5000 bis 20 000 Euro. Warum auch nicht? Denn anders als bei einer rechtsstaatlichen Prozedur sind Klarnamen nicht nötig.

„Shitstorm-Pakete“, woher hat er das? Natürlich aus der einzig wirklich seriösen Quelle: der „Zeit“.

Die berichtete im vergangenen Frühjahr groß über „Shitstorms“ und schrieb:

(…) es gibt Spezialisten, die professionell Shitstorms säen. Die Agentur Caveman zum Beispiel verspricht folgende Dienste: „Wir potenzieren Ihren Unmut und fluten bei Facebook die Fanseiten mit Kommentaren und Likes. Wir halten uns hier streng an moralische Richtlinien. Wir garantieren die Anonymität unserer Auftraggeber.“

Caveman bietet vier „Shitstormpakete“ an: Shitstorm S kostet 4.999 Euro, geboten werden 100 Kommentare und 150 Likes. Shitstorm M: 9.999 Euro, 500 Kommentare, 300 Likes. Shitstorm L: 49.999 Euro, 3.000 Kommentare, 1.500 Likes. Shitstorm XL: 199.000 Euro, 15.000 Kommentare, 5.000 Likes.

Beeindruckend, die Detailfreude, aber in der „Zeit“ ist ja Platz.

Blöd nur, dass das Caveman-Projekt eine Satire war, eine „einzigartige Medienhacking Aktion“, wie es die Verantwortlichen inzwischen selbst nennen. Anfang April 2013 haben sie das zugegeben. Die „Süddeutsche Zeitung“, die auch über „Caveman“ berichtet hatte, entschuldigte sich sofort bei ihren Lesern und informierte sie darüber, „wie das SZ-Feuilleton auf eine fiktive Shitstorm-Agentur hereingefallen ist“.

Die „Zeit“-Redaktion dagegen hat nichts davon mitbekommen oder nichts mitbekommen wollen, jedenfalls ihre Leser nicht darüber informiert, dass sie ihnen eine Ente serviert hat.

Josef Joffe glaubt den Unsinn heute noch und verweist in seiner aktuellen Kolumne sogar auf den Artikel von damals. Er zitiert daraus das Urteil seines Kollegen Peter Kümmel: „Eigentlich handelt es sich beim Shitstorm um eine Steinigungs- und Verwünschungskultur.“ Und hatte wohl das Gefühl, noch einen draufsetzen zu müssen. Und so setzte er noch einen drauf:

In analogen Zeiten hieß es: „Kauft nicht beim Juden!“ Heute ist die Verwünschungskultur digital.

Mir fällt zu diesem Vergleich nichts mehr ein.

Es wäre auch sinnlos. Josef Joffe würde es ohnehin nicht verstehen. Schließlich ist er der Herausgeber der superanständigen, superseriösen, superbürgerlichen Wochenzeitung „Die Zeit“, und seine Texte sind schon deshalb über jeden Zweifel erhaben.

Ich bin mir sicher, er würde auch die Ironie nicht erkennen. Denn er schreibt weiter:

Früher musste ein Leserbriefschreiber noch die klappernde Olympia aus dem Schrank holen, Papier einspannen, tippen, streichen und neu tippen, eine Briefmarke auftreiben, den Brief zum gelben Kasten tragen. Er musste überlegen und formulieren, die Zeit verstrich — und die Wut verflog. Schon war eine Dummheit oder Gemeinheit weniger in der Welt.

Ich habe keine Ahnung, ob Joffe eine klappernde Olympia im Schrank oder auf dem Schreibtisch stehen hat. Aber ich gehe mal davon aus, dass es bei der „Zeit“ ein paar redaktionelle Abläufe gibt, die die Verzögerungsmechnanismen und Reflexionsanlässe, die Joffe hier beschreibt, simulieren, das Überlegen oder wenigstens das Formulieren. Und trotzdem hat es seine Dummheit oder Gemeinheit in die Welt geschafft, und ein paar Tausend oder Zehntausend oder Hunderttausend Leute, die meinten, sie müssten nicht schweigend jede Verirrung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hinnehmen, den sie bezahlen, sehen sich nun in eine Reihe mit den Nazis gestellt und ihre Kritik an Lanz mit dem Hass auf Juden.

Immerhin: Das lässt sich nun nicht mehr übertreffen.

Zwischen Wallenhorst und Winsen an der Luhe

Ich weiß, wie Josef Joffe sich fühlt. Als Kind hatte ich immer das Bedürfnis, den internationalen Gästen, die bei „Wetten, dass“ auf dem Sofa gesessen hatten, hinterher zu erkären, was da gerade passiert ist und warum man uns Deutsche trotzdem nicht alle für verrückt erklären sollte.

Joffe macht sowas beruflich.

Vor zwei Wochen erklärte er den Lesern der „Zeit“, wie schwer es sei, unseren Freunden zwischen Washington und Warschau zu erklären, dass die Deutschen mit großer Mehrheit für einen Ausstieg aus der Atomenergie sind. „Sie wundern sich, unsere Freunde zwischen Washington und Warschau“, weiß Josef Joffe, der sicher viele Freunde zwischen Washington und Warschau persönlich kennt und vermutlich regelmäßig über Artikel in Publikationen zwischen Washington und Warschau mit ihnen kommuniziert.

Jedenfalls wundern sich also unsere Freunde zwischen Washington und Warschau laut Joffe, dass wir Deutschen gegen Atomkraft sind, obwohl es bei uns im Land doch bislang keine Kernschmelze und noch nicht einmal einen Atombombenabwurf gab. Zwei Erklärungen fallen ihm ein: Entweder ist Atomangst eine Art Religion (warum ausgerechnet wir Deutschen ihre Anhänger sein sollen, lässt er offen). Oder uns Deutschen geht’s einfach zu gut. Weil bei uns nichts ernsthaft Schlimmes passiert und wir sonst keine Sorgen haben, flüchten wir uns ersatzweise in Atompanik.

Nun finde ich, anders als Joffe, dass es sehr viele rationale Gründe gibt, die dagegen sprechen, Atomenergie einzusetzen, und dafür, auch aus Dingen, die am anderen Ende der Welt passieren, eigene Schlüsse zu ziehen. Aber Joffe war nicht der einzige Journalist, der mir als Leser in den vergangenen Wochen das Gefühl gegeben hatte, dass die Reaktion auf die Katastrophe in Fukushima und die breite Ablehnung von Atomenergie überhaupt ein weltweit einzigartiger deutscher Sonderweg sei.

Entsprechend überrascht war ich, als in Italien eine Mehrheit der Wähler und der Wahlberechtigten in Italien gegen die Einführung der Atomkraft in ihrem Land stimmte.

Es kann natürlich sein, dass die Italiener in Wahrheit gar nicht so viel gegen Atomkraftwerke haben wie gegen ihren Premierminister und das die eigentliche Erklärung für den Ausgang des Referendums ist. (Eine alternative Erklärung wäre, dass Josef Joffe einfach keine Freunde zwischen Werona und Wenedig hat.)

Aber dann veröffentlichte Ipsos MORI in der vergangenen Woche eine Meinungsumfrage, die das Institut in 24 Ländern auf der ganzen Welt durchgeführt hat. Danach sind 62 Prozent der Menschen gegen Atomkraft; ein Viertel davon sagt, sie hätten ihre Meinung nach dem Unglück von Fukushima geändert.

In 21 der 24 Länder sind die meisten Menschen gegen Atomenergie; am stärksten ist die Ablehnung in Mexiko, Italien, Deutschland, Argentinien und der Türkei. Nur in drei der 24 Länder gibt es eine Mehrheit für Atomenergie: in Indien (61 Prozent), Polen (57 Prozent) und den Vereinigten Staaten (52 Prozent).

Falls sich unsere oder Josef Joffes Freunde zwischen in Washington und Warschau also tatsächlich über uns Deutsche wundern, dann womöglich also auch über ungefähr den ganzen Rest der Welt. Vielleicht haben die Polen und Amerikaner einfach so viele andere Sorgen, dass sie gar keine Zeit haben, sich noch berechtigte Gedanken über die Gefahren einer Technologie wie der Atomkraft zu machen. Andererseits frage ich mich, ob sie dann realistischerweise ihre knappen Sorgenrestkapazitäten ausgerechnet darauf verwenden, sich über uns Deutsche zu wundern.