Schlagwort: Jürgen Trittin

Die Realität lässt sich die Zukunft nicht vom „Stern“ vorschreiben

Beim „Stern“ hatten sie diese Woche eine originelle Idee. Die Titelgeschichte beschreibt, was in den 48 Stunden vor der Schließung der Wahllokale passieren wird.

Wobei, das trifft’s nicht. Genau genommen beschreibt die Titelgeschichte, was in den 48 Stunden vor der Schließung der Wahllokale passiert ist. Der am Donnerstag erschienene Text ist nämlich nicht als Vorschau formuliert, sondern als Reportage. Er schildert nicht Pläne, Absichten und Möglichkeiten, sondern Tatsachen. „Vorabprotokoll“ nennt die Redaktion das.

Die Methode eröffnet dem Journalismus ganz neue Möglichkeiten. Lesen Sie schon am Donnerstag, was am folgenden Freitag passiert ist!

Im Fall der aktuellen „Stern“-Ausgabe liest sich das so:

FREITAG.
18.00 Uhr, München, Odeonsplatz.
Der Anfang vom Ende beginnt mit ohrenbetäubenden Beats, die wie Faustschläge in der Magengrube landen. Mit Taataa, das von ihrer Ankunft kündet. Die Kanzlerin erscheint. Heute an ihrer Seite: Franz Josef II., Horst Seehofer, der Triumphator der Bayernwahl. Es ist Merkels 52. Großkundgebung. 5000 und mehr Leute hören zu. Sie schreitet durch eine Gasse von Menschen, die mit „Angie“-Schildern winken. Die Kanzlerin lächelt, nickt und schüttelt Hände.

(„Beats, die wie Faustschläge in der Magengrube landen“ — auch „Stern“-Reportagen aus der Zukunft beginnen mit den abgegriffensten Sprachbildern aus der Vergangenheit.)

Das kann man natürlich so machen. Allerdings nur um den Preis der Seriösität. Denn es ist ja nicht mangelnder Ehrgeiz, der sonst dazu führt, dass Reportagen von Dingen handeln, die tatsächlich schon passiert sind, sondern der Gedanke, dass es einen Unterschied gibt zwischen Journalismus und Fiktion. Und dass es vielleicht keine gute Idee ist, beide zu mischen, wenn man in Zukunft noch darauf angewiesen sein könnte, dass die Menschen einem vertrauen.

Aber das Konzept des „Stern“ wirft nicht nur medienethische Fragen auf, die man womöglich als akademisch abtun kann. Es ist vor allem kontraproduktiv. Der „Stern“ will beschreiben, wie spannend die letzten Tage des Wahlkampfes werden, und tut das dadurch, dass er zeigt, wie sehr es sich bis ins Detail vorhersagen lässt?

Er weiß und beschreibt, wie Merkel auftreten wird (wie immer), wie Steinbrück auftreten wird (wie immer), wie die Abschlusskundgebung der CDU wird (wie erwartet) und wie die der SPD (wie erwartet).

Das Unerwartete kann in der „Stern“-Reportage nicht passieren, weil es noch nicht passiert ist und weil es unerwartet ist.

18.30 Uhr, München, Odeonsplatz.
Wie immer hat ihr der Moderator zum Aufwärmen ein paar nette Fragen gestellt. Übers Kochen: ja, Rouladen. Übers Autofahren: nur noch auf Waldwegen. (…)

18.45 Uhr, Kassel, Rainer-Dierichs-Platz.

“Noch zwei Tage, und es gibt einen Regierungswechsel. Noch zwei Tage, und Sie sind die los“, sagt Peer Steinbrück. Das sagt er immer.

Gegen die Langeweile helfen ein paar behauptete Details, mit denen die vorher bekannten Termine ausgeschmückt werden:

SAMSTAG
16.45 Uhr, Haan, Neuer Markt.
Steinbrück läuft über die Kirmes, vorbei am Riesenrad Jupiter und dem Skooter Drive In.

(Ich wär so gern dabei gewesen, als sie in der Redaktionskonferenz beim „Stern“ delegierten, wer die Fahrgeschäfte der Kirmes in Haan recherchiert und wer den genauen Fußweg ermittelt, den Steinbrück dort aller Wahrscheinlichkeit nach zurücklegen wird.)

Vorher aber noch an diesem Samstag hat Jürgen Trittin einen besonderen Auftritt in der „Stern“-Zukunfts-Reportage:

14.50 Uhr, Berlin, Flughafen Tegel.
Jürgen Trittin besteigt die Air-Berlin-Maschine AB 6501 nach Köln/Bonn. Am Abend sitzt er bei Stefan Raab. Trittin fühlt sich nicht wohl in seiner Haut, seit Tagen schon. Seit bekannt ist, dass die Göttinger Grünen 1981 im Programm zur Kommunalwahl für straffreien Sex zwischen Erwachsenen und Kindern geworben haben. Er hat das Programm presserechtlich verantwortet. Er weiß, das wird an ihm hängen bleiben. Vier Jahre lang hat er sich akribisch vorbereitet: noch einmal Rot-Grün, mit ihm als Vizekanzler und Finanzminister, das war sein Traum. Sogar Schwarz-Grün, der letzte Ausweg zur Macht, bliebe ihm jetzt versperrt. Das könnte sich Merkel schon aus Anstandsgründen nicht mehr leisten. Nicht mit ihm. Aber niemand sonst könnte die ungeliebte Koalition in seiner Partei durchsetzen. Trittin ist seit über 30 Jahren Vollblutpolitiker. Jetzt kann auch er nur ohnmächtig zuschauen, wie ihm alles entgleitet.

Das ist nun der Gipfel der Anmaßung: Der „Stern“ schaut nicht nur in die Zukunft, sondern auch in einen Menschen hinein. Er behauptet zu wissen, was in Trittin vorgehen wird. (Und stellt nebenbei noch ein paar weitergehende Behauptungen über die Zukunft aus.)

Und so rührig es ist, dass die „Stern“-Leute extra vorab recherchiert hatten, wann Trittin mit welcher Maschine nach Köln fliegt, um bei Stefan Raab zu sitzen, damit es sich so richtig anschaulich liest, so sinnlos ist es. Vor allem …

… weil Trittin gar nicht bei Stefan Raab saß. An seiner Stelle war Katrin Göring-Eckardt da. (Die brisante Frage, ob sie dafür sein Ticket benutzten konnte und die gleiche Maschine nahm, könnten viellicht die Investigativprofis vom „Stern“ recherchieren. Wenn sie aus der Zukunft zurück sind.)

Die Realität fühlt sich nicht an das „Vorabprotokoll“ des „Stern“ gebunden. Ich halte das für eine gute Nachricht.

Die spannende Reportage endet übrigens am Sonntagabend:

17.59 Uhr, Berlin-Mitte, Wilhelmstraße.

Jörg Schönenborn wischt jetzt auf seinem Touchscreen zwei Grafiken ins Bild. Er hat die Digitaluhr im Blick, auf der die letzten Sekunden bis 18 Uhr leuchten. Schönenborn holt noch mal Luft und beginnt: „Jetzt in der Prognose von infratest dimap für die ARD: CDU/CSU …“

„taz“-Chefredakteurin verhindert kritischen Artikel über Grüne und Pädophilie

Wenn sich die Redaktion der „taz“ morgen Vormittag zu ihrer Montagskonferenz trifft, steht ein besonderes Thema auf der Tagesordnung: Sie soll über einen Artikel diskutieren, der den Grünen vorwirft, dass Pädophilie in ihrer Ideologie angelegt war. Der Text wäre gestern im Blatt erschienen, wenn Chefredakteurin Ines Pohl das nicht verhindert hätte. Der Vorwurf der „Zensur“ steht im Raum — und die Frage, ob die „taz“ sich aus wahltaktischen Gründen Angriffe auf die Grünen verkneift.

Das Ressort der Wochenendbeilage „Sonntaz“ hatte den Artikel bei Christian Füller bestellt. Füller ist in der „taz“ für Bildung zuständig und hat sich in den vergangenen Jahren mit Recherchen und Veröffentlichungen über Kindesmissbrauch profiliert.

Mit großer Wut arbeitet er sich jetzt an den Grünen und ihrem Milieu ab, in dem Päderasten in den 70er und 80er Jahren Verbündete fanden. Den Grünen von heute wirft er vor, die Opfer immer noch zu verraten.

Er schreibt:

Empathie gibt es bei den Grünen nur für die Opfer der anderen. Als die Bundesregierung 2010 einen Runden Tisch einrichtete, gehörte Fraktionschefin Renate Künast zu denen, die am lautesten Aufklärung forderten — von der katholischen Kirche. Jürgen Trittin weicht noch in seinem jüngsten Interview in der „Welt“ jedem Vergleich mit der Kirche aus. Das ist insofern richtig, als die katholische Kirche anders aufklärt als die Grünen — besser und gründlicher.

Denn anders als Erzbischof Zollitsch weigert sich der grüne Bischof Trittin im Interview mit der Welt standhaft, eine Anlaufstelle für Opfer grüner Täter einzurichten. Darum schert sich bei den Grünen niemand, mehr noch, man macht sich lustig.

(…)

Pädophilie aber war keine Nebensache bei den Grünen, sondern in der Ideologie angelegt. „Selbstbestimmte Sexualität und Kritik an der patriarchalischen Gesellschaft waren unsere Themen damals“, sagen jene Grünen, die 1968 gegen die verkapselte Post-NS-Gesellschaft kämpften. Das begann bei der Erziehung. Die Kinderladenbewe- gung gehört sozusagen zum Markenkern der studentischen Linken und der daraus entstehenden Grünen. Die sexuelle Befreiung, auch die der kindlichen Sexualität, war das wichtigste Mittel der gesellschaftlichen Entrepressierung — und spielte Pädos und deren Mitläufern in die Hände.

(…)

Die Grünen befinden sich inmitten ihrer moralischen und programmatischen Kernschmelze. Nur dass es kein krachender Super-GAU ist, sondern eine kalte, fortschreitende Implosion.

Zu lesen bekamen die Grünen diese Abrechnung nicht: Ines Pohl verhinderte es. Sie wies die Ressortleitung an, den Artikel aus der Wochenendausgabe zu entfernen. Er strotze vor falschen Tatsachenbehauptungen und habe keinen aktuellen Kontext.

Der zweite Punkt lässt sich angesichts der Debatte, die in der vergangenen Woche geführt wurde, schwer nachvollziehen. Aber Pohl blieb auch Belege für die falschen Tatsachenbehauptungen schuldig. „taz“-Justiziar Peter Scheibe hatte den Text freigegeben.

In der Konferenz am Freitag nannte Pohls Stellvertreter Reiner Metzger dann einen anderen Grund, warum Füllers Text nicht erscheinen durfte. Die Öffentlichkeit verfolge sehr genau, wie gerade die „taz“ mit der Pädophilie-Geschichte der Grünen umgehe. Metzger wurde so verstanden, dass man sich wenige Wochen vor der Wahl einen solchen Angriff auf die Partei nicht erlauben könne.

Die „taz“ als eine Art grünes Gegenstück zum „Bayernkurier“ der CSU? Die „taz“ vom vergangenen Dienstag lässt diesen Vorwurf nicht mehr ganz so abwegig erscheinen. Ganz im Stil eines Ronald Pofalla erklärte sie auf ihrer Titelseite die Diskussion um die pädophilen Verstrickungen der Partei in ihren Anfangsjahren für erledigt. „Aufgeklärt!“ jubelte die „taz“ in den Farben und mit dem Logo der Grünen:

Als Daniel Cohn-Bendit im Frühjahr den Theodor-Heuss-Preis entgegen nahm, sagte er über die „taz“: „Das ist unsere Zeitung.“ Christian Füller hat den Verdacht, dass das in der „taz“ umgekehrt ähnlich gesehen wird.

Mehrere Tage vor der Preisverleihung hatte er einen Artikel über die zweifelhafte Rolle Cohn-Bendits geschrieben. Der habe dazu geführt, dass er in der Redaktion ausgegrenzt wurde. Einflussreiche Kollegen hätten ihm die freundschaftliche Verbundenheit aufgekündigt.

Eine geplante Debatte im Blatt nach der Heuss-Preisverleihung habe Ines Pohl nach einem Gespräch mit Cohn-Bendit untersagt. Füller twitterte damals:

Es ist erste Aufgabe von Chefredakteuren, dass Journalisten recherchieren/schreiben können + gedruckt werden. nicht: das zu verhindern.

Die „taz“ habe über die Pädo-Debatte um die Gründungsjahre der Grünen dann von sich aus nicht mehr berichtet, sagt Füller, sondern nur, wenn über die Agenturen Meldungen von außen kam. Oder nachdem der „Spiegel“ groß aus dem „Grünen Gedächtnis“ zitiert hatte, dem Archiv der Partei, das Füller zuvor schon ausgewertet hatte. Füller veröffentlichte seine Texte zum Thema stattdessen in der „FAS“.

Bis die „Sonntaz“ vergangene Woche ihn bat, ein zugespitztes Essay zu schreiben, das dann von Pohl verhindert wurde. „So etwas aus der ‚taz‘ per Ukas herauszuholen, weil einem die These nicht passt, und das ganze mit angeblich falschen Tatsachenbehauptungen zu begründen, das ist Zensur“, sagt Füller. „Und so was geht in der ‚taz‘ nicht.“

Er steht damit nicht allein und findet Unterstützung auch von Leuten, die seinen Text indiskutabel finden.

Und so wird es in der Konferenz morgen wohl nicht nur um seinen Artikel und dessen Qualität oder Haltlosigkeit gehen. Nicht nur um die Frage, ob die „taz“ einen solch heftigen Debattenbeitrag aushalten muss. Und ob sie nicht überhaupt der Ort sein müsste, an dem die Debatte über die vermeintlichen oder tatsächlichen Lebenslügen der Grünen und ihres Milieus, das nicht zuletzt auch das Milieu der „taz“ ist, öffentlich und schonungslos geführt wird.

Es wird auch, ganz unabhängig vom konkreten Fall, darum gehen, ob die Chefredakteurin Ines Pohl das Recht hat, missliebige Artikel einfach zu verhindern, wie sie es offenbar häufiger tut (aber leider manchmal gerade dann nicht, wenn es nötig wäre).

Ines Pohl wollte sich vor der morgigen Konferenz nicht äußern.

Nachtrag, 19. August, 22:30 Uhr. Die „taz“ hat heute Vormittag eine halbe Stunde über die Sache kontrovers und teils lautstark diskutiert. Ines Pohl hatte ihre Vorwürfe gegen Füllers Text neu sortiert und sprach nun nicht mehr von falschen Tatsachenbehauptungen, sondern falschen Kausalzusammenhängen. Vor allem empörte sie sich — wie andere auch — darüber, dass der Streit öffentlich gemacht worden war. Ein greifbares Ergebnis brachte die Konferenz nicht. Der Redaktionsausschuss soll sich mit dem Thema und der Frage beschäftigen, unter welchen Voraussetzungen die Chefredaktion in solcher Weise in die Entscheidungen der Ressorts eingreifen darf.

Nachtrag, 20. August, 22:30 Uhr. Christian Füller hat einen Teil seiner Erklärung für die Redaktionskonferenz hier veröffentlicht.

Übrigens haben inzwischen „Bild“, „Welt“, „Tagesspiegel“ und „FAZ“ berichtet. Keine dieser Tageszeitungen hat die Quelle für die Geschichte genannt.

Nachtrag, 22. August, 17:30 Uhr. Inzwischen gibt es auch eine Stellungnahme von Ines Pohl. Sie beklagt sich darin über „Illoyaliäten“ [sic] und darüber, dass „die Entscheidung der Chefredaktion, die sich auf die handwerkliche Qualität des Textes bezog, in eine politische umgedeutet“ wurde.

Pohl erweckt den Eindruck, der Artikel hätte nur noch einmal redigiert werden sollen. Sie habe den „Auftrag“ erteilt, ihn „noch einmal überarbeiten zu lassen“. Das stimmt nicht. Sie hat die Veröffentlichung des Artikel schlicht untersagt, unter anderem mit dem Argument, es fehle ein aktueller Zusammenhang.